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Journal 2004 (chronologisch)

Fred Wander - "Ein Zimmer in Paris"

(01.01.2004) Fred Wanders "Ein Zimmer in Paris" Hat mich gepackt wie seine Autobiografie "Das gute Leben" oder das zuvor gelesene "Hotel Baalbek". Inzwischen ist für mich Fred Wander als Autor weitaus wichtiger geworden als seine viel bekanntere Frau Maxie Wander.

Zweite Europäische Quilt-Triennale

(04.01.2004) Es war der letzte Tag der "2. Europäischen Quilt-Triennale", höchste Zeit also für einen Ausstellungsbesuch. Der Wettbewerb wurde von 1984 bis 1998 als Deutsche Quilt-Biennale veranstaltet und läuft seit der europaweiten Öffnung 2000 als Europäische Quilt-Triennale. Mit einem befreundeten Pärchen ging es nach Ziegelhausen in das schnuckelige Berk-Museum, welches sich in einer ehemaligen Kirche aus dem Jahr 1733 befindet. Das Museum wurde 1978 vom Textilfabrikanten Max Berk gegründet und 2002 dem Kurpfälzischen Museum der Stadt Heidelberg angegliedert. Die Räumlichkeit (mit 700 Quadratmetern Ausstellungsfläche) hat Flair und ist ideal für Ausstellungen. Etwa die Hälfte der Ausstellungsfläche stand für die Quilt-Triennale zur Verfügung, der Rest bleibt der Dauerausstellung von Kostümen, Trachten und liturgischen Gewändern ab 1740 sowie Exponaten aus dem außereuropäischen Raum vorbehalten.

Auch wenn man als gelernter Kunsthistoriker aus einer gewissen Arroganz heraus geneigt ist, Quilts eher als Kunsthandwerk zu sehen, belehrt einem die Qualität der 39 ausgestellten Stücke (von 220 Einsendungen aus 18 Ländern) doch schnell eines Besseren. Besonders die Arbeiten der Preisträger (Mirjam Pet-Jacobs aus den Niederlanden, Karen Fleming aus England und Friderun Heil aus Deutschland) lassen so manchen Haudegen aus der Zunft der abstrakten oder surrealen Maler ziemlich alt aussehen. Das Siegerbild "Schatten der Ahnen" ist auf der Abbildung das zweite Bild von links der unteren Reihe. Der Ausstellungsbesuch hat Spaß gemacht. Leider lassen sich die Werke kaum angemessen fotografieren, denn sie leben stark durch den stofflichen Reiz des Materials.

Auch die Dauerausstellung lohnt immer wieder einen Besuch. Besonders angetan hat es mir ein Frauenoberteil aus Afghanistan. Reinfantasiert habe ich mir natürlich ein hübsches langhaariges Hippie-Mädchen...

quilt-triennale
Zwei Impressionen aus dem Berk-Museum in Ziegelhausen

Delacroix - Ausstellung in Karlsruhe 2004

(23.01.2004) Der Besuch der Ausstellung war ungeplant und stand von daher unter einem unguten Stern. Ich bekam eine Vernissage-Einladung für eine Moebius-Ausstellung in Karlsruhe gebracht, und elektrisiert schaute ich nur auf den Wochentag (heute), nicht auf das Datum, und abends nach der Arbeit fuhren wir los. Ich mit dem von Andreas Platthaus herausgegebenen Moebius-Buch "Zeichenwelt" aus der "Anderen Bibliothek" im Rucksack, denn der Meister sollte laut Einladung persönlich anwesend sein und natürlich mein Exemplar signieren. Wie enttäuscht war ich, im Karlsruher Kunstverein dann zu erfahren, dass das alles eine Woche zuvor stattfand und auch die verlängerte Öffnungszeit nur für die Vernissage galt - und nun der Kunstverein schliesst. Super!

Um den Kulturabend zu retten, gingen wir in die hochgelobte Delacroix-Ausstellung. Aber was für ein schrecklicher, verstaubter, veralteter Schund erwartete mich hier! Immerhin - trotz der Ausstellungsberichte, die von Besuchermassen schwärmten (oder warnten), war es angenehm leer. Warum die Ausstellung wegen angeblichen Publikumsinteresse späterhin noch verlängert wurde, blieb mir ein Rätsel. Publikumsinteresse...? Meinen Beobachtungen nach brachte der normale Ausstellungsbesucher wie bei Kunstausstellungen so üblich etwa einige Sekunden Rezeptionszeit pro Bild auf.

delacroix
Zwei Ansichten der "überlaufenen" Delacroix-Ausstellung

Was soll man zu den Bildern sagen?!? Schrecklich, reif für die Rumpelkammer. Ein typischer Klassiker aus der olle-Kamellen-Fraktion, der nicht mehr hinterfragt wird, weil jedes Hinterfragen ein Infragestellen eines anerkannten Kanons bedeutet, und man sich damit als Kunstbanause outen könnte. Was malt Delacroix so? Wilde Tiere, denen man ansieht, dass ausgestopfte Exemplare abgepinselt wurden; Salon-Szenen und Salon-Themen, Bilder von mehr oder weniger angezogenen Frauen (Haltbarkeit des Schönheitsideals schon lange abgelaufen), mehr oder weniger gelungene Porträts von irgendwelchen kaufkräftigen Mackern, ein bißchen Exotismus, der nicht wehtut, das ganze Zeug in den dazu passenden schwülstigen Rahmen - die Ausstellung hat mir fast schon körperlich weh getan.

Jean Vanier - "Heile, was gebrochen ist"

(25.01.2004) Vollständiger Titel: Jean Vanier "Heile, was gebrochen ist". Die Botschaft vom ganzen Menschen. Freiburg 1990.

Das Buch ist von einer lieben und langjährigen Freundin von mir übersetzt worden und bedeutet mir deswegen viel. Auch haben wir über das Thema des Buches uns lange mündlich und schriftlich ausgetauscht, und ich bekam es bei meinem letzten Besuch in London auch vorgelebt, das gemeinsame Leben und Arbeiten von sog. Behinderten und sog. Gesunden. Das ändert allerdings nichts daran, dass mir die Lektüre des Buches schwer fällt. Begründen kann ich das nur mit einem der berühmteren Faust-Zitate: "Die Botschaft hör' ich wohl, ...". Glücklicherweise sind die Bücher das eine, die Menschen aber das andere. Man kann die Menschen für ihr Leben, für ihren Einsatz bewundern, braucht aber noch lange nicht ihre Lektüre gut zu finden. Aber alle paar Tage einige Seiten zu lesen - das kann ja auch nicht schaden.

Jörg Fauser - "Ich habe eine Mordswut"

(15.02.2004) Vollständiger Titel: Jörg Fauser "Ich habe eine Mordswut". Briefe an die Eltern 1956 - 1987. Ausgewählt und herausgegeben von Wolfgang Rüger & Maria Fauser. (Frankfurt 1993) [94A11437].

Jörg Fauser gehört schon lange zu meinen Lieblingsschriftstellern, fast alle Prosatexte von ihm habe ich gelesen. Es wurde Zeit, auch seine Briefe und sein Privatleben kennenzulernen. Berücksichtigt man die zeitliche Nähe zum überdeckten Zeitraum (Fauser ist am 17.7.1987 tödlich verunglückt) ist klar, das mit vielen Auslassungen zu rechnen ist, um Persönlichkeitsrechte noch Lebender nicht zu verletzen. So handelt es sich also nur um eine kleine Auswahl der 400 erhaltenen Briefe an die Eltern, "die die Entwicklung von Jörg Fauser am aussagekräftigsten dokumentieren" (aus "Editorische Notiz"). Nachprüfen läßt sich das selbstverständlich nicht, aber ich fand die Lektüre spannend und erhellend und habe das Buch in einem Rutsch durchgelesen. Den Anhang hätte man sich etwas umfangreicher wünschen können, den Kontext der Briefe muß man oft versuchen zu ahnen, nicht alle Personennamen werden aufgelöst. Spannend fand ich die biographische Nähe: Fauser hat in Heidelberg am Bethanien-Krankenhaus seinen Zivildienst absolviert (1966-68), dem einzigen Krankenhaus, in das es mich einmal ein paar Tage verschlug (und in dem meine Mutter und meine Oma gestorben sind).

Die Briefe selber kreisen meist um das Thema des Schreiben-Wollens, Schreiben-Müssens, von anfänglichen Verteidigungen hin zu lässigen Auflistungen, wo die neusten Sachen nun gerade veröffentlicht werden. Für Kenner von Fauser nicht überraschend sind seine literarischen Vorlieben (Benn, Hamsun, Roth, Burroughs, Ernst Jünger u.a.) und seine politische Einstellung, eine interessante Mischung aus Anarchie und Konservatismus. Mit "Linken" oder mit Hippies hatte er nie etwas am Hut.

Der Titel ist übrigens viel zu reißerisch für diese Briefe an die Eltern, die bis zum Ende der Korrespondenz mit "Liebe Mammi, lieber Pappi" angeredet werden: Das Titelzitat ist aus dem ersten Brief der Sammlung, in dem der noch nicht ganz zwölfjährige Fauser seinem Vater von seiner Lektüre von "Hannibal" von Mirko Jelusich schreibt und sich darüber ärgert, dass die Römer und ihre Sprache darin schlecht wegkommen.

Hier habe ich Zitate von Fauser zusammengestellt, und hier einige Notizen zur Biografie.

Ulrich Kaufmann - "Lenz in Weimar"

(17.02.2004) Vollständiger Titel: Ulrich Kaufmann "Lenz in Weimar". Jakob Michael Reinhold Lenz 1776 am Hof in Weimar. Chronik / Zeugnisse / Beiträge. (München 1999) [99A7396]

Lenz in Weimar

Das Buch stand zwar schon jahrelang auf meiner Wunschliste, die Lektüre hat mich aber etwas enttäuscht. Es handelt sich um eine Reihe von meist schon anderswo veröffentlichten Aufsätzen oder zu verschiedenen Anlässen gehaltenen Vorträgen, oft zu nur für absolute Lenzianer interessanten Spezialthemen. Lesenswert fand ich den ersten Beitrag, der das Thema fast schon erschöpfend behandelt, und als hilfreiche Ergänzung dazu die ausführliche Chronik der Weimarer Monate von Lenz. Aufgeklärt wird auch hier nicht die berühmt-berüchtigte "Eseley", die Anlaß zum Bruch der Freundschaft mit Goethe und der Ausweisung aus Weimar war. Allerdings gewinnt man aus dem ausgebreiteten Material zu Lenz den Eindruck einer sehr schwierigen und schwer zu ertragenden Persönlichkeit, wo letztendlich wohl nur noch ein kleiner Tropfen reicht, um das Faß zum Überlaufen zu bringen.

Sehr prophetisch die Schlußzeilen eines Charlotte von Stein gewidmeten Gedichts (S.127):

Zitat von Lenz
Ich aber werde dunkel seyn
Und gehe meinen Weg allein.

Frank Schulz - "Morbus fonticuli"

(28.02.2004) Ein hochgelobtes Buch, welches aber in meinen Augen einige Längen hat (was natürlich daran liegt, dass ich nicht rauche und sehr wenig Alkohol trinke und kein Kneipengänger bin - somit läßt mich das Schwärmen über Alkohol bei - immerhin - gleichzeitig beschriebenem Persönlichkeitsverfall einfach kalt, es ist nicht meine Welt). Dennoch bereue ich es nicht, das Buch gelesen zu haben und damit einen großen Teil meines Urlaubs verbracht zu haben. Der Sprachwitz ist vom feinsten. Für Leser des ersten Bandes der Trilogie ("Kolks blonde Bräute", siehe Journal 2003) ist es interessant, ob Schulz sich nicht zu arg in Widersprüche innerhalb der groß angelegten "Hagener Trilogie" verwickelt, spielt "Kolks blonde Bräute" doch sowohl vor als auch nach dem in "Morbus fonticuli" geschilderten Zeitraum. Bei einigen Passagen hatte ich so meine Zweifel und deswegen nun nochmal "Kolks blonde Bräute" vorgenommen, um danach "Morbus" ein zweitesmal zu lesen.

"Moebius" (Ausstellung) im Karlsruher Kunstverein

(28.02.2004) Nach der Riesenenttäuschung vom 23.01.2004 nun endlich in die Moebius-Ausstellung gekommen. Was für ein Unterschied! Im Vergleich zu den ollen schlecht gemalten Kamellen des Delacroix nun eine quicklebendige von Einfällen nur so sprühende Kunst, technisch perfekt, künstlerisch perfekt, professionell gemacht und professionell vermarktet. Moebius bewegt sich in verschiedenen (Comic-)Stilen traumhaft sicher und hat schon mehrere Comic-Künstler-Generationen beeinflusst. Die in der Ausstellung als Faksimile angebotenen (leider sehr teuren) Skizzenbücher zeigen Aspekte von Moebius' Kunst, die man in seinen Comic-Alben eher selten findet - unter anderen Darstellungen der Sexualität, die nicht so lustig daherkommen, wie in den bekannteren Geschichten.

Moebius-Ausstellung Karlsruhe
Moebius-Ausstellung Karlsruhe, Tisch mit ausliegenden Alben

Das Publikum der Ausstellung überspannte schätzungsweise locker drei Generationen, und war - wie man beobachten konnte - gleichermaßen fasziniert von Moebius' Kunst, wobei Jugendliche sich eher für die ausliegenden Alben interessierten, die älteren Herrschaften für die einzeln gerahmten Exponate.

In der Abbildung unten wird gerade eines der in meinen Augen besten Bilder der Ausstellung bewundert; es scheint sich um einen Raketenfriedhof zu handeln, wo Einheimische dabei zu sein scheinen, die alten Raumschiffe abzuwracken (ähnlich wie es alten Schiffen in Pakistan oder Afrika geschieht). Die Detailfülle ist unglaublich: Ein Ausschnitt, der etwa 12 cm der 60 cm Bildbreite wiedergibt, soll das veranschaulichen.

Moebius-Ausstellung Karlsruhe
Ein "Raketenfriedhof" wird bewundert.
Moebius-Ausstellung Karlsruhe
Kleiner Ausschnitt aus dem Raketenfriedhof.

Zuletzt noch Yours truly als Reflex im Rahmenglas einer Hommage von Moebius an eine Ikone der Comic-Kunst, an Hugo Pratts Corto Maltese, im Hintergrund Motive aus Venedig, eine für Hugo Pratt und Corto Maltese gleichermaßen wichtige Stadt, und für mich eine der schönsten und interessantesten Städte überhaupt.

Moebius-Ausstellung Karlsruhe
Yours truly, Moebius, Pratt, Corto Maltese, Venedig...

"Nibelungen" (Ausstellung) in Karlsruhe

(29.02.2004) Was soll man zu dieser Ausstellung sagen! Sie war so gut gemacht wie alle diese Mammutausstellungen, die einen Riesenetat haben (auch viel Eintritt kosten). Viele sehenswerte Exponante, gute Modelle, interessante Schautafeln - alles ganz toll. Aber ein unglaubliches Rumgeschiebe und Rumgedrücke, weil diese Ausstellungsereignisse Event-Charakter haben und damit auch Besucher aus sonst ausstellungsresistenten Kreisen anziehen. Eine wichtige Sache. Und dennoch wünschte man sich etwas mehr Ruhe und Zeit, die so interessant dargebotenen Schaustücke zu betrachten. Die ganze Ausstellung war in recht schummrige Beleuchtung gehalten - nicht zum Schutz der Objekte, denn die wurden teilweise sehr kräftig angeleuchtet, sondern zur Dramatisierung. Eindrucksvoll allerdings der in absolutem Dämmerlicht gehaltene Sonderraum mit den erhaltenen Original-Handschriften. Immer wieder faszinierend, diese handgeschriebenen Texte zu sehen, die sorgfältig geschriebenen Buchstaben, sich das Alter zu vergegenwärtigen, mit dem zu erwartenden Schicksal digitaler Datenträger zu vergleichen, die nach einigen Jahrzehnten kaum noch zu lesen sind usw.

Anschließend ein Rundgang durch den Karlsruher Schloßpark.

Ed van der Elsken - "Fotografie + Film 1949 - 1990"

(29.02.2004) Vollständiger Titel: Ed van der Elsken - "Ed van der Elsken. Fotografie + Film 1949 - 1990"; Ausstellungskatalog Wolfsburg.

Angenehm aufgefallen ist mir dieser Ausstellungskatalog beim Besuch der Eric-Fischl-Ausstellung letztes Jahr (2003) in Wolfsburg. Ich habe ihn nicht gekauft, weil er mir a) zu teuer war und ich b) sicher war, dass er in der Heidelberger Unibibliothek (Schwerpunktbibliothek für Kunstgeschichte) vorhanden ist.

Wieder mal ein Fall, bei dem mir ein Buch nur wegen einer Abbildung ins Auge gefallen ist (andere Fälle: Claire Goll, Louise Brooks). Genauer gesagt handelt es sich natürlich um ein Bild mit einer schönen Frau.

Elsken

Auf dem Buchumschlag befindet sich das für meinen Geschmack schönste Foto des ganzen Bandes. Es handelt sich gleichzeitig um ein Selbstporträt Ed van der Elskens, und zwar im Arbeits- und Lebenszusammenhang, und um ein Porträt seiner damaligen Freundin und späteren Frau Anneke Hilhorst. Und nicht zuletzt um ein erstklassig komponiertes Foto mit einer wunderschönen Frau, die stark und selbstbewußt und nicht anbiedernd oder gekauft aussieht. Kein Augenkontakt zum Betrachter, sondern ein kritischer Blick auf das eigene Spiegelbild. Über den Körper ein durchsichtiger, am unteren Ende geschmückter Stoff, der die blanke Nacktheit bricht, was die Frau noch erotischer aussehen läßt.

Der Text des Katalogs ist so la la, man kann auch ohne ihn leben. Am interessantesten und schönsten fand ich die Fotos aus der Pariser Zeit von Ed van der Elsken. Hier einige Lektürenotizen.

Hilary Mantel - Some girls want out

(05.03.2004) Essay aus der London Review of Books, Vol. 26 No. 5, 4.3.2004. Ein faszinierender Essay. Ausgehend von der Besprechung von vier Neuerscheinungen zu jungen "Heiligen" (kanonisierten jungen Mädchen), Masochismus, Pubertät und Magersucht wird eine ausgezeichnete Einbettung dieser Themen in Religion, Psychologie, Pädagogik, Soziologie und Feminismus gegeben. Unbedingt lesenswert.

Malcolm Pasley gestorben

(10.03.2004) Der Tagesspiegel online (vom 10.03.2004) zum Tod des Kafka-Forschers Malcolm Pasley (4.4.1926-4.3.2004).

Edinburgh - "South Bridge"

(11.03.2004) Die "South Bridge" von Edinburgh vor 200 Jahren - das war der echte Untergrund. Im Jahr darauf (2005) haben wir dort eine Führung mitgemacht, weil ich mich noch gut an die Beschreibung erinnern konnte.

Alfred Tennyson - "Ulysses" (Gedicht)

(17.03.2004) Am 04.12.2002 habe ich Libuse Monikovas Essayband "Prager Fenster" gelesen und war seit diesem Moment auf der Suche nach der Quelle dieses dort zitierten Textes:

Nur wenig frommt's - daß ich, ein müß'ger Fürst,
am stillen Heerd hier, an dem kargen Strand,
bejahrtem Weib gesellt -
dem rohen Pack ein viel zu gutes Recht mit Würde sprech'.
Das scharrt & schläft & frißt -
und kennt mich nicht!

Dank einer mail von Günter Jürgensmeier in der ASML (Arno Schmidt mailing liste) ist die Herkunft des Zitats nun klar, die Passage ist aus Tennysons Gedicht "Ulysses". Es handelt sich um eine Übersetzungsprobe, die der "Held" aus Arno Schmidts "Die Abenteuer der Sylvesternacht", BA I/3,468, macht. Das lange Gedicht ist insgesamt lesenswert: Die alten Haudegen um Odysseus langweilen sich im Rentenalter neben ihren alten Frauen und wollen wieder los, Abenteuer erleben, vor allem: die Chance haben, das (Glück) zu finden - und diese Chance haben sie nur, wenn sie nicht auf ihrem Arsch sitzen bleiben. (Warum ich dabei immer an Led Zeppelin und an den Supersong "Achilles last Stand" denken muß - keine Ahnung).

George P. Landow deutet Tennysons Gedicht etwas anders. In einem nicht mehr existierenden Diskussionsforum gab es darüber eine ellenlange, teils interessante Diskussion.

Theodor Storm - "Im Sonnenschein"

(30.03.2004) (Erste Lektüre im Februar) Die Geschichte kommt sonnig und duftig daher und endet nach einer Zäsur von sechzig Jahren ebenfalls sonnig und duftig. Einige wenige Andeutungen im ersten Teil erfahren im zweiten Teil eine erst auf den zweiten Blick deutliche schreckliche Aufklärung: Durch einen strengen und harten Vater wird das Lebensglück zweier Menschen vernichtet. Aus einer wie auch immer begründeten Abneigung gegen das Militär widersetzte sich der Vater der Verbindung seiner Tochter mit einem Offizier. Beide blieben aus Kummer unverheiratet, die Tochter "Fränzchen" (eine begabte Kaufmannstochter) starb nur zehn Jahre später, der Offizier quittierte irgendwann seinen Dienst und lebte auf einem Gut mit seiner Schwester zusammen. Das Schicksal der beiden wurde der Familie erst klar, als bei der Sanierung der Familiengruft am Sarg von Fränzchen ein Medaillon mit einer schwarzen Locke gefunden wurde. Eine traurige Geschichte also - trotz dem freundlichen Titel.

Theodor Storm - "Angelika"

(31.03.2004) Hat mir nicht gut gefallen. Ein Jammerlappen von ältlichem Liebhaber, der dann, als Angelika frei wird, einen Rückzieher macht und quasi eine beleidigte Leberwurst spielt.

Theodor Storm - "Auf dem Staatshof"

(04.04.2004) Nun ja, Hochmut kommt vor dem Fall, man weiß es ja. Die Geschichte hat mir nicht gefallen, ein Happy End wäre mir lieber gewesen. Die sogenannten "Sommergeschichten" von Storm können mich offenbar nicht mehr so fesseln wie Mitte der siebziger Jahre, als ich schon mal alles von Storm las.

Theodor Storm - "Späte Rosen"

(05.04.2004) Ende April noch einmal gelesen. Eine hölzerne Geschichte. Die Menschen wie Marionetten, die zur Illustration einer im schlechtesten Sinn des Wortes "ausgedachten" Geschichte leider doch unverzichtbar sind.

Asja Lacis und Walter Benjamin

(09.04.2004) Ein rotgefärbtes Bild von Asja Lacis, einer russischen Revolutionärin, hängt seit über zwanzig Jahren bei mir am Schreibtisch, jeden Tag sehe ich das Gesicht dieser wunderschönen Frau.

Asja Lacis
Asja Lacis

Heute die Rezension von Erdmut Wizisla über eine Edition von Dokumenten und Briefen an Walter Benjamin aus den Exil-Jahren gelesen, in der einiges zu Asja Lacis steht. Benjamin war sehr verliebt in diese Frau, fuhr wegen ihr auch nach Moskau. Aus diesem Anlass habe ich nach Asja Lacis und Walter Benjamin gegoogelt und weiteres Material gesucht. Und wie der Zufall so spielt: Eines meiner aktuellen Lieblingsmusikstücke ist von Jewlia Eisenberg ("Abidan", von John Zorns Sampler "Voices in the Wilderness"), und von dieser Musikerin und ihrer Gruppe Charming Hostess gibt es ein Konzeptalbum ("Trilectic") zu Asja Lacis, Walter Benjamin und Gershom Sholem. Also ich muß sagen: wenn's um diese Frau geht - da kann ich Walter Benjamin verstehen...

Stephen Baskerville - "Is There Really a Fatherhood Crisis?""

(10.04.2004) Wer hat es noch nicht erlebt: Scheidungen im Bekanntenkreis... Zwar kann man schon bei uns die Väter bedauern, aber wer als Mann bei einer Scheidung den echten Horror kennenlernen will, der muß Amerikaner sein. Ein langer Aufsatz, aber äußerst lesenswert: "Stephen Baskerville: Is There Really a Fatherhood Crisis?".

Libuse Monikova - "Der Taumel"

(12.04.2004) Der letzte und leider unvollendete Roman von Libuse Monikova, die während der Niederschrift schon schwer erkrankt war und kaum die Hälfte des Exposés umsetzen konnte. In einem Rutsch ausgelesen und begeistert, auch wenn es Stellen gibt, die zu stark aus dem Lexikon abgeschrieben sind. Es ist sinnvoll, sich für die Lektüre einige Bildbände aus der Bibliothek zu holen, um einigen Diskussionen folgen zu können (v.a. zu Henri Rousseau und Perro della Francesca).

Libuse Monikova - "Verklärte Nacht"

(16.04.2004) Nach der positiven Erfahrung mit "Der Taumel" sofort im Lieblingsantiquariat nach dem letzten mir noch fehlenden Roman von Monikova geschaut und wiederum begeistert gelesen. Es gibt darin ein Happy End - wer hätte das von Monikova gedacht!

Oliver Sacks - "Migräne"

(17.04.2004) Aus persönlichen Gründen (...) zu lesen angefangen (und weil mir vor zehn Jahren Sacks Buch "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" so gut gefallen hat). So richtig schnell kann man den Text nicht lesen. Aber sehr interessant, mit hohem Wiedererkennungseffekt.

Adalbert Stifter - "Witiko"

(01.05.2004 begonnen) Keine Ahnung, welcher Teufel mich geritten hat, diesen Text zu beginnen (eigentlich doch: googeln nach "Zöpfe", um Bildvorlagen und Anregungen für ein neues Ölbild zu suchen; und bei "Witiko" gab es eine Fundstelle im ersten Kapitel). Seitdem immer wieder zum Text zurückgekehrt und etwas weiter gelesen, allerdings immer noch am Bildschirm, das Buch selber habe ich noch nicht. Eine ungemein interessante - wenn auch eigenwillige - Sprache, von spröder Schönheit.

Nachtrag 2016: Inzwischen habe ich das Stifters "Witiko" dreimal gelesen und halte es für eines der besten Bücher, die ich je gelesen habe.

Marie von Ebner-Eschenbach - "Das Gemeindekind"

(08.05.2004) Eine reine Zufallslektüre: Eigentlich wollte ich nur nachschauen, ob auf meiner CD der Digitalen Bibliothek "Deutsche Literatur" auch Aphorismen der Ebner-Eschenbach enthalten sind (leider nein), und habe mich dann im Roman "Das Gemeindekind" festgelesen. Eine ganz überraschende Entdeckung (wer liest schon Ebner-Eschenbach...). In kleinen Verhältnissen (Bergdorf) werden die großen und kleinen Fragen und Probleme der Menschen vorgelebt (wie bei Hamsun), und ähnlich spannend ist es auch, was diese Menschen dann so treiben (bzw was mit ihnen getrieben wird).

Zwei Zitate:

"Oh, die Menschen, die Menschen! Man muß sie lieben - und will ja -, aber manchmal graut einem; es graut einem sogar sehr oft." [Ebner-Eschenbach: Das Gemeindekind, S. 255)]

"Nie ist den Menschen deutlicher gepredigt worden: Seid selbstlos, wenn aus keinem edleren, so doch aus Selbsterhaltungstrieb... aber ich sehe, das ist dir wieder zu hoch - - anders also! ... In früheren Zeiten konnte einer ruhig vor seinem vollen Teller sitzen und sich's schmecken lassen, ohne sich darum zu kümmern, daß der Teller seines Nachbars leer war. Das geht jetzt nicht mehr, außer bei den geistig völlig Blinden. Allen übrigen wird der leere Teller des Nachbars den Appetit verderben - dem Braven aus Rechtsgefühl, dem Feigen aus Angst... Darum sorge dafür, wenn du deinen Teller füllst, daß es in deiner Nachbarschaft so wenig leere als möglich gibt. Begreifst du?"

"Ich glaube, ja."

"Begreifst du auch, daß du nie eines Menschen Feind sein sollst, auch dann nicht, wenn er der deine ist?"

"So etwas", erwiderte Pavel, "hat mir schon meine Schwester gesagt." [Ebner-Eschenbach: Das Gemeindekind, S. 261)]

Theodor Storm - "Drüben am Markt"

(13.05.2004) Ein schmuddeliger kleinbürgerlicher Doktor (dem leider niemand die Wahrheit sagt) und eine saubere Patriziertochter können nicht zusammenkommen, vor allem wenn der Kerl auch noch ungeschickt ist und sich nicht erklären kann oder will. Pech gehabt. Aber er kann sich immerhin wie gehabt in seiner Stammkneipe, einer Schifferkneipe, trösten. Weiß Gott kein Geniestreich, diese Geschichte.

Georg Christoph Lichtenberg - "Aphorismen"

(21.05.2004) Bei einigen längeren Wartezeiten in verschiedenen Arztpraxen war mein "immer-dabei-Buch" (in der handlichen Reclam-Auswahl) eine ideale Lektüre. Ein Autor, den man nicht sattbekommt.

Ferdinand Avenarius - "Der Kunstwart" (Zeitschrift)

(21.05.2004) Kafka war mehrere Jahre lang (wohl von 1900 bis Mitte 1904) Abonnent dieser Zeitschrift, einer "Halbmonatsschau über Dichtung, Theater, Musik, bildende und angewandte Künste" (herausgegeben von Ferdinand Avenarius), Anlaß genug, sich mal einige Jahrgänge in den Lesesaal der Uni-Bibliothek kommen zu lassen und reinzuschnüffeln. Der erste Eindruck: Viel, viel Stoff, mehr als ich erwartet hatte. Die Jahrgänge 1901 bis 1908 umfassen sicherlich 70 cm. Als Beilagen gab es nicht nur sorgfältig ausgewählte und in guter Qualität gedruckte Bilder (siehe das unten gezeigte Mädchenbild von Ludwig von Hofmann), sondern auch Noten für kleinere Musikstücke. Billig war diese Zeitschrift nicht, 1907 kostete ein Abonnement in Deutschland 4 Mark vierteljährlich, 4K 80H in Österreich und 5 Mark 20 Pf im Ausland. Für das damalige Lohnniveau also eine hochpreisige Zeitschrift, aber offenbar hatte Kafka als Schüler und Student genügend Taschengeld.

Ludwig von Hofmann, Mädchenbild
Ludwig von Hofmann, Mädchenbild

Schaut man sich die Inhaltsverzeichnisse an, liest einige Artikel an, beschaut sich die Bilder, dann weht einem schon reichlich Muff entgegen. Vor hundert Jahren war das wohl für manche Kreise eine spannende Zeitschrift, für Kafka aber glücklicherweise schon seit 1904 nicht mehr.

Im zweiten Augustheft 1905 (18.Jg, Heft 22, S 501ff) hätte er sonst einen Aufsatz von Moeller van den Bruck lesen können, zum Thema "Die Überschätzung französischer Kunst in Deutschland", der folgendermaßen beginnt:

"Deutsch sein heißt universal sein. Kein Volk hat es von jeher mächtiger getrieben, aus sich herauszugehen, die Schranken des Eigenen und Inneren zu durchbrechen, sich ins Äußere und Fremde vorzuwagen und alle Lebens-, Denk- und Kunstkreise, mit denen es dort in Berührung kam, in die eigenen einzubeziehen - wie eben das unsere. Es ist das Faustische in uns, das sich nicht mit dem Menschen begnügen, sondern auch noch die Welt haben will: und zweifellos verdanken wir diesem Faustischen, diesem ewigen Drang, das Individuelle zum Universalen zu steigern, unseren Reichtum und unsere Schönheit als Volk - unsere ganze Geschichte, heldisch bis zum Abenteuernden, gleichgültig, ob wir sie nun von ihrer politischen oder von ihrer geistigen Seite nehmen, leitet sich von ihm her." (und so weiter)

Außer dem Reinschnüffeln war mein Ziel, die Abbildung "Der Sämann" nach einem Gemälde von Hans Thoma zu finden, die Kafka über seinem Schreibtisch hängen hatte und die aus dem Kunstwart sein sollte. Leider war diese Bildbeigabe nicht zu finden (oder ich habe sie übersehen, oder sie gehört zum Jahrgang 1900), aber egal: die Suche geht weiter.

Sky and Telescope, Jahrgänge 1990-1993

(21/22.05.2004) Schrecklich, was sich alles im Lauf der Jahre und Jahrzehnte ansammelt, zum Beispiel drei Regalmeter Astronomie-Zeitschriften. Deswegen einige Jahrgänge Sky and Telescope duchgeblättert, einiges davon gelesen, einiges herausgetrennt, und schließlich einen Stapel von 20cm Höhe zum Altpapier gebracht.

Irmgard Laarmann - "Der Schatz des Herrn von Kürenberg"

(24.-26.05.2004) Vollständiger Titel: Irmgard Laarmann "Der Schatz des Herrn von Kürenberg", 1963, Illustrationen von Emmy-Claire Haag

Ein Kinderbuch aus den sechziger Jahren, irgendwann damals gelesen, aus irgendwelchen Gründen immer mal wieder daran erinnert und deswegen Mitte Mai Nägel mit Köpfen gemacht, das Buch besorgt und gelesen. Gar nicht mal so schlecht, guter Plot, spannend. Geradezu emanzipiert, weil die beiden darin vorkommenden Mädchen unter den Jungs eine sehr tapfere Figur machen. An manche Szenen konnte ich mich erinnern, desgleichen an einige Illustrationen - und das nach fast vierzig Jahren. Nicht übel. Hab' die Lektüre nicht bereut.

Carl Gotthard Graß - "Sizilisches Tagebuch"

(29.05.2004) Vollständiger Titel: Carl Gotthard Graß "Sizilisches Tagebuch oder Auszüge aus dem Tagebuch eines Landschaftsmalers", 1815, 2 Bde, erster Band 244 Seiten und 11 Kupfer, zweiter Band 435 Seiten und 15 Kupfer.

Der erste von vielen noch kommenden Aufenthalten im Lesesaal der Uni-Bibliothek zur Lektüre dieses per Fernleihe bestellten Werkes, denn diese alten Bände dürfen nicht nach Hause entliehen werden - auch das Anfertigen von Fotokopien ist verboten.

Graß ist heute kaum noch bekannt, ist aber auch zu seiner Zeit kein heller Stern gewesen. Mir ist er zweimal aufgefallen:

1) Der Maler Franz Pforr, über den ich Anfang der achtziger Jahre meine Magisterarbeit in Kunstgeschichte geschrieben habe, lernt Graß 1810 in Rom kennen und bezeichnet ihn als einen der ganz wenigen Menschen, mit denen zu verkehren ihm noch gut tut.

2) Als der noch junge Karl Friedrich Schinkel am 8.Mai 1804 von Neapel aus nach Sizilien aufbricht, gehört zu der Reisegruppe - Carl Gotthard Graß. Der Band "Karl Friedrich Schinkel. Reisen nach Italien" (herausgegeben von Gottfried Riemann), in dem Schinkels Tagebuch abgedruckt ist, gehört zu den von mir mit am längsten antiquarisch gesuchten Titeln, bis ich ihn Mitte der 90er Jahre endlich mal in Leipzig zufällig ergatterte. Vor der Internetzeit war das gezielte Suchen nach einem Buch oft sehr langwierig.

Graß war persönlich mit Johann Gottfried Seume bekannt, der zwei Jahre vor ihm bis nach Sizilien gewandert war. Wann sie sich kennengelernt haben, schreibt Graß nicht, jedenfalls denkt er an Seume in der Ziegenhöhle am Ätna, weil Seume auch hier gewesen ist.

Zu den beiden Bänden habe ich eine eigene Webseite eingerichtet, deswegen hier keine weiteren Kommentare zum Buch.

Ingo Blankenburg "Zehn Tage"

(30.05.2004) Der Arno-Schmidt-mailing-Liste verdanke ich einen Hinweis auf diesen online verfügbaren Roman. Gestern reingeschnüffelt und runtergeladen, vorhin den Prolog und den "Ersten Tag" und "Zweiten Tag" gelesen. Ausgezeichnet, bin schon fast entschieden, mir die im Juni 2004 erscheinende Printausgabe, die mit 29,90 Euro nicht übermäßig teuer ist, zu bestellen. Einem kunst- und literaturliebenden EDV-Dozenten wird zum Ende des Jahres gekündigt, für einen 48-jährigen heutzutage eine Katastrophe. Durch einen selbstverschuldeten schweren Unfall ans Krankenhausbett gefesselt, will er sein Leben überdenken und bilanzieren. Dabei werden jede Menge Bücher und Kunstwerke abgehandelt und hochinteressante Gespräche (mit Ärzten, Krankenschwestern und einem Mit-Patienten) geführt.

Declutter-Kampagne

(30.05.2004) Daneben noch einen dicken Stapel c't-Hefte durchgeblättert und anschließend entsorgt (meine kleine private "reduce clutter"-Kampagne)...

Rolling Stone, Jahrgang 2002

(31.05.2004) Durchgeblättert, dann ausgemistet (getreu der wunderbaren Ratschläge von John December: "Live Simple", einem online-Buch, das mir für vieles die Augen geöffnet hat). Den Rolling Stone hatte ich ca 5 oder 6 Jahre abonniert, aber zu Ende 2003 gekündigt: Ich bin schlicht nicht mehr mit der Lektüre nachgekommen (bei 7 Zeitschriftenabos auch nicht einfach), dazu nervte es, ständig diese Posen von irgendwelchen Bands und "Stars" sehen zu müssen, diese betont coolen Sonnenbrillengesichter, diese Serie mit "High-Tech-Toys", diese unsäglichen RS-Style-Modeseiten. Und immer immer wieder die gleichen Helden (Neil Young, Stones, U2, Dylan, usw) und der Versuch, Hampelmänner wie Beck hochzupushen. Das Durchblättern dieses Jahrgangs hat meinen Entschluß, das Abo zu kündigen, nachträglich nochmal gerechtfertigt.

Rolling Stone, Jahrgang 2003

(03.06.2004) Beim Lesen vom Heft 6/2003, welches ein "Special" zu Steely Dan enthält, habe ich "Aja" laufen lassen, die einzige Platte, die ich von denen habe. Seit dem Kauf habe ich diese Platte als langweilig empfunden, und genauso empfand ich's beim Wiederhören. Seltsam, diese Lobhudeleien für manche Bands oder Interpreten im Rolling Stone. Und andere kommen gar nicht vor - Genesis wurde absolut totgeschwiegen. Mit dem Jahrgang 2003 war ich am Montag (07.06.) fertig, und damit sind alle Hefte ausgemistet.

Carl Gotthard Graß - "Sizilisches Tagebuch"

(05.06.2004) In der Unibibliothek Heidelberg den Carl Gotthard Graß weitergelesen - wieder drei Stunden im Lesebereich der Unibibliothek, mit voller Ausrüstung. Höhepunkte gab es bei der Lektüre noch keine, es handelt sich (bisher) um eine recht konventionelle Reisebeschreibung, bei der überraschend wenig über die Mitreisenden gesagt wird. Auch die Abbildungen, die recht unschön gefaltet sind, können sich mit den Zeichnungen des Mitreisenden Karl Friedrich Schinkel nicht vergleichen - und es ist unwahrscheinlich, dass alles auf Kosten des Kupferstechers geht.

Unibibliothek Grass-Lektüre
Bei der Arbeit...

Libuse Monikova - Die Fassade

(12.-20.06.2004) Auf einem Kurztrip nach Wien, Litomysl und Prag zum viertenmal gelesen. Litomysl war eines der drei Reiseziele, weil der Roman zu zwei Dritteln dort spielt. Einige Ergänzungen auf meiner Webseite zum Roman gemacht, dazu einige Fotos aus Litomysl eingebaut.

Carl Gotthard Graß - "Sizilisches Tagebuch"

(18.06.2004) Weitergelesen. Sehr umständlich, dazu immer in den Lesesaal der Uni-Bibliothek gehen zu müssen. Ermüdende Lektüre, aber inzwischen habe ich den ersten Band fast durch, der laut Graß tatsächlich so trocken und kühl gedacht war; der zweite Band soll dann ganz anders werden - ich hoffe das sehr...

Rowohlt Literaturmagazin 44; Prag - Berlin: Libuse Moníková

(20.06.2004) Lektüre begonnen. Der Hauptteil dieses Bandes (die Seiten 35 bis 165) ist Libuse Moníková gewidmet. Nach der umfangreichen Moníková-Lektüre in den letzten Monaten habe ich nun endlich auch dieses Buch angefangen, obwohl ich es schon über zwei Jahre habe. Die bisher gelesenen Texte zu Moníková überzeugen wenig, sind eigentlich auch vom Umfang her jeweils zu kurz und reißen ihr Thema deswegen immer nur an.

"Sterne und Weltraum", Jahrgang 1993

(20.06.2004) Durchgeblättert, einiges gelesen, dann ausgemistet.

Carl Gotthard Graß - "Sizilisches Tagebuch"

(21.06.2004) Weitergelesen. Band 1 fertig, Band 2 angefangen, und - gottseidank - hier schreibt Graß wirklich (wie von ihm im Band 1 versprochen) interessanter und persönlicher.

"Sterne und Weltraum", Jahrgang 1994

(21.06.2004) Durchgeblättert, einiges gelesen, dann ausgemistet.

"Sterne und Weltraum", Jahrgang 1995

(22.06.2004) Durchgeblättert, einiges gelesen, dann ausgemistet.

Günter Metken - "Gustave Courbet. Der Ursprung der Welt. Ein Lust-Stück"

(25.06.2004) Obwohl schon im Mai 2003 gekauft (unbesehen, da nur noch antiquarisch selten und teuer erhältlich) erst jetzt gründlich gelesen. Bei Licht besehen ist der Band eine Enttäuschung: Ein ganzes Buch einem einzigen Bild zu widmen - da erwartet man einiges mehr als das, was in diesem 80-Seiten-Band von Metken auf etwa 23 Seiten Text (sehr großzügig bedruckt, maximal 2 KB pro Textseite), einigen zeitgenössischen Stimmen, einer Biographie und einer äußerst dürftigen Bibliographie zusammengestellt ist. Es ist durchweg in einem "raunenden Plauderton" gehalten, die wenigsten Stellen werden nachgewiesen, die Quellen für offensichtliche Gerüchte bleiben im Dunkeln (warum werden diese dann überhaupt angeführt?). Bestenfalls also ein Bildbändchen für ein Wartezimmer. Schade, hier wurde einiges verschenkt. Warum wurde nicht die Chance genutzt, mehr über die illustren Vorbesitzer auszuführen - ist beispielsweise Jacques Lacan so uninteressant? Warum nur einige Seiten über ein so "spannendes" Allerwelts-Thema wie "Gustave Courbet und die Frauen" und nicht einige Dutzend Seiten über das Paris dieser Zeit, über das Umfeld, in dem sich Courbet und sein(e) Auftraggeber bewegten? Warum wurde nicht dieses von Metken als so unerhört und schockierend beschriebene Gemälde als Sonde benutzt, um in die Tiefen einer Gesellschaft, eines Milieus einzudringen? Und wie passt es zusammen, dass nach der knapp skizzierten Rezeptionsgeschichte das Bild erst ab etwa 1977 allmählich der Öffentlichkeit bekannt geworden sein könnte, das Bild aber zumindest mir seit Ende der siebziger Jahre häufig "über den Weg lief" und nicht nur in Frankreich sehr wohl bekannt war? Und natürlich wäre es interessant gewesen, die Reaktion heutiger Museumsbesucher auf dieses Bild zu analysieren: Es wäre beispielsweise spannend, zu beobachten, wie eine Schulklasse auf dieses Bild reagiert. Es fehlt also eine Behandlung des Themas in der Art, wie Siegfried Kracauer schon 1937 (neue Auflage 1962) das Paris von Jacques Offenbach beschrieben hat - oder man nimmt eben gleich den Kracauer zur Hand.

Metken, Courbet
Um dieses Gemälde geht es.

Courbet
Courbets "Ursprung der Welt" im Musée d'Orsay (aufgenommen 2005):
Die meisten Besucher betrachten es aus sicherer Entfernung...

Im Abschnitt "Zeitgenössische Stimmen" gibt es allerdings einige wirklich gute und drastische Zitate über und von Courbet, besonders die Passagen aus einem unveröffentlichten Manuskript von Castagnary sind spannend zu lesen.

Web-Recherche zu "Gustave Courbet. Der Ursprung der Welt"

(26.06.2004) Dass auf Courbets Gemälde oft in anderen Gemälden angespielt wird, ist verständlich, auch von mir 1995 "Ha, 'ne Vulv'!". Weitere Beispiele erspare ich mir.

Beim Artservice (2016: Seite nicht mehr auffindbar) erfahren wir folgendes zu Metkens Buch: "Vergnüglich und kenntnisreich erzählt Metken die spannende Entstehungsgeschichte und nachfolgende Odyssee des kleinen außergewöhnlichen Werkes" - aha, vergnüglich und kenntnisreich also...

Nur en passent kommt Courbets Gemälde in K.J.Pazzinis Aufsatz "Über den Ursprung der Bilder zwischen 'öffentlich' und 'privat'" vor - aber hier geht es ans Eingemachte: Eine packende Lektüre über Angst und Scham als produktive Elemente im Umgang mit Kunst. Dieser Aufsatz ist der eigentliche Gewinn meiner vormittäglichen Webrecherche.

Hier sieht man in einem launigen Video von "Blek le Rat" (dem Hauptvertreter des POCHOIRISMUS, also der Schablonengraffiti) das Ambiente im Musée d'Orsay, in dem Courbets Gemälde hängt. (2016: Seite nicht mehr auffindbar)

Einer auch sonst interessanten E-Mail-Korrespondenz zwischen Norbert Wehr und Barbara Bongartz ("Schreibheft"-Umfeld) sind einige gute Aussagen zu Courbet, Lacan und zum "schlecht geschriebenen" Metken-Band mit seinen "haarsträubenden" "stilistischen Stilblüten" zu entnehmen. Lektüre lohnt, aber eher wegen anderer Themen... Ein halbes Dutzend weiterer Webseiten lohnt keine Erwähnung, und dann hat es mir sowieso gereicht.

"Aus dem Leben eines Taugenichts", Theaterstück nach Eichendorff

(01.07.2004) Eine Aufführung im Theater der Stadt Heidelberg.

Unsere "Städtische Bühne" hat so ziemlich die "unergonomischste" Anordnung von Zuschauerplätzen - von sicherlich 50 Prozent der Plätze sieht man kaum etwas. Aber ob es nun sonderlich hilfreich oder originell war, die Zuschauer auf einer steil ansteigenden Tribüne auf der Bühne unterzubringen (auf Metallstühlen!) und die Schauspieler im normalen Zuschauerraum zwischen den Stuhlreihen agieren zu lassen - das bezweifle ich sehr. Jedenfalls mußte ich darunter leiden, dass die Klimaanlage und Belüftung nicht für diese Anordnung ausgelegt sind und es in der letzten und somit obersten Reihe, in der ich saß, furchtbar warm und ungemütlich wurde. Das Stück dauerte nur 1,25 Stunden (bei 17,70 Euro für den billigsten Platz), in Anbetracht der Hitze und der unbequemen Stühle zu teuer..

Die Inszenierung erinnerte an ein Kinder- oder Jugendtheater: Übertriebene Gestik, übertriebene Sprache, Kalauer, Kostüme wie aus Komödien. Man fragt sich, was eigentlich bei solch einer Inszenierung vom Gehalt eines Textes übrigbleibt, der nicht als Theaterstück konzipiert ist und dessen dunkle (oder von mir aus tragische) Folie sich beim Lesen nur auf den zweiten (oder dritten) Blick erschließt. Woher kommt es, dass die Erzählung heute noch lesenswert ist, und: War die Inszenierung in der Lage, diese Folie zu vermitteln? Durch die ganz erhebliche Kürzung des Textes war es für Zuschauer unumgänglich, den Originaltext zu kennen, und besser wäre es gewesen, ihn kurz vorher gelesen zu haben - leider lag meine letzte Lektüre doch schon über ein Jahr zurück. Von daher - vielleicht selbstverschuldet - konnte ich dem Stück nicht viel abgewinnen (außer einigen amüsanten Szenen), andererseits sollte ein Theaterstück nicht zu referentiell sein, sondern auch für sich selber sprechen - und da haperte es sehr. Nun ja, man hat schon schlimmeres ansehen müssen.

[Ende Juni, Anfang Juli 2004 Immer weiter mit dem Graß in der Uni-Bibliothek (02.07.2004) und dem Literaturmagazin über Moníková (28./29./30.06.04).]

Gutenberg - Das Literaturarchiv - Edition 7

(02.07.2004) Die CD ist heute gekommen, und nach der Installation (eigentlich dem Entzippen von 70000 Dateien, was meinen Rechner 45 Minuten am Rödeln hielt) stundenlang begeistert dies und das angelesen und geschmökert. Tolle Sache. Im Unterschied zur eigenen Oberfläche der Studienbibliothek "Deutsche Literatur" aus der Digitalen Bibliothek ist die Gutenberg-CD mit Browser zu lesen (zum Glück kann man die css-Files nach eigenem Geschmack ummodeln). Schön ist, dass sich die Inhalte der beiden CDs doch ordentlich unterscheiden (mir unbegreiflich, dass bei der Digitalen Bibliothek Stifters "Witiko" fehlt), und auf der Gutenberg-CD auch viele Übersetzungen von Werken der Weltliteratur enthalten sind (Shakespeare!, Dante!, Boccaccio!,...) und auch Werke von Philosophen (Hegel, Kant, Nietzsche, ...) oder Kulturhistorikern (Burckhardt!) mit aufgenommen sind. Die 25,96 Euro sind für das gebotene ein Kleckerles-Betrag. Das Gutenberg-Projekt ist eine ganz hervorragende Sache!

Barbara Borg - "Der zierlichste Anblick der Welt...". Ägyptische Porträtmumien

(04.07.2004) Den Band habe ich am 25.10.03 gekauft, im Januar bis auf das letzte Kapitel gelesen, dann lange verliehen, und nun fertiggelesen. Ein wunderschönes Buch aus dem Verlag Philipp von Zabern, der für seine im besten Sinne populärwissenschaftlichen Bände zur Archäologie und Kunstgeschichte berühmt ist. Geschrieben von einer der besten Kennerinnen des Themas, mit einem Anmerkungsapparat, der auch hohen Ansprüchen genügt, vermittelt dieses Buch einen umfassenden Einblick in die Entdeckungsgeschichte der Porträtmumien, befreit sie souverän aus ihrer musealen Vereinzelung (einer Gefahr, die nur zu nahe liegt), und bettet sie in den sozialen und religiösen Hintergrund ihrer Zeit ein. Die dargestellten Personen werden als Angehörige einer bestimmten Schicht identifiziert und die Bildanalysen mit schriftlichen Nachrichten der Zeit verbunden. Zitat vom Klappentext: "So entsteht eine versuchsweise Charakterisierung der Auftraggeber der Porträtmumien, ihres Status und ihrer sakralen Riten, ihrer sozialen, kulturellen und religiösen Identität, sowie der speziellen Funktion der Porträtmumien in der kulturellen Praxis dieser Gesellschaftsschicht des kaiserzeitlichen Ägypten." Das ist nicht zuviel versprochen. Man müßte noch ergänzen, dass selbstverständlich auch die historische Dimension behandelt wird, sprich: die Veränderungen in Stil und im Kultus.

Ich habe den Band sehr oft zur Hand genommen und die faszinierenden Bilder betrachtet. Mir ging dabei immer durch den Kopf, dass diese Porträts teils über 1200 Jahre vor der Frührenaissance geschaffen wurden und für meinen Geschmack vieles aus dieser Zeit in den Schatten stellen. Schade, dass mit dem Ende des Römischen Reiches derart viel an künstlerischen Können (und im Fall der Mumienporträts muß man sich vor Augen halten, dass es sich sogar nur um Handwerker gehandelt hat) untergegangen ist.

Überraschend und fast beschämend ist es, dass man ohne Hintergrundswissen oft nicht in der Lage ist, das Geschlecht von porträtierten Kindern oder Jugendlichen zu bestimmen: Einige Bildnisse, bei denen ich sicher war, dass es sich um Mädchen handelt, stellten sich als kultisch geschmückte Jungs heraus - und umgekehrt.

Dass die Porträtähnlichkeit letztlich gar nicht zu verifizieren ist und die suggestive Kraft dieser Abbildungen oft nur durch die ungemein ausdrucksstarken Augen zustande kommt, diese und andere Gesichtsdetails aber durchaus formelhaft verwendet sind und von den ausführenden Handwerkern oft wie aus dem Baukasten zusammengesetzt werden - das mag alles sein, und Barbara Borg zeigt überzeugende Verwandschaften zwischen verschiedenen Bildnissen der gleichen Fundstelle auf, sie schmälern aber nicht den Eindruck, den diese Porträts machen.

Porträtmumie

Das hier gezeigte Porträt eines jungen Mannes (Abb. 94) sieht derart lebendig aus, dass man versucht ist, eine Charakteristik des Porträtierten zu erstellen. Gleichzeitig wirkt die Kombination von Gesichtsausdruck, Haltung, Stil und (!) Erhaltungszustand (das Löchrige des Hintergrunds, die Risse, die wie gewollte kryptische Zeichen aussehen) so modern, dass es sich um ein Illustration aus dem "Rolling Stone" von irgendeinem blasierten Popstar handeln könnte.

Carl Gotthard Graß - Sizilische Reise

(08.07.2004) Heute abend wieder weiter mit Carl Gotthard Graß in der Uni-Bibliothek. Leider läßt eine aufoktroyierte 50-Stunden-Arbeitswoche immer weniger Zeit für Lektüre und andere schöne Sachen und auch Samstags ist es in den nächsten Wochen nicht mehr möglich, innerhalb der Öffnungszeiten in den Lesebereich der UB zu kommen. Die Luft in der Arbeitswelt wird immer rauher...

Brigitte Reimann "Das grüne Licht der Steppen"

(16.07.2004) Schon am 22.05.03 gekauft, immer mal wieder reingeschmökert, aber erst jetzt durchgelesen.

Brigitte Reimann bekommt am 3.7.1964 einen Anruf, dass sie mit einer Delegation des Zentralrats der FDJ am 7.7. mit nach Sibirien fliegen könnte - denkbar kurzfristig also. Sie sagt zu und wird von einem "Kurt" [Kurt Turba] (s.u.) überzeugt, das als Chance zu sehen.

Reiseroute: Flug von Berlin nach Moskau am 7.7.64, anschließend nach Zelinograd, dann nach Nowosibirsk, Irkutsk und Bratsk. Rückkehr mit Flug von Moskau nach Berlin am 21.7.64.

Die Delegation bekommt die Sonnenseite der ehemaligen Sowjetunion zu sehen: Lauter hochmotivierte Bauern, Studenten, Wissenschaftler. Die vorgeführte Kolchose ist offenbar ein Vorzeigeunternehmen, die Studenten arbeiten aufopferungsvoll in ihren Ferien zusammen mit Arbeitern und Bauern am Aufbau des Landes, die Erzählungen der Ingenieure über den Staudammbau haben gar den Charakter von nationalen "Heldentaten". Alles wird besser werden, die Zukunft gehört der Arbeiterklasse, schließlich steht das ja in irgendwelchen Büchern von L. oder M. & E. - aber wie sieht es in der Realität aus?

Der Band beschreibt die Reise aus zwei unterschiedlichen Perspektiven: Einmal in einer Redaktion der Tagebücher, die Brigitte Reimann für Zeitungen verfaßte, woraus später ein Buch entstand ("Das grüne Licht der Steppen", erschienen 1965), und zum anderen (als interessante Ergänzung) aus der Perspektive privater Notate, die nicht für die Veröffentlichung bestimmt waren, und deswegen vieles sehr kritisch darstellen, zum Beispiel die Teilnehmer der Delegation:

"Sie sind beschränkt und ordinär und verlieren jede Würde, wenn sie trinken. Sie machen aus jedem Fest einen deutschen Bierabend, reißen Zoten und singen dumme Lieder. Und sowas ist im Zentralrat!"(S.167)

Üble Nachrede der so Beschriebenen treibt Brigitte Reimann dann in Heulkrämpfe.

Sie formuliert eine deutliche Kritik an den Zuständen in der UdSSR bis hin zur Demontage des neuen Menschenideals. Noch ein Zitat:

Ich unterhalte mich mit Kurt [Turba] viel über die Arbeitsproduktivität, die sehr niedrig zu sein scheint. Wir erfahren zwar immer von Enthusiasmus und Heldentaten, aber, um es hart zu sagen: man sieht wenige Leute arbeiten. In Z. sitzen sie auf der Straße, unterhalten sich, machen "Pause", und aus den Berichten der Komsomolzen in den Kolchosen hatten wir den Eindruck, daß eine wissenschaftlich fundierte Arbeit durch Kampagnen erzeugt wird.
Mir wird noch schwach, wenn ich an die neuen Häuser in Zelinograd denke: häßliche, starre Kasernen. Dagegen ist Hoyerswerda ein Paradies.(S.155ff)

Die Delegation besucht auch das Akademikerstädtchen in Nowosibirsk, was zu interessanten Vergleichen mit der Beschreibung dieses ganz besonderen Städtchens durch Libuse Moníková in der "Fassade" anregt. Die wesentlichen Aussagen decken sich. In beiden Texten ist übrigens auch Irkutsk Teil der Handlung.

Reimann, Steppen
Brigitte Reimann "Das grüne Licht der Steppen"

Das Buch hätte eine Einführung vertragen, in der etwas mehr zum Umfeld und zum Personal der Delegation erklärt worden wäre (wer ist der nur mit dem Vornamen genannte "Kurt", woher kennen sich Brigitte Reimann und er?). Was ist die Vorgeschichte der Reise - der Anruf kam doch sicherlich nicht ganz unerwartet? Das ist mir an Taschenbüchern des AtV oft unangenehm aufgestoßen: Im Verhältnis zum nicht unerheblichen Preis ist die Aufmachung schlicht ungenügend. Die redaktionelle Aufarbeitung historischer Texte (und dieses Sibirientagebuch ist ein historischer Text) braucht immer eine Einführung, und ein Namensregister bzw Namensauflösungen gehören zu privaten Dokumenten, die auch als Zeitdokument gelesen werden wollen, unbedingt dazu. Wer soll denn in 50 Jahren ermitteln, wer "Kurt" war! Dieses AtV-Taschenbuch hat aber nicht einmal ein Inhaltsverzeichnis...

Na, bei aller Quengelei: Es ist ein schönes Buch, was mir Appetit auf mehr von Brigitte Reimann gemacht hat.

Mary J. Ruwart - Healing Our World: The Other Piece of the Puzzle

(25.07.2004) Ich mag "das andere Amerika". Das normale Amerika war und ist aber auch schon nicht schlecht: In den sechziger oder siebziger Jahren in Heidelberg aufzuwachsen bedeutete, mit Amerikanern zu leben (sicherlich waren 5% oder mehr der Heidelberger Bevölkerung zu dieser Zeit amerikanische Militär- und Zivilbedienstete). Auch wenn es immer "die reichen Nachbarn" waren - es waren Nachbarn. Für einen Jungen wie mich damals konnte es bedeuten, gemeinsam mit anderen Kindern der Nachbarschaft Spaziergänge nach "Klein-Amerika" zu machen, die dortigen Rasenflächen und Spielplätze nach vergessenen Spielzeug abzusuchen, und bereichert nach Hause zu gehen. Wir nahmen niemanden etwas, wir fanden nur etwas. Die einen hatten zuviel und kümmerten sich um ihren Überfluß nicht, wir hatten wenig und schätzten das, was die anderen wohl noch nicht einmal vermissten. Klar hörte man nicht nur "Radio Luxemburg" als Jugendlicher, sondern auch AFN. Über Bekannte mit amerikanischer Verwandschaft oder eigene amerikanische Freunde konnte man günstig an LPs kommen, die in deutschen Läden zu teuer für kleines Taschengeld waren.

Ich hatte als Jugendlicher lange schon eine Lesekarte der Bibliothek des "Deutsch-Amerikanischen-Instituts", bevor ich einen Ausweis unserer Stadtbücherei hatte - und keine Anti-Amerika-Demonstrationen der 70er-Jahre konnten mich dazu bewegen, das "Amerika-Haus" als Hort des Bösen und der bösen Macht zu sehen. Klar also, dass man nie "die Amerikaner" unter einem Kamm schor: dafür kannte man zu viele, dafür war die erlebte Vielfalt zu groß.

So ist es gar nicht seltsam, dass ich oft lieber amerikanische Texte zu persönlichen, individuellen und sozialen Themen lese als deutsche Texte: Vieles murkelige fehlt, und die amerikanische geistesgeschichtliche Tradition speist sich sicherlich aus mehr und unterschiedlicheren Quellen als zum Beispiel die deutsche Tradition. Und eine qualitativ gleichwertige deutschsprachige Zusammenstellung aktueller Zeitungs- und Zeitschriftenartikel sowie online verfügbarer Essays, wie es das phantastische und vielseitige "Arts and Letters Daily" bietet, kenne ich nicht. So könnte man das elektronisch verfügbare Buch von Mary J. Ruwart, das ich gerade lese, durchaus als eine modernisierte Variante von Max Stirners "Der Einzige und sein Eigentum" sehen. Die Sprachbarriere (man muß halt doch immer mal wieder ein Wort nachschlagen, was aber dank QuicDic - wenn man schon am Bildschirm liest - ein Kinderspiel ist) macht die Lektüre intensiver, weil man nicht so schnell die Zeilen entlanghuscht, wie man das bei einem deutschen Text machen würde. Wenn man willens ist, sich von einem Text anregen, aufregen und umkrempeln zu lassen, kann man ruhig etwas Arbeit in die Lektüre stecken, auch wenn man nicht allen Analysen und Folgerungen zustimmen will oder kann.

Carl Gotthard Graß - Sizilische Reise

(30.07.2004) Nach fast drei Wochen mal wieder in der Uni-Bibliothek und Carl Gotthard Graß weitergelesen (in brütender Hitze, wie man auf der Abbildung leider kaum ahnen kann). Zum Glück wurde diese Fernleihe großzügig um weitere sechs Wochen verlängert. Überstundenpflicht und angeordnete Samstagsarbeit lassen die verfügbare Zeit für Bibliotheksbesuche trotz Öffnungszeiten bis 22 Uhr sehr knapp werden. Zum Graß selber: Es gibt interessantere Reisebeschreibungen, und auch zu jener Zeit Autoren, die etwas weniger verklemmt sich und die anderen Menschen beobachten und beschreiben. Aber jetzt habe ich das Ding halt angefangen und lese es auch fertig. Immerhin ergeben diese beiden Bände ein weiteres Mosaiksteinchen zum Verständnis von Menschen und Künstlern am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Seit Wochen zerbreche ich mir schon den Kopf, wie ich die 26 Abbildungen digitalisieren soll. Zum einen sind sie unschön mehrfach gefaltet (vgl. die Abb. zum 5.6.04), zum anderen ist Fotokopieren verboten (diese hätte ich dann zuhause scannen können). Eine denkbare Lösung wäre ein sehr flacher billiger Scanner, der zusätzlich zum Notebook mit in den Lesebereich genommen werden kann. Mal schauen.

Unibibliothek, Grass-Lektüre
Fleißig bei der Lektüre...

Einige Aufsätze von Norman Lebrecht

(30.07.2004) Wer ist Norman Lebrecht?

"Norman Lebrecht is a prolific writer on music and cultural affairs, whose weekly column has been called 'required reading for anyone interested in classical music.' His books have been translated into 10 languages and topped the amazon.com best-seller music charts."

Von den sieben gelesenen Aufsätzen (von rund zweihundert!) haben mir folgende am besten gefallen:

Norman Lebrecht - "Sony Walkman - Music to whose ears?" Der Walkman als Todesstoß für die Musik?

"The day the Walkman landed was the day the music began to die."

Ein interessanter Beitrag, durchaus nachvollziehbar. Obwohl ich drei Walkman und zwei Discman habe, konnte ich mich nie damit anfreunden, unterwegs Musik zu hören - die Umwelt war mir doch immer wichtiger - und für was brauche ich die Geräte dann wohl :-)

Norman Lebrecht - "Why I'm sick of Mozart" Amüsant seine ernstgemeinte Abrechnung mit Mozart:

"Beethoven knew how to provide context where Mozart merely poured forth melodies. Mozart is the dividing line - the litmus test, if you like - between music lovers and those who merely like a good tune. He is a gift to the jingle writer, a menace to the serious musician. A world without Beethoven would be much poorer than one without Mozart."

Noch ein Zitat daraus:

"To get the best out of Mozart, he must be protected from compendium festivals and the boxed-set mentality that helped wreck the classicalrecord industry with indiscriminate compilations. He is, in my experience, a definable health risk. Too much Mozart makes you short-tempered."

Der Ausdruck "boxed-set mentality" gefällt mir. Das Lebrecht am Ende seines Beitrags umfällt - das macht den Reiz beim Lesen aus...

Norman Lebrecht - "Why We're Still Afraid of Schoenberg" Der Beitrag zu Schönberg erinnert mich an meine nun über dreissigjährige Mühe mit diesem Komponisten. Anfang der siebziger Jahre war Schönberg-Musik für mich ein sicheres Mittel, Kopfschmerzen zu bekommen. 1973 wurde mir (leider) Adorno auf lange Zeit verhasst (mit den "Minima Moralia" hat er mich aber wieder gewonnen), weil er in "Philosophie der neuen Musik" zu meinem großen Ärger die Partei von Schönberg gegen meinen damaligen Heroen Strawinsky ergriff. In den achtziger Jahren habe ich allerdings eine Jazz-Adaption der "Verklärten Nacht" von Philip Catherine, Charlie Mariano und Jasper van't Hof sicherlich mehrere Dutzendmal gehört. Lebrechts begeisterte Abhandlung über Schönberg macht Lust auf einen erneuten Versuch.

Mehrere der Aufsätze befassen sich mit den ätzenden Folgen der PC (Political Correctness), inbesondere für die Künste, beispielsweise: PC in the Arts.

Louise Brooks

(31.07.2004) Beim nicht gerade literarischen Thema "schöne aufregende Frau im engen kurzen Kleid, darunter nackt" fällt mir sofort die unvergeßliche Louise Brooks ein, die viel zu sehr nur mit ihrer Rolle als Lulu identifiziert wird, aber laut einigen zeitgenössischen Stimmen jeden Film zum Meisterwerk erheben konnte. Louise Brooks ist Rollenmodell für einen ganzen Frauentyp geworden, selbst aber nie erreicht worden. Sie geistert durch Romane, Lieder, Comics, Filme, als Anspielung oder real, und kaum jemand dürfte ihr Gesicht nicht kennen, auch wenn er mit dem Namen nichts anzufangen weiß.

Louise Brooks

Zuerst begegnet ist mir Louise Brooks in einem Beitrag der legendären Zeitschrift "Transatlantik" irgendwann Anfang oder Mitte der achtziger Jahre (der mir allerdings nicht vorliegt). Vermutlich handelte es sich um eine Übersetzung von Kenneth Tynan's Aufsatz "The Girl in the Black Helmet" (1979), denn ich meine, dass der Transatlantik-Aufsatz "Das Mädchen mit dem schwarzen Helm" hieß.

Mein geliebter Hugo Pratt läßt Louise Brooks unter dem Namen "Louise Brookszowyc" in "Corto Maltese. Venezianische Legende" auftreten. In "Argentinischer Tango" steht Corto Maltese am Grab der Louise Brookszowyc, nachdem er sie vorher gründlich gerächt hat. Ein Porträt-Aquarell von Louise Brooks durch Hugo Pratt findet man sowohl in der "Venezianischen Legende" als auch im raren Bildband "Les femmes de Corto Maltese", den zu besitzen ich mich täglich beglückwünsche. Als e-card findet man dieses Aquarell (leicht beschnitten) auf der Webseite des Casterman-Verlages, und zwar hier (muß aber suchen).

Aus Anlaß der Assoziationskette :-) "schöne aufregende Frau im engen kurzen Kleid, darunter nackt" habe ich Louises Aufsatz "Pabst und Lulu" aus "Lulu in Berlin und Hollywood" wiedergelesen (der die beeindruckenden schriftstellerischen Fähigkeiten von Louise Brooks demonstriert), vor allem natürlich wegen der Regieanweisung (eher einem Befehl) von Pabst, dass Louise in einer bestimmten Szene unter ihrem Morgenmantel nackt zu sein habe, um ihren Drehpartner mit den richtigen Gefühlen zu füttern...

In andere Beiträge habe ich nochmal reingeblättert, auch in mein zweites Buch, in dem Louise Brooks vorkommt ("Rebellin in Hollywood"), wie nicht anders zu erwarten auch auf dem Titelblatt.

Die wichtigste Webseite zu Louise Brooks ist die oben schon verlinkte Webseite der Louise Brooks Society. Ein ellenlanger Aufsatz "Revues and other Vanities: The Commodification of Fantasy in the 1920s" setzt Louise Brooks in den Kontext ihrer Zeit und deren Vergnügungsindustrie; beim Diagonallesen erschien er mir so interessant, dass ich ihn abgespeichert habe. Eine Schönheit wie Louise erscheint natürlich auch auf Dutzenden von Buchtiteln....

Das schönste ist eine "schöne aufregende Frau im engen kurzen Kleid, darunter nackt" in natura, danach kommt schon Louise Brooks...

Louise Brooks - "Lulu in Berlin und Hollywood"

(12.08.2004) Weil ich wieder auf den Geschmack gekommen bin und Louise Brooks gar zu interessant schreibt habe ich weitere Kapitel aus "Lulu in Berlin und Hollywood" gelesen (siehe 31.07.2004).

Andreas Eschbach - diverse Texte

(12.08.2004) Ich habe zwar noch kein Buch von Andreas Eschbach gelesen, aber einem Link in de.rec.buecher bin ich gefolgt und habe mit großem Interesse alle seine Artikel "über das Schreiben" gelesen: Hat immerhin zwei Tage gedauert. Vieles hat gar nicht soviel mit "Schreiben" zu tun, eher mit allgemeiner Arbeitstechnik, Zeitmanagement, Klarheit über eigene Ziele und so weiter. Kommt selten vor, aber ich habe mir mal seine ganze Webseite heruntergeladen.

Carl Gotthard Graß - Sizilische Reise

(13.08.2004) Voller Eifer in die Uni-Bibliothek gefahren, Notebook mit frisch geladenen Akku, um endlich den Carl Gotthard Graß fertigzulesen - und dann war die Fernleihe schon abgeräumt. Riesen Enttäuschung. Auch eine der kleinen privaten Widrigkeiten, die man hinnehmen muß, wenn man zu Überstunden und Samstagsarbeit verdonnert ist: Man kann nicht oft genug in die Bibliothek, bei mir waren es ja auch fast wieder zwei Wochen seit dem letzten mal.

Tom Hodgkinson - "How To Be Idle"

(15.08.2004) Was liest man am ersten "langen" Wochenende (Samstag und Sonntag frei) nach fünf Wochen @&%$?!@ in Form von Überstunden und Sechs-Tage-Wochen? Am besten diesen Vorabdruck eines Buches über Faulheit und Träume: "How To Be Idle" von Tom Hodgkinson, to be published by Hamish Hamilton, 2004. Die Quintessenz lautet:

"The art of living is the art of bringing dreams and reality together. I have a dream. It is called love, anarchy, freedom. It is called being idle."

Und dem hab' ich nichts hinzuzufügen. Hodgkinson schreibt herrlich über Spätaufsteher:

"Late rising is for the independent of mind, the individual who refuses to become a slave to work, money, ambition."

Über das Dösen im Bett:

"The lie-in - by which I mean lying in bed awake - is not a selfish indulgence but an essential tool for any student of the art of living."

Über den Wert von Krankheiten:

"Being ill - nothing life-threatening, of course - should be welcomed as a pleasure in adult life, too, as a holiday from responsibility and burden. Indeed, it may be one of the few legitimate ways left to be idle. When ill, you can avoid those irksome tasks that make living such hard work. (...) When ill, you are the master. You do what you like. You can play your old Clash albums. Stare out of the window. Laugh inwardly at the sufferings of your co-workers."

Über "idle sex":

"In the modern west we like to congratulate ourselves on having a more open-minded attitude to sex. But sex, like so many other pleasures, has been caught up in the striving ethic. It has become hard work; something we have to "perform" at; a competitive sport. (...) But the question remains: what is idle sex? With what shall we substitute the modern ideal of athletic power-shagging? (...) Sex for idlers should be messy, drunken, bawdy, lazy. It should be wicked, wanton and lewd, dirty to the point where it is embarrassing to look at one another in the morning. And idle sex should be languid. (...) A part of me would like simply to toy with my mistress for days on end under the lotus tree or on an enormous pile of velvet cushions, while smoking, drinking and laughing. (...) People criticise drunken sex but in my experience it tends to be better than sober sex. Drink and drugs improve sex by removing all the performance anxiety and guilt and concern about having a crap body, as well as certain, ahem, inhibitions."

Und über Träume und Traumwelten:

"The trick, indeed the duty, of every serious idler is to harmonise dreamworld and dayworld."

Und nochmal, weil's so schön war:

"The art of living is the art of bringing dreams and reality together. I have a dream. It is called love, anarchy, freedom. It is called being idle."

Vidia Naipaul, interviewt von Tim Adams

(15.09.2004) Interessante Passagen aus einem längeren Interview mit Sir Vidia Naipaul von Tim Adams.

Über die Bedeutung einer gelebten und erfüllten Sinnlichkeit (Naipaul ist 72; "only recently", es ist also nie zu spät!):

"Moreover, a man who is not sensually fulfilled is an imperfect man; when that fulfilment comes, a man becomes more complete and that can help the writer."

Naipaul, who was in a passionless marriage for much of his life, has found something like that fulfilment only recently. After his first wife died, he married Nadira, a journalist, who he first met when she came over to him at a party and kissed him on the lips.

Über den Einfluß eines Haustiers, hier einer zufällig angeschleppten Katze:

"Nadira brought the cat to the house. I think it was an act of idleness, really. But once a creature comes into your life, you have to look after it. It came as a tiny little kitten, terrified, and as soon as I held him he calmed down. I could not abandon him after that."

Nadira suggests that the cat has been a focus for the Nobel laureate's latent paternal qualities. So fond of him is he, she confides, typically, that he has changed his will. "No longer will the royalties go to the society of authors but to an animal home in India I will set up when he is gone!"

Nett: Wegen dieser Katze ändert der Nobelpreisträger sein Testament und vermacht sein Erbe nicht an irgendeine Autorengemeinschaft, sondern an ein zu errichtendes Tierheim in Indien.

Wichtige Erziehungstipps (herrlich, dieses "bam! Out! Move on!"):

(Nadira:) "He has got a daughter now! He has legally adopted my 25-year-old. And he is a brilliant father. He impresses on her above all that she is free. That she need not get married, that if she is bored in a relationship, bam! Out! Move on! It horrifies my family. She loves it."

Kinderlosigkeit:

"No regret at not having children of my own. In fact, I would say it is a constant cause for celebration for me. [...] Listen, I grew up with this mass of children around me and babies. And I made a vow never to have anything to do with it."

Scientific Method Man - Gordon Rugg cracked the 400-year-old mystery of the Voynich manuscript

(17.09.2004) Die Spezialisierung in den Wissenschaften wird zwar oft kritisiert, von der Organisation des akademischen Lebens aber geradezu produziert: Tritt jemand mit dem Anspruch auf, in - beispielsweise - Philosophie, Physik und Kunst ein As zu sein, hat er auf der akademischen Karriereleiter kaum Chancen - abgesehen davon, dass es keinen Lehrstuhl gibt, auf dem er alle seine Kenntnisse anbringen könnte. Die Lösung des Rätsels um das Voynich-Manuskript macht aber Hoffnung, dass auch wieder die Universalgelehrten zu ihrem Recht kommen.

Die Geschichte um Gordon Rugg und das Voynich-Manuskript ist spannend und lesenswert. Man muß sich vor Augen halten, dass Gordon Rugg "eigentlich" eine neue wissenschaftliche Methode entwickelte: Die Auflösung des Rätsels um das 1912 aufgefundene Manuskript aus dem 16.Jahrhundert war von Rugg von vornherein als Demonstration seiner neuen Methode, des "verifier approach", gedacht. In drei Monaten hatte er einen Fall gelöst, den zahllose Fachleute, Hobby-Forscher, aber auch die Profi Code-Knacker der US Armee nicht lösen konnten. Was ist dieser "verifier approach"? Knapp zusammengefaßt besteht er aus 7 Punkten:

  1. amass knowledge of a discipline through interviews and reading;
  2. determine whether critical expertise has yet to be applied in the field;
  3. look for bias and mistakenly held assumptions in the research;
  4. analyze jargon to uncover differing definitions of key terms;
  5. check for classic mistakes using human-error tools;
  6. follow the errors as they ripple through underlying assumptions;
  7. suggest new avenues for research that emerge from steps one through six.

Hm, so besonders neu klingt das ja nicht, mir kommt diese Vorgehensweise geradezu klassisch vor. Aber na gut.

In drei Monaten in ein unbekanntes Problemgebiet einzudringen und die Lösung (wenn es denn stimmt) für ein über 90 jähriges Rätsel zu finden: Eine gelungene Generalprobe für die (neue) Methode. Man darf hoffen, dass Rugg mit seinem nächsten Ziel: Das Rätsel um die Alzheimer-Erkrankung zu lösen, ebenso erfolgreich ist. {2016: War wohl nichts).

Friedhelm Rathjen - James Joyce (rowohlts monographien)

(18./19.09.2004) Als ich vor gut zehn Jahren "Ulysses" von James Joyce zum erstenmal las, war ich unvorbereitet und konnte folglich den Text nicht angemessen genießen. Erst anschließend besorgte ich mir etwas Sekundärliteratur - nur um festzustellen, dass mindestens eine weitere Lektüre folgen müßte. Allmählich ist es soweit, der dicke aber schicke Suhrkamp-Band steht auffordernd im Regal, und gerade zur rechten Zeit ist die Neuauflage der Rowohlt Monographie zu James Joyce erschienen, diesmal nicht von J.Paris, sondern von Friedhelm Rathjen. Während mich die Paris-Biographie recht kalt ließ, hat mir die kürzlich erschienene Neuausgabe gut gefallen und noch mehr Lust auf die Ulysses-Lektüre gemacht. Inhaltlich war wohl Paris etwas umfangreicher, aber der bessere Schreiber ist Rathjen allemal.

Einige Lektüre-Notizen:

[Zürich als Zentrum revolutionärer und künstlerischer Entwicklungen im Ersten Weltkrieg:] Joyce scheint von alledem keine Notiz genommen zu haben. (...) Die Zeiten, da er für den Sozialismus schwärmte, sind vorbei, und von Künstlergruppen hält er sich grundsätzlich fern: Joyce schafft als Einzelgänger seine eigene Moderne, die eher auf Entwicklungen der Populärkultur gegründet ist als auf Tendenzen der zeitgenössischen Avantgarde. (S.75)

[Stephen Dedalus in der Auftaktepisode des Ulysses:] "Aber ich, ich bin kein Held" (Rathjen: S.87, Ulysses: S.9)

"Beide Hauptfiguren [Stephen Dedalus und Leopold Bloom] gehen ohne Schlüssel aus dem Haus, und beide spielen sie mit dem Gedanken, ihre Existenz abzuschütteln [...]" (S.91)

"Bloom [...] bleibt auch deshalb Außenseiter in der auf chauvinistische Männerkumpanei gegründeten Dubliner Gesellschaft: Wie die Grenzen ethnischer und konfessioneller Zugehörigkeit werden auch diejenigen der geschlechtlichen Identität durch ihn in Frage gestellt, Selbstgewißheiten in Ungewissheit überführt." (S.104)

Ernst Jünger - Siebzig verweht I

(22.09.2004) Das ist sage und schreibe mein vierter Lektüreversuch mit diesem Buch. Weiter als bis etwa Seite 150 bin ich allerdings bisher nie gekommen: Zu zwiespältig empfand ich gegenüber den Menschen Ernst Jünger, zu stark nahm mich die Kafka-Lektüre in den letzten Jahren gefangen (können Tagebücher konträrer sein als die von Ernst Jünger und Franz Kafka?). In den letzten Tagen aber täglich rund zwanzig Seiten Jünger gelesen - nicht viel, aber es reicht. Das Buch bringt Notate zu Spaziergängen, zum Verkehr mit Jüngers Katzen, zum Garten, zur Lektüre, zur Korrespondenz mit vielen Berühmtheiten, bringt Erinnerungen, erzählt Träume und Gesprächsnotizen, und natürlich jede Menge Notizen und Anmerkungen. Alles gestaltet, bearbeitet. Es wird nicht gesprochen über Geld, Ehe und Sexualität, überhaupt alles so richtig persönlich-interessante: Kein Wunder, schließlich sind diese Bände ("Siebzig verweht" umfaßt insgesamt sechs Bände) darauf berechnet gewesen, noch zu Lebzeiten Jüngers (und der meisten beschriebenen Personen) herauszukommen. Das Buch hat was, das muß ich schon zugeben, nicht ohne Grund fange ich immer mal wieder mit der Lektüre an. "Siebzig verweht I" umfaßt den Zeitraum 30.03.1965 (dem Tag nach Jüngers 70. Geburtstag) bis 12.12.1970.

Jünger, 70 verweht
Ernst Jünger - Siebzig verweht I

Arno Schmidt - Typoskripte

(26.09.2004) Nur ein Viertelstündchen begeistertes Erzählen hat es gebraucht, und mein Zimmerboden war übersät mit großformatigen Typoskripten Arno Schmidts: Zettels Traum, Abend mit Goldrand, Schule der Atheisten, Julia - die große Liebe hat gestaunt, mit was sich Männer beschäftigen. Beim Blättern jahrealte eigene Lektüreanmerkungen, Kommentare und Anstreichungen zu finden hat immer etwas eigenes, und in dieser Stimmung bekam ich Lust, mich wieder etwas mehr mit Arno Schmidt zu beschäftigen - schließlich habe ich Zettels Traum noch nicht ausgelesen. Zunächst aber mal von einem in "Abend mit Goldrand" liegenden Papier einige Zitate abgetippt, die mir bei meiner ersten Lektüre gut gefallen haben. Und zu Zettels Traum habe ich tatsächlich noch meine Seitenzusammenfassungen bis Seite 186 gefunden: abgetippt und auf meine Webseite gestellt hatte ich vor ein paar Jahren nur meine Notizen zu den ersten 104 Seiten. Auch hier habe ich erst noch etwas zu tun.

Fouquet - Madonna mit Engeln / Ernst Jünger - Siebzig verweht I

(03.10.2004) Jünger in den letzten Tagen weitergelesen. Inzwischen (Abfahrt aus Stuttgart am 10.06.1965, Abfahrt aus Hamburg am 13.06., in Antwerpen am 20.06., in Genua 27.06.) befindet sich Jünger mit seiner Frau auf einer Schiffsreise nach Asien, mein aktueller Stand ist Seite 52, das Schiff liegt gerade im Hafen von Genua. Aus persönlichen Gründen interessant fand ich Jüngers Beschreibung des Aufenthalts in Antwerpen und ein langes Zitat aus einem Brief, welchen er in Genua erhielt. In Antwerpen beschreibt Jünger seinen Eindruck von Jean Fouquet "Madonna mit Engeln", dem rechten Flügel des Melun-Diptychons (der linke Flügel befindet sich in Berlin und stellt den Auftraggeber Étienne Chevalier mit dem heiligen Stephan dar).

Fouquet
Jean Fouquet "Madonna mit Engeln"

Das Melun-Diptychon war das erste Gemälde, mit welchem ich zu Beginn meines Kunstgeschichtsstudiums 1974 konfrontiert war - damals den Kopf voller Dalí, de Chirico und Alberto Savinio. "Konfrontiert" ist der richtige Ausdruck, da immerhin zwei Welten, zwei Zeitalter in meinem Kopf zusammenstießen. Nicht, dass mich das Bild unbeeindruckt gelassen hat: es gehört in meinen Privatkanon der 100 packendsten Gemälde. Aber damals wäre ich nie freiwillig auf die Idee gekommen, einen Bildband zur Kunst des 15. Jahrhunderts durchzublättern. Von heute aus gesehen vermute ich, dass Fouquets Bild noch berühmt sein wird, wenn man mein damaliges Dreigestirn Dalí, de Chirico und Alberto Savinio schon vergessen haben wird.

Was notiert Jünger in Antwerpen?

"Im Original sah ich hier zum ersten Mal ein Bild, das mir schon in den Reproduktionen mißfallen hat: Fouquets "Maria mit den Engeln und dem Kinde". Daran stört nicht der Manierismus, sondern der Widerspruch des Motivs zur Dämonie der Darstellung mit den glühenden Engeln im Hintergrund. Das wirkt, als ob der Einfluß einer beglückenden und der einer erregenden Droge sich gemischt und im Bild kristallisiert hätten." (S.39)

Schade, dass Jünger nicht deutlicher wird: Was meint er mit der "Dämonie der Darstellung"? Stören ihn die von ihm als "glühend" beschriebenen Engel? Wo ist der Widerspruch zwischen "beglückend" und "erregend"? Welches davon trifft nach Jünger auf die Madonna zu, welches auf die Engel?

Richtig ist, dass rote (Seraphim = "Entflammer", "Erglüher", meist brennend rot dargestellt, und mit dieser Farbsymbolik auf die Liebe verweisend) und blaue (Cherubim, meist blau dargestellt und damit auf geistige Erkenntnis verweisend) Kinderengel dargestellt sind, und besonders im Vergleich zur linken Tafel, die "noch" im irdischen Bereich spielt, die phantastische Lichtbehandlung auffällt: Die irdische Tafel wird von außerhalb (vom Himmel) beleuchtet, die himmlische Tafel strahlt von innen heraus, ist das Licht. Keine Dämonie also, sondern eine Lichtsymbolik, dargestellt mit der technischen Meisterschaft von Fouquet, eines "all time great". In Genua erhält Jünger den Brief eines Brüsseler Bekannten (Henri Plard), den er nicht in Antwerpen treffen konnte. Und in diesem Brief wird lange über eben jenes Fouquet-Bild geschrieben - und Jünger zitiert diesen Brief ausführlich. Hier ein kleiner Ausschnitt daraus:

"... Das merkwürdigste Werk in Antwerpen dürfte wohl jene höchst zweideutige Madonna von Jehan Fouquet sein, mit der bloßen Brust, dem züchtig (?) gesenkten Blick und der Schar von roten und blauen Engeln hinter dem Thron. Das Modell war keine andere als Agnès Sorel, die 'dame de beauté' (sie besaß tatsächlich ein Schloß mit diesem Namen) und Geliebte Karls VII., die in Schillers 'Jungfrau von Orléans' ein denkwürdiges Gespräch mit Johanna führt: Weltkind und Kind des Himmels. (...) Die ganze vertrackte Allegorie und die Verquickung des Heiligen und des Weltlichen sind typisches 15. Jahrhundert - raffiniert und von Dekadenz angehaucht." (S.52)

Seltsam: Da ist Jünger in einer weltberühmten Bildersammlung, dem Koninklijk Museum voor Schone Kunsten (ohne dessen Namen zu erwähnen), und schreibt über ein Bild (ohne es zu beschreiben), welches ihm nicht gefällt. Und da erhält er Post nach Genua und zitiert ausführlich eine Briefstelle über dieses ihm nicht gefallende Bild. Große Kunst muß nicht gefallen (aber sie packt!), dass Fouquets Bild aber große Kunst ist - das hat Jünger wohl gespürt.

Die Verbindung zur Agnès Sorel wird dieses Gemälde wohl nicht wieder los werden - zu schön ist dieses Gerücht. Agnès Sorel, angeblich in der Zeit Fouquets die "schönste Frau Frankreichs", starb allerdings schon 1450, vor der Entstehung des Bildes, welches Étienne Chevalier für das Grabmal seiner 1452 verstorbenen Frau Katharine Budé malen ließ. Claude Schaefer, lange Zeit ein Vertreter der Agnès-Sorel-These, ist in seiner großen Monographie von 1994 (Jean Fouquet. An der Schwelle zur Renaissance (1994), S.115ff) davon abgekommen, auch wenn eine Ähnlichkeit der Madonna mit erhaltenen Porträts der Agnès Sorel unbestreitbar ist, und vermutet, dass die ebenfalls jung verstorbene Katharine Budé der Agnès Sorel ähnelte und dem Schönheitsideal jener Zeit sicher auch mehr als entsprochen hat. Das Grab von Agnès-Sorel wurde übrigens erst unlängst geöffnet, eine Rekonstruktion der Gesichtszüge anhand des gut erhaltenen Schädels soll im Gang sein, dito eine Untersuchung der Todesursache (man vermutet ein Giftattentat im Auftrag des Sohns von König Karl VII.). Schön, dass mir Jüngers Buch Anlaß gegeben hat, mich wieder etwas mit Fouquet zu beschäftigen...

Peter Bagge - "Real" "Art"

(09.10.2004) Müssen sich Comics "graphische Novellen" nennen, um als Kunst wahrgenommen zu werden? Heute hoffentlich nicht mehr. Muss ich mir in einem beliebigen Kunstverein in einer beliebigen 100000-Einwohner-Stadt einreden lassen, dass der zusammengekehrte Schrott "Kunst" ist und das, was erstklassige Sprayer unter manchen Brücken bieten, nicht? Zeichnern und Graphikern wie Hugo Pratt, Milo Manara und Möbius haben Leute wie Kirchner, Nolde, Schlichter, Macke - die ganze sogenannte klassische Moderne - wenig entgegenzuhalten: Weder vom gedanklichen Gehalt her noch von der technischen Umsetzung. Das Thema Moderne Kunst vs. Populäre Kultur ventiliert im Medium eines Comic der Zeichner Peter Bagge ("Real" "Art", vier Seiten, empfehlenswert). [2016: Link zum Comic nicht mehr gültig]

Michael Specter - "The Devastation"

(10.10.2004) Eine lange Reportage zur Lage Russlands, besonders des russischen Gesundheitswesens, und zur Bedeutung von Aids im sich abzeichnenden endgültigen Zusammenbruch einer ehemaligen Supermacht. Eine fesselnde Lektüre: The Devastation von Michael Specter ("Since 1965, life expectancy for Russian men has decreased by nearly six years. And now there is AIDS."). Eine ernüchternde Fortsetzung zum Reisebericht von Brigitte Reimann -- Rußland und Sibirien 40 Jahre später (vgl. meine Einträge zum 6.-16.07.2004).

Michele A. Berdy - "The Grass Is Greener. Reflections on Men and Crabgrass"

(12.10.2004) Als Ergänzung zum Eintrag vom 10.10.2004: Noch sollte man die Hoffnung für Rußland nicht aufgeben - könnte man als Fazit aus einem launigen Essay von Michele A. Berdy ("The Grass Is Greener. Reflections on Men and Crabgrass") ziehen: Sie vergleicht amerikanische und russische Männer, deren Beziehung zu Frauen und deren Gefühlshaushalt, und ihre Entscheidung, an welchen Tisch sie gehen würde, wenn in einer Halle sieben Amerikaner an einem Tisch und sieben Russen an einem anderen Tisch sich's mit gutem Essen und Trinken gutgehen lassen, scheint gut begründet zu sein.

Und die russische Raumfahrt ist überzeugend sicher...

Jens Soentgen - "Selbstdenken! 20 Praktiken der Philosophie."

(16.10.2004) Die gut sortierte Heidelberger Stadtbücherei zu besuchen und - neben den geplanten Recherchen - sich Zeit für zielloses Schmökern und dem spontanen Verfolgen von Assoziationen zu nehmen (Bibliotheken-Surfing) - das gehört für mich zum Größten. Mit fünf neuen Beutestücken als Ergänzung des heimischen Bücherstapels bin ich heimgekommen, obwohl aus der Höhe dieses Bücherstapels sowieso schon ein unrealistischer Optimismus auf verfügbare Lese-Zeit spricht.

Jens Soentgen "Selbstdenken! 20 Praktiken der Philosophie." aus dem Peter Hammer Verlag, 2003, ist das erste Buch, welches ich mir vornahm.

Die 20 Praktiken befassen sich mit Provozieren, dem Umgang mit (und die Unterscheidung von) Fakten, Zitaten und Wabuwabu, mit Indizien, Autoritäten, Sammeln, Logik und so weiter. Alles mit Hand und Fuß geschrieben, obwohl das Buch sich vom Ton und den Illustrationen her eher an Jugendliche zu wenden scheint. Aber das muß ja kein Widerspruch sein.

Ausschlaggebend für die Ausleihe waren zwei Passagen, die mich beim Anlesen in der Bibliothek amüsierten bzw traurig stimmten.

(Abbildung: Francis Bacon, Atelier)

Im Kapitel "Sammeln" wird der berühmte "Zettelkasten" von Niklas Luhmann vorgestellt (dessen Prinzip von Daniel Lüdecke in eine freie Software namens "Zettelkasten" (wie auch anders) umgesetzt worden ist). Nicht so interessant, den Luhmann'schen Zettelkasten kennt man ja, aber was ist mit denen, für die dieser Kasten nicht taugt? Für die empfiehlt Soentgen einen Blick auf die Francis-Bacon-Methode des Material-Sammelns, die er so rekonstruiert (S.111):

  1. Sammle alte Zeitungen, reiße einzelne Artikel oder Bilder heraus und wirf sie auf den Fußboden.
  2. Reiße einzelne interessante Seiten aus Büchern und Katalogen und wirf sie auf den Fußboden.
  3. Nimm Fotografien von Freunden oder von Dir selbst, auch Röntgenbilder, fasse sie mit ölverschmierten Fingern an und wirf sie auf den Fußboden.
  4. Nimm alte Vinylschallplatten und wirf sie auf den Fußboden.
  5. Nimm alte Gemälde (bzw. Manuskripte) von Dir, zerreiß sie oder lass sie von anderen zerreißen, und wirf sie auf den Fußboden.
  6. Nimm alte Kleidungsstücke und Schuhe und wirf sie auf den Fußboden.
  7. Beträufele alles hier und da mit Ölfarbe oder mit Bier, so dass einzelne Blätter oder Zettel zusammenhängen und Klumpen bilden.

Francis Bacon zu seinem Atelier: "Ich fühle mich wohl in diesem Chaos, weil Chaos mich zu Bildern anregt." Nicht wenige seiner Werke sind unmittelbar angeregt durch den Anblick zerrissener, verknickter und verklebter Fotos, die zufällig aus einer tieferen Schicht in seinem Atelier an die Oberfläche traten und ihm auffielen.(S.112)

Francis Bacon, Atelier
Das Atelier von Francis Bacon

Das Atelier von Francis Bacon ist nach seinem Tod - nach einer Bestandsaufnahme durch Archäologen (jedes Fetzelchen wurde konserviert, fotografiert und digital erfasst) - in der Hugh Lane Gallery originalgetreu wieder aufgebaut worden. Im Internet irgendwo zu bewundern.

Die traurig stimmende Passage stammt aus dem Kapitel "Demontage" und läßt einem das Lachen über eine meist als "lustigen Spaß" daherkommende 68er- (oder eher 69er-) Anekdote (der sogenannten "Busenattacke" an T.W.Adorno) im ersten Moment doch etwas gefrieren.

Trotz einer längeren Serie von Übergriffen und Störungen aus den Reihen der Studentenbewegung (besonders der Aktionstruppen des SDS) will Adorno am 22.4.1969 im Hörsaal VI der Frankfurter Universität seine "Einführung in das dialektische Denken" beginnen. Im Hörsaal wird gelärmt und gepfiffen. Adorno stellt ein Ultimatum: Ist in fünf Minuten nicht Ruhe eingekehrt, fällt die Vorlesung aus.

Da nähern sich drei in Lederjacken gekleidete Studentinnen. Sie umtanzen den Herrn am Katheder, versuchen ihn zu küssen. Schließlich reißen sie ihre Jacken auf und halten dem Professor ihre nackten Brüste hin. Johlendes Gelächter! Der schockierte Philosoph greift seine Aktentasche, hält sie vors Gesicht und läuft aus dem Hörsaal. Das Ganze wird oft als Anekdote erzählt [...].

Wer wäre damals nicht gern dabeigewesen in Hörsaal VI? Die ganze Sache scheint sehr lustig gewesen zu sein. [...]

Wer weiß, vielleicht war die Szene für Adorno nicht so komisch wie für die Lachgemeinde im Hörsall VI? In einem kurz nach dem Vorfall veröffentlichten Spiegel-Interview ist die Verstörung des Philosophen jedenfalls deutlich zu spüren. Vielleicht lohnt es, nachzusehen, was andere an diesem Tag im Hörsaal VI gesehen haben. Der Filmemacher Guido Knopp war Augenzeuge des Vorfalls. In einem Interview über seine Studienzeit in Frankfurt erzählt er: "Alle im Saal lachten. Ich saß ziemlich weit vorne, mir tat er leid. Drei hüpfende Busen in Augenhöhe, und dieser sehr im Theoriedenken verhaftete Mann versucht, sich mit der Aktentasche zu wehren. Ich sah, dass er fassungslos war. Irgendwann läßt er die Aktentasche hängen und bricht in Tränen aus. Und dann führen ihn seine Assistenten weg. Das war eine sehr bewegende Szene."(S.143ff). [Diese Passage ist auch in einem online verfügbaren Aufsatz von Jens Soentgen nachzulesen "ADORNOS Lachen, ADORNOS Tränen".]

Eine sehr bewegende Buchpassage. Die Story kennt jeder, die genauere Beobachtung von Guido Knopp nicht. Gedanken kann sich darüber jeder selbst machen. Adorno ist übrigens kaum dreieinhalb Monate danach gestorben.

Na na, wer wird denn hier einen Zusammenhang sehen wollen...? Natürlich ist Adorno nicht nur "theorieverhaftet", solche Urteile sind naiv, kein grosser Denker (und das ist Adorno) kommt ohne das Schönste und Aufregendste im Leben aus. Dazu erfährt man mehr aus einem hochinteressanten Buch, welches schon einige Wochen länger auf meinem Bücherstapel liegt:

"Adorno. Eine Bildmonographie.", hrsg. vom Theodor W. Adorno Archiv, Suhrkamp 2003

(16.10.2004) Was schreibt Adorno denn da in sein Tagebuch?

New York, 16. Oktober 1949

Das Weekend mit Carol. Sie kam, mit einer Viertelstunde Verspätung, zu den Türen der Public Library und mir Unverbesserlichem schlug das Herz. Sie sah entzückend aus mit ihrer bizarren, gleichsam überbrünetten Schönheit, von der ein Geruch wie von Rauch ausgeht. Welche Mischung aus einer libertine und einem Professor. Wir aßen im Rumpelmeier, ich setzte ihr das Programm auseinander, das wir streng innehielten; Genießen der Vorlust. Nach Reservation reizend im 5th Avenue. Nachmittag der äußersten Exzesse, in völliger Helle und Klarheit. Echte Masochistin: zweimal ihr Orgasmus nur beim freilich erbarmungslosen Schlagen. Der hagere Körper mit den markierten Hinterbacken, eine weiße malabaraise. Ihre Kunst des Hintanhaltens, der Küsse ins Leere, "tantalizing". Das Kunststück beim Lieben von Hinten einen ganz einzuschließen.

Nachtmahl bei Luchow, todmüde beide dann gut geschlafen, morgens nackte Reprise. [...]

Das entzückende "could you take advantage of a girl?" Sie hatte ihre schönsten Strümpfe an, wohl die einzig eleganten. Völlig wolkenlos, nah, dabei ohne Belastung (sie ist glücklich verheiratet). Befriedigt, gleichsam satt, aber traurig um 12 sie an die Bahn gebracht. Wir hatten einander für 23 Stunden.(S.203)

Im genannten Buch gibt es Bilder von verteufelt schönen Frauen. Adorno wegen einiger nackter Busen gestorben - lächerlich! Adorno auf einer Faschingsfeier (siehe Abbildung) - theorieverhaftet?(S.236)

Adorno, Fasching
Adorno auf einer Faschingsfeier.

Fast (aber nur fast) habe ich bei den beiden genannten Geschichten (des "SM-Nachmittags der äußersten Exzesse" einerseits und der "Busenattacke" andererseits) an den berühmten Satz aus der "Dialektik der Aufklärung" denken müssen: "Kunstwerke sind asketisch und schamlos, Kulturindustrie ist pornographisch und prüde." (Horckheimer / Adorno).

Alice Schmidt - Tagebuch aus dem Jahr 1954

(17.-26.10.2004) Vollständiger Titel: Alice Schmidt, Tagebuch 1954. Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung im Suhrkamp Verlag.

Wieder hat die Arno Schmidt Stiftung ein Buch herausgebracht, welches im Rennen um die schönsten Bücher des Jahres ganz oben mitmischen wird. Aber selten habe ich ein Buch gelesen, das sich in diesem Ausmaß rechtfertigen zu müssen meint. Im Vorwort beschäftigt sich Jan Philipp Reemtsma zur Hauptsache mit dieser Frage und wägt philologische Interessen (oder schlicht Neugier) und Wahrung auch posthumen Anstands gegeneinander ab. Für Arno-Schmidt-Fans stellt sich die Frage schlechterdings nicht: Das Buch war mindestens für mich ein Muss und zum Glück auch ein Genuss.

Alice Schmidt Tagebuch 1954

1954 war für das Ehepaar Schmidt ein wichtiges Jahr: Die Reise nach Ostberlin und die Begegnung mit dem Osten (durchaus im Vorfeld auch als Option zum Übersiedeln gesehen, aufgrund der Erfahrungen aber bald verworfen), die Recherchen für den Roman "Das steinere Herz" in Ahlden, und der ganze Alltag aus Geldsorgen, Katzengeschichten, und Zweiheit - das liest sich auch äußerst interessant als historischer Schnappschuss aus der Mitte der 50er Jahre in Deutschland. Ich habe oft beim Lesen innegehalten, da ich in dieser Zeit geboren bin und einiges an Erinnerungen plötzlich wieder da war. Und Alice Schmidt ist eine durchaus feine Beobachterin, so dass sich zum Beispiel der Bericht aus Ostberlin sogar ausgesprochen spannend liest.

Einiges ämüsiert wiederum: Im Heidenhaushalt ist es offenbar verpönt, "Gottseidank" zu sagen: also sagt man "Jupiterseidank". Oder man ist wild vor Wut, weil man junge Kätzchen totmachen muss (weswegen Arno Schmidt heult), oder ist wütend, weil man Fische (also Tiere) ißt, und dann schimpft man auf den Leviathan, der alles so übel eingerichtet hat - statt die Kätzchen einfach ihrem Schicksal zu überlassen und Fleisch oder Fisch einfach nicht mehr zu essen.

Überaus amüsant auch die vielen "L"s, wenn "Liebe gemacht" wird. Wofür es auch das Wörtchen "ellen" gibt. Und - ach herrjeh - am 6.8. ein enttäuschter Arno, der nicht wie versprochen "ellen" kann, weil Alice ihre "Sache" hat: "Darob Arno üble Laune, ...". Na so was. Hätt' er doch einfach!

Fast nicht zu glauben die Stelle vom 30.11.54, als Arno Schmidt den "Faust" als eine Art Orakel für die Frage, "ob er bei der Poesie ausharren solle" aufschlägt, und genau diese Stelle als Orakelantwort erwischt: "Rette sie, oder der Fluch von Jahrtausenden über dich!" "Er war fertig!" schreibt Alice Schmidt, und man glaubt es gern.

Paul Watzlawick - Anleitung zum Unglücklichsein (Piper Verlag).

(08.-13.11.2004) Philosophische Lebenshilfe oder populäre Psychologie - wie auch immer man das Genre dieses Buches benennen soll, jedenfalls ist es ein Bestseller und mir deswegen bisher etwas suspekt gewesen (arrogant - I know it). Geschrieben in einem leichten Plauderton, der manchmal etwas länglich wirkt. Insgesamt ganz nett - mehr nicht. Mit das beste sind die (leider seltenen) verstreuten Reflexionen über das Glück und ob es überhaupt gut ist, glücklich zu sein. Da die erste Frage von Watzlawick nicht beantwortet wird und als unbeantwortbare Frage dargestellt wird, würde ich messerscharf darauf schließen, dass auch die zweite Frage nicht beantwortet werden kann und natürlich auch die Definition von "Unglück" unmöglich ist.

Was übrigbleibt sind Schilderungen von Fällen, bei denen jeder Leser selber eine Antwort darauf finden darf, was das nun ist. Fragen wie: Soll man seine Ziele erreichen oder nicht, soll man an der Vergangenheit hängen oder nicht, soll man konsequent sein oder nicht, und ein Dutzend weiterer haben die Eigenschaft, kein klares "ja" oder "nein" zuzulassen. Wer das (schon) weiß oder am eigenen Leib erfahren hat, kann sich das Buch sparen oder sich halt vom Geplauder einlullen lassen. Mich wundert es nicht, dass das Buch in Unmengen über ebay verramscht wird und anscheinend jeder Verkäufer noch froh ist, einen Euro dafür zu bekommen.

Watzlawicks Frage nach dem Glück und Unglück der Menschen habe ich Anfang der siebziger Jahre in vielen Romanen oder Kurzgeschichten von Herbert W. Franke behandelt gefunden, am eindrücklichsten in der mir unvergesslichen Kurzgeschichte "Paradies" aus dem Sammelband "Der grüne Komet" (München 1964) - gerade eben (21.11.2004) wieder einmal gelesen. Und natürlich ist es auch Thema der damals vielgelesenen Bücher von Aldous Huxley ("Brave new World") und Orwell ("1984"). Man kann natürlich auch sagen, dass diese Frage in allen Werken der Weltliteratur gestellt wird; Antworten darf man aber nirgends erwarten...

Diverse Essays, Artikel, Buchbesprechungen etc, Auswahl:

(13.11.2004) Manifest der Glücklichen Arbeitslosen: Sinnieren über Arbeit und Beschäftigung, freie Zeit und Freizeit, Glück, soziale Beziehungen und das, was man nicht für Geld kaufen kann - das alles wird in diesem "Manifest der Glücklichen Arbeitslosen" auf recht hohem Niveau und nicht ohne Humor abgehandelt.

French Paradox: Warum können französische Frauen essen was sie wollen, sich einen Dreck um Diäten und Fitness-Studios scheren - und trotzdem schlank bleiben? Eine Frage der (nicht nur) Ess-Kultur. Eine lesenswerte Besprechung eines neuen Buches zu diesem bei Ernährungswissenschaftlern als "French paradox" bekannten Phänomen.

Blogs Mein "Lektüre-Tagebuch"/"Journal" war nie als Blog gedacht, sondern zu Anfang eine rein private Notizdatei zu meiner Lektüre - zu oft hab' ich mich vorher gefragt: hab' ich dies Buch eigentlich schon gelesen bzw wann habe ich jenes Buch denn gelesen? Warum ich das ins Web stelle? Sicherlich etwas persönliche Eitelkeit, und natürlich Neugier auf das Feedback - welches tatsächlich vorhanden ist. Manchmal frag' ich mich natürlich schon, ob ich damit auf der Modewelle der Blogs mitschwimme. Und deshalb lese ich manchmal auch Untersuchungen zum Thema "Blog", zuletzt den schönen langen Essay von Daniel W. Drezner und Henry Farrell "Web of Influence". Zwar gilt: "the typical blog is written by a teenage girl who uses it twice a month to update her friends and classmates on happenings in her life", dennoch gibt es viele Beipiele zum enormen publizistischen und in der Folge auch politischen Einfluß der "elite blogs".

Natürlich stellt sich auch die Frage, welche Bedeutung blogs außerhalb der USA und von Europa haben können: "can blogs affect politics in regimes where there is no thriving independent media sector?" - Antwort "Under certain circumstances, they can.", mit dem interessanten Beipiel Iran: Wer hätte gedacht, dass Farsi (persische Sprache) "the fourth most widely used language among blogs worldwide" ist? "One service provider alone ("Persian Blog") hosts some 60,000 active blogs."

Natürlich darf man vieles nicht überbewerten, natürlich wird das "Bloggen" inzwischen auch von konventionellen Medienriesen adaptiert und als ein (Des-)Informationskanal unter vielen integriert, womit die Blogs ihre Unschuld verlieren (beide US-Parteien haben im Wahlkampf 2004 Blogger "gekauft") - dennoch: Eine interessante Zeiterscheinung. Und in einer ausgezeichneten Analyse von Drezner und Farrell dargestellt. Zu beachten auch die kommentierte Linkliste.

Homöopathie: Heute in der Stadtbücherei zuerst in der Print-Ausgabe des "Skeptiker" gelesen, online nochmal nachgelesen: Ein hochinteressanter Beitrag zum Thema Homöopathie: "Eine Revolution der Physik? Die Unterstützung der Homöopathie und ähnlicher Therapierichtungen durch die Krankenkassen.". Homöopathie habe ich immer für einen faulen Zauber gehalten, der Aufsatz hat mich in dieser Meinung bestärkt.

Bastian Sick - Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. (Köln 2004)

(17.11.2004) Grammatik ist für mich ein heißes Eisen, manches werde ich wohl nie lernen. Dieses Buchgeschenk aus lieber Hand soll mir helfen, mit Dativ und Akkusativ gut Freund zu werden und wird mich die nächsten Wochen häppchenweise begleiten. Ob's hilft...?

Peter Hamm über den Briefband: "Ingeborg Bachmann / Hans Werner Henze: Briefe einer Freundschaft"

(18.11.2004) Neue Nachrichten von bzw über Ingeborg Bachmann sind mir immer willkommen. In der ZEIT Nr. 48 vom 18.11.2004 ein ausgezeichneter Beitrag von Peter Hamm über den Briefband: "Ingeborg Bachmann / Hans Werner Henze: Briefe einer Freundschaft". Hamms Schlußsatz macht Lust auf das Buch: "Das mindert nicht im Geringsten den Wert ihres Briefwechsels mit H.W. Henze, in dem man dieser Frau, der auf Erden nicht zu helfen war, so nahe kommt wie nie zuvor und dabei zugleich stets die ungeheure Entfernung ermisst, die uns von ihr trennt."

Hernach. Gottfried Benns Briefe an Ursula Ziebarth

( 20.11.2004ff) Vollständiger Titel: Hernach. Gottfried Benns Briefe an Ursula Ziebarth. Mit Nachschriften von Ursula Ziebarth. Wallstein-Verlag Göttingen, 2001

Benn, Ziebarth

Der Band mit der Korrespondenz Benn - Ziebarth wurde von der Kritik nicht gerade gelobt, kritische Stimmen überwogen. Der Verzicht auf eine Lektüre lag nahe, schließlich gibt es genug gute Sachen zu lesen, aber durchhalten konnte ich diesen "Entschluß" nicht. Wer seit über dreissig Jahren "seinen" Benn liebt, der kommt nicht um die Lektüre des Bandes herum - im Hinterkopf hatte ich diese task immer präsent.

Antiquarisch gekauft, sofort angefangen zu lesen - und gefesselt. Benn als alter Zausel (68) verliebt sich in eine noch nicht ganz 33 jährige Frau, die so ganz anders ist als die Frauen, mit denen er sich bis dahin vergnügte. Die Reibungen und Streitigkeiten, die daraus erwachsen, machen einen guten Teil der Korrespondenz aus, konturieren aber sehr schön die unterschiedlichen Charaktere und lassen Benn in einem nicht immer positiven Licht erscheinen. Gegen die weltoffene, reisefreudige und reichlich unkonventionelle Frau wirkt er doch sehr aus einer anderen Generation.

Was die meisten Kritiken, die ich gelesen habe, bemängeln, ist die "Schwatzsucht" von Ursula Ziebarth. Mein Eindruck ist ein anderer: Zum einen empfinde ich die direkten Kommentare der Adressatin ungemein hilfreich (warum sollen denn Anmerkungen immer von unbeteiligten Herausgebern gemacht werden?), zum anderen ist Ursula Ziebarth selber Autorin und tut gut daran, sich nicht von der Aura des übermächtigen Benn in die Knie zwingen zu lassen.

Und ein ganz besonderes Recht auf direkte Kommentare zu Benn hat Ursula Ziebarth für die Leser von Klaus Theweleits "Buch der Könige", Bd1 "Orpheus und Eurydike", denn zu Beginn des umfänglichen Benn-Teiles (S.3-195) kommt Ursula Ziebarth selbst zu Wort, die am Vortag von Benns Begräbnis in die ausgehobene Grube stieg, um sich mit Benns "künftiger Lage" vertraut zu machen:

"Ich schurrte am Schluß des Gefolges, ließ allen Honoratioren den Vortritt, wie sie fanden, daß er ihnen gebühre. Ich wußte mehr, ich kannte die Grube. Als sie ausgehoben worden war am Vormittag, die Totengräber sich entfernt und die Leiter stehengelassen hatten, bin ich heimlichen Schrittes auf sieben hölzernen Sprossen hinabgestiegen in das kleine gelbe Lehmgeviert, das Orpheus aufnehmen sollte. Der Hades ist kühl. Aber er liegt nur sieben Fuß unter der Pflanzendecke der Oberwelt. Die Toten bleiben nahe.

Ich wußte, wo Orpheus zu Erde werden würde und war nicht bange, als man den Sarg einsenkte." (dieser von Theweleit zitierte Text ist aus Ziebarths "Hexenspeise")

Ursula Ziebarth ist Benn-Kennern also auch vor der Briefausgabe keine Unbekannte mehr gewesen. Und nach der Lektüre der Nachschriften in der Briefausgabe habe ich sie in meine Lektüre-Wunschliste aufgenommen.


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