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Journal 2020

Birkel Sammelalbum - "Was weisst du von der Welt?"

(20.12.2020) Seit einigen Monaten bin ich dabei, einige in meiner Kindheit mir wichtige Bücher oder Alben antiquarisch nachzukaufen. Ich möchte sehen, was an diesen Büchern so gut oder wichtig war, dass ich mich nach rund 55 Jahren noch daran erinnere. Gestern wurde das Sammelalbum "Was weisst du von der Welt?" der Nudelfirma Birkel geliefert, und ich war erstaunt, an wie viele Bilder und Texte ich mich nach über einem halben Jahrhundert noch erinnern konnte.

Birkel Sammelalbum Was weisst du von der Welt

Die Texte sind in der Hauptsache wohl aus den späten 50er Jahren, das merkt man ihnen an, allerdings muss man ihnen zugestehen, dass es no-nonsense-Texte sind. Auch als Erwachsener kann man sie mit Gewinn lesen. Die Klebebildchen im Format 48mm x 61mm (Bildgröße 44mm x 56mm) sind arg klein, haben aber eine erstaunlich hohe Qualität. Nirgends im Album wird der Künstler genannt, aber er hat jedes Bild mit "W,E" signiert, und mit etwas Recherche bekommt man heraus, dass es Wilhelm Eigener ist, einer der bekanntesten Illustratoren der 50er bis 70er Jahre, besonders bekannt für Tierbilder.

Birkel, Was weisst du von der Welt
Der Seitenaufbau ist immer gleich: Zwei Bilder pro Seite. 120 Bilder füllen also 60 Seiten.
Die zugehörigen Texte sind vergleichsweise umfangreich für die Zielgruppe Kinder.

Wäre die Qualität der Illustrationen nicht so hoch - ich glaube nicht, dass ich das Album so lange in so guter Erinnerung hätte. Als Beispiel hier ein Detail.

Birkel Sammelalbum Was weisst du von der Welt
Abbildung zum Thema "Azteken und Inkas"
Das alles auf 44mm x 56mm...

Bei der Recherche zu Eigener fand ich zu meiner großen Überraschung heraus, dass Eigener vor seiner Illustratoren-Karriere, also in den 40er oder 50er Jahren, auch an Comics gearbeitet hat (Quelle dafür ist der Aufsatz "Wilhelm Eigner - Comiczeichner auf Abruf" von Eckart Sackmann und Joachim Knüppel in "Deutsche Comicforschung 2016"). Und dieser in Fragmenten aufgefundene Comic ist eine Wucht. Mit der Qualität hätte Eigener nicht nur in Deutschland Comic-Geschichte schreiben können. Er hat sich aber für eine Illustratoren-Karriere entschieden.

Wilhelm Eigener, Comic
Beispiel für einen Comic von Wilhelm Eigener, tolle Qualität!
Originell die Sütterlin-Schrift in den Sprechblasen.

Nova Per 2020 = V1112 Per

(29.11.2020) Diese aktuelle Nova hat noch zwei weitere Bezeichnungen zu bieten: TCP J04291884+4354232 und TCP J04291888+4354233. Entdeckt wurde sie unabhängig voneinander von Seiji Ueda und dem Team Stanislav Korotkiy, Kirill Sokolovsky und Olga Smolyankina am 25.11.2020. Koordinaten (2000) laut AAVSO-VSX-Seite: 04 29 18.85 +43 54 23.0

Schon wenige Stunden nach der Entdeckung wurde das neue Objekt als klassische Nova bestätigt. Zur Zeit der Entdeckung war die Lichtkurve noch im Anstieg.

Nova Per 2020, V1112 Per
Nova Per 2020 = V1112 Per, 29.11.2020, 18h16UT, Canon EOS450D.
2,8/135, 24 x 2,5sec belichtet, ohne Nachführung.

Meine Beobachtung fand unter ungünstigen Bedingungen statt: Der fast volle Mond (99,58% beleuchtet, Mondalter 14,51 Tage) stand nur 27 Grad von der Nova entfernt, und der vorhandene Hochnebel war folglich gut beleuchtet. Die visuelle Grenzgröße in der Nova-Gegend war etwa 3mag.

Ich habe mit der Canon-EOS450D 24 Aufnahmen mit einem 2,8/135mm-Tele gemacht, ohne Nachführung, alle mit 2,5sec Belichtungszeit, in der Summe also 60 Sekunden. Die Verarbeitung geschah mit IRIS und mit MIRA AP.

Die Nova ist auf der Summenaufnahme bei einer Grenzgröße von ca 11mag leicht zu sehen, auf den Grün-Auszügen messe ich eine Helligkeit von 8,56.

Weitere Informationen zur Nova gibt es bei der AAVSO.

Bruno H. Bürgel - "Vom Arbeiter zum Astronomen"

(27.11.2020) Meine Ausgabe ist von 1927 und hat den Untertitel "Der Aufstieg eines Lebenskämpfers", es handelt sich um eine "Neue erweiterte Ausgabe". Im Netz verfügbar ist die 3. Auflage von 1921, sie hat den Untertitel "Die Lebensgeschichte eines Arbeiters". Die beiden Ausgaben unterscheiden sich in der Kapitelfolge und in einzelnen Passagen, ein detaillierter Vergleich erschien mir aber uninteressant, auch wenn die sehr unterschiedlichen Untertitel eine starke Akzentverschiebung suggerieren.

Bürgel, vom Arbeiter zum Astronomen

Bürgel (14.11.1875-8.7.1948) ist einer der bekanntesten Astronomie-Popularisierer der ersten vier Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts, einer der Vorläufer zum Beipiel des "Fernsehprofessors" Heinz Habers, der für mich in den sechziger Jahren wichtig war. Parallel zur Beschäftigung mit astronomischen Themen war aber bei Bürgel auch immer das Interesse an weltanschaulichen und philosophischen Fragen vorhanden. Diese weitergesteckte Neugier wird in "Vom Arbeiter zum Astronomen" immer wieder betont.

Die Erstausgabe schrieb Bürgel 1919, unmittelbar nach den Erfahrungen des Weltkriegs und unter dem Eindruck der bürgerkriegsähnlichen Kämpfe zwischen revolutionären Arbeitern und dem "Establishment" aus Bürgertum und Militär. Bürgel betont oft, dass er beide Seiten kennt: Er war Arbeiter, trotz einer 72-Stunden-Woche oft am Rande des Existenzminimums, hat sich aber dennoch hochgearbeitet bis zum Gelehrten (und Offizier). Sein Anliegen ist es daher, beim Arbeiter Verständnis für den Bürgerlichen und beim Bürgerlichen Verständnis für den Arbeiter zu gewinnen. Er hofft, dass gegenseitiges Kennen zu gegenseitigen Verständnis und folglich zur Befriedung der gegnerischen Parteien führt. Und am eigenen Beispiel möchte er demonstrieren, dass es zwar sehr ungerechte Grenzen des Erreichbaren für Arbeiter gibt, aber zäher Wille und unendlicher Fleiß doch für einen Erfolg sorgen kann. Wie man aber letztlich im Buch sieht, bedarf es aber auch dann immer noch einiger Zufälle, sprich: Begegnungen mit fördernden Menschen.

Vorwort: Hier erzählt er vom nachhaltigen Erfolg seines Buches, den zahllosen Zuschriften, die er auch nach Jahrzehnten noch erhält, und der Absicht beim Schreiben, die verfeindeten politischen Lager einander anzunähern.

Jugendzeit: Das Kapitel schildert seine Jugendgeschichte als uneheliches Kind einer schwindsüchtigen, früh verstorbenen Mutter, und seine Adoption durch ein älteres Schuster-Ehepaar. Als wichtig empfindet Bürgel den Umzug der Adoptiveltern aus einem tristen Arbeiterviertel Berlins in eine Vorstadt mit noch ländlichem Charakter, wo noch Naturerleben möglich war (1886). Voraussetzungslos bildet sich in ihm 1887/88 ein starkes Interesse an Astronomie heraus, welches durch den Eindruck der in Berlin sichtbaren totalen Sonnenfinsterns von 1887 bestärkt wird. Ein junger Nachbar macht ihn mit den wichtigen Texten der Sozialisten bekannt, ein anderer Nachbar (Herr Lucius) macht ihn mit den Grundlagen des wissenschaftlichen Weltbildes bekannt.

Zwei Erlebnisse bringen ihm die Klassenjustiz und das Elend der Arbeiter besonders nahe:

Bürgel war ein guter Schüler und sollte eine Empfehlung für den unentgeldlichen Besuch einer höheren Schule bekommen - allerdings rechneten seine alten Adoptiveltern schon dringend mit seinem Verdienst, und so musste Bürgel entsagen und dann mit 14 Jahren beginnen zu arbeiten.

Als junger Arbeiter schildert zunächst die enttäuschend verlaufende kirchliche Einsegnung, dann die unruhige Berufssuche. Zunächst einige Wochen in die Lehre bei seinem Adoptivvater, dann einige Wochen als "Arbeitsbursche" in einer Buchdruckerei und so weiter in einigen Berufen.

Die Fabriken mit dem schrecklichen Umgangston und dem unflätigen Benehmen der Arbeiter machten ihn unglücklich, aber andererseits war es ihm klar, dass bei zehn- bis zwölfstündiger Arbeitszeit kaum Zeit übrig blieb für Bildung und schöngeistige Dinge.

Hoffnung machte ihm das ernste Wesen der älteren Arbeiter, die mit Andacht ihr Parteiblatt lasen und darüber debattierten.

Auch merkt er, dass ein erheblicher Teil der Arbeiterschaft selbst schuld an seinem Elend war. Vor allem der Alkoholmißbrauch war für viel Elend verantwortlich. Auch Bürgel verfiel eine Zeitlang den Samstagsbesäufnissen und der Spielsucht, für die oft fast der gesamte in der Woche verdiente Lohn draufging.

Die Sozialdemokratie hat nach Bürgel das große Verdienst, hier aufklärend gewirkt zu haben.

Bürgel selber wird sich nach der Heimkehr nach einem langen Besäufnis in der frischen Morgenluft klar darüber, was er alles falsch macht und zieht die Reißleine: "Ich schwor mir, Schluss zu machen mit der Wüsterei."[S.45]

Per aspera ad astra Das Kapitel beschreibt, wie er sich mit mühsam ersparter Lektüre (Reclam-Hefte -"jene buchhändlerische Kulturtat ersten Ranges"- für 20 Pfennig) mit guten Büchern selbst weiterbildet. Ein typischer Arbeitstag der 6-Tage-Woche Bürgels sah allerdings so aus: Um 5 Uhr Aufstehen, eineinhalb Stunden Fußweg zur Arbeit, Arbeitszeit von 7 Uhr bis 19 Uhr, Rückmarsch, 20h30 daheim. "Das war der Tag eines Arbeiters." Den Fußweg macht er, um die 60 Pfennig für eine Arbeiter-Wochenkarte zu sparen und sich dafür Literatur kaufen zu können.[S.47] Die finanzielle Situation war so: Er verdient 15 Mark in der Woche, muss seinen Eltern 12 Mark für den Unterhalt geben. Für den Rest kauft er sich mittags Brote oder Bratensoße zur Schrippe. Und eben Reclam-Heftchen.

Ein besonderes Problem ist das Fehlen eines gebildeten Beraters.[S.48] So wird für ihn immens wichtig das Reclam-Bändchen "Auf der Sternwarte" von Max Wilhelm Meyer, der "Baedeker für meine Lebensreise" [S.50]. "Von nun an sparte ich jeden Pfennig, sparte auch an Essen und Trinken, um bei meinem geringen Verdienst die Mittel für Bücher aufbringen zu können."[S.50] Und wieder lernt er einen Mann kennen, der ihm Literatur gibt und empfiehlt und ihm die unterschiedlichen Wissensgebiete erläutert.

Für fünfzehn Mark kann er nach monatelangem Sparen bei einem Trödler ein primitives Fernrohr erstehen. Und damit macht er jahrelang statistische Aufzeichnungen über Sonnenflecken und Sternschnuppenfälle, beobachtet Veränderliche Sterne und Jupitermonde und einiges mehr.[S.58/59]

Eine gefährliche Klippe: Dieses Kapitel schildert die Verwüstungen, die Bismarcks unseliges Sozialistengesetz anrichtete, die allmähliche Herausbildung einer Lebensanschauung aufgrund seiner Lektüre und die deprimierende Zeit seiner Arbeitslosigkeit (ab Herbst 1895, 30 Wochen lang), die ihn an den Rand des Suizids bringt.

Die große Wendung: Er erzählt, wie nach einer Anfrage bei der Urania und der Einladung zu einem Vorstellungsgespräch bei Max Wilhelm Meyer es Bürgel schafft, eine kleine Anstellung an der Sternwarte zu bekommen und dort viel Förderung erfährt. Bei allem Positiven erlebt er aber auch die Überheblichkeit des Akademikers dem Arbeiter, Handwerker, Kaufmann gegenüber. Fünf Jahre ist Bürgel hier beschäftigt.

Wie ich Schriftsteller wurde: Er beschreibt zunächst die politischen Schlüsse, die er aus seinen Erfahrungen zieht und als wie wichtig ihm das Wirken im Sinn der Volksbildung erscheint, besonders für das Proletariat. Und als er von einer Russin aufgefordert wird, die zunächst in einem gemeinsamen Gespräch formulierten Gedankengänge für eine russische Zeitschrift schriftlich zu formulieren, greift er zu - und macht damit weiter. Und hat großen Erfolg damit, kann eine Familie gründen, sich eine gute Bibliothek anschaffen, eine Privatsternwarte einrichten und so weiter. Mit großer Inbrunst verteidigt er gegen alle akademische Überheblichkeit die Bedeutung der Popularisierer.

Auf der Universität Er schildert, wie er einige Semester lang auf der Universität Vorlesungen besucht und seine Erfahrungen dort, besonders mit den großen Leistungen der weiblichen Studenten und besonders den Eifer der russischen Studentinnen. Wichtiger als astronomische Themen waren für ihn aber die philosophischen Vorlesungen. Und er lernt auf der Universität gebildete Leute kennen, die in ihrem Beruf teils weniger verdienen als Arbeiter.

Nach zwei Jahren musste Bürgel aufgrund eines Zusammenbruchs, einer schweren nervösen Erschöpfung (heute würde man Burnout sagen), sein Studium abbrechen und zum erstenmal in seinem Leben (mit 32 Jahren) Urlaub machen, im Harz.

Mit vierzig Jahren Soldat beschreibt seine Desillusionierung aufgrund des Ersten Weltkriegs und wiederum die Erfahrung, wie ungerecht Offiziersstellen vergeben werden und so weiter. Bürgel gibt zu, am Anfang von der deutschen Propaganda über die Gründe des Krieges überzeugt worden zu sein, sich aber darin sehr getäuscht zu haben.

Auch hier wieder beklemmende Beobachtungen, zum Beispiel zur Ausbildung:

Diese "Ausbildung" war geradezu lächerlich. Die Hälfte der Zeit wurde dazu verwendet, grüßen zu lernen. Man ließ uns vierzehn Tage nicht hinaus zu unseren Familien, weil es eventuell hätte geschehen können, daß einem Feldwebel oder Leutnant unser Gruß nicht vorschriftsmäßig erschien! (...) Nach vier Wochen wurden wir bereits ins Feld gesandt, ohne auch nur die primitivsten Kenntnisse zu besitzen, und fuhren von der Heimat direkt an die Front.[S.116]

Er schildert die unterdrückte Wut der Mannschaften, das Grollen unter der Oberfläche aufgrund der unmenschlichen Behandlung. Sieben Hauptpunkte führt er an, die unausgesetzt böses Blut machten [S.119].

Als die Revolution 1919 ausbricht, ist er aber nicht in der Lage, hier mitzutun, er hat zuviele Entgleisungen ihrer Anhänger miterlebt.[S.125]

Das letzte Kapitel Saat und Ernte schildert zunächst den Tiefpunkt der Nachkriegszeit: "ich (stand) dem Nichts gegenüber. Ich mußte von vorn beginnen. Selbst am Nötigsten fehlte es."[S.128] Dazu die politischen Kämpfe, an denen Bürgel leidet. Deshalb Entschluss, diese Biografie zu schreiben, um in den feindlichen Lagern Verständnis für die je andere Position zu wecken [S.129] und die enorme Resonanz auf das Buch. An seine Schrifstellertätigkeit vor dem Krieg konnte er wieder anknüpfen, veröffentlichte tausende von Zeitungsbeiträgen und hielt öffentliche Vorträge in rund 350 Städten.

Ein beeindruckender Lebensweg also!

Sonne mit Flecken

(25.11.2020) Das Sonnenfleckenminimum ist endlich vorüber, der nächste Zyklus (#25) nimmt allmählich Fahrt auf. Heute waren drei Aktivitätsregionen zu sehen: Die sich auflösende 2783, die 2785 und die erst kürzlich in Sicht rotierte 2786. Die beiden Aufnahmen habe ich "quick and dirty" gewonnen: Mit einem 80/400-Refraktor und 7mm-Okular, sehr schräg durch eine Fensterscheibe, freihändig mit Smartphone. Und natürlich mit Baader-Sonnenfilterfolie.

Sonnenflecken 25.11.2020
Die drei aktuellen Aktivitätsregionen auf der Sonne, von links: AR 2786, 2785 und 2783.
25.11.2020, 14h05m54 MEZ, 13h05m54 UT

Sonnenflecken 25.11.2020
Ausschnitt mit den Aktivitätsregionen AR 2786 und 2785.
25.11.2020, 14h06m57 MEZ, 13h06m57 UT

Erik Hesselberg - "Kon-Tiki und ich"

(06.11.2020) Im August 2015 habe ich von Thor Heyerdahl "Kon-Tiki" gelesen, die Beschreibung eines faszinierenden Wissenschafts-Abenteuers - die eindrucksvolle Lektüre ist mir immer noch gegenwärtig. Thor Heyerdahl wurde durch diese Reise und deren anschließende Vermarktung durch Buch und Film weltberühmt, war als "Señor Kon-Tiki" sogar schon bei den Einheimischen der Osterinsel bekannt, als er dort einige Jahre später seine archäologische Forschungen begann.

Erik Hesselberg, Kon-Tiki

Die sechsköpfige Crew setzte sich aus einer Reihe interessanter Männer zusammen, Erik Hesselberg war einer davon. Als einziger hatte er Berufserfahrung auf See gemacht, er war Steuermann und fuhr fünf Jahre zur See. Anschließend studierte er in Hamburg Kunst und Gebrauchsgrafik, spielte Gitarre und komponierte über 200 Lieder. Von ihm ist der große Kon-Tiki-Kopf am Segel des gleichnamigen Floßes. Und während der Reise unterhielt Hesselberg die Mannschaft mit Gitarrenmusik. Ein interessanter Mensch also.

Sein Buch ist kurz, umfasst gerade einmal 85 Seiten. Berücksichtigt man die weit über 100 Zeichnungen, dann umfasst der reine Text vielleicht 45 Seiten. Man kann sich vorstellen, dass das Buch gleichermaßen von Kindern als auch von Erwachsenen mit Vergnügen und Gewinn gelesen werden kann. Die Sprache ist einfach und schön, alles ist knapp und gut und oft auch humorvoll oder mit zarter Ironie geschildert - wie viel davon sich Hesselberg und wie viel dem Übersetzer Edzard Schaper verdankt: keine Ahnung. Eine gewisse humorvolle Naivität liegt darin, manchmal auch nur trockener Humor. Ein bisschen hat mich die Sprache an die alten (aber guten) Übersetzungen von Hamsun-Romanen durch z.B. Julius Sandmeier erinnert. Mir hat die Lektüre jedenfalls Spaß gemacht. Auch die Zeichnungen: Sie wirken anspruchslos und kindlich, sind aber gekonnt und höchst detailliert. Die Zeichnung unten mit dem gemütlichen Familienleben auf der Kon-Tiki gibt exakt sogar die Schichtzeiten der Mannschaftsmitglieder wieder, die auf einer Tafel am Mast verzeichnet sind.

Hesselberg, Kon-Tiki
Gemütlicher Abend auf der Kon-Tiki (Zeichnung auf S.39).
Hesselberg schreibend oder zeichnend ganz links.
Erstaunlich, wie viele Bücher mitgeführt wurden.

Hesselberg beginnt mit seiner Reisebeschreibung beim Weg von zuhause zum Bahnhof und schildert in Anekdoten den Fahrkartenkauf, einige Mitreisende, die 25-tägige Überfahrt von Oslo nach Panama mit der Laurits Swenson, von ihm "Lauritz Svensson" genannt und die Weiterreise nach Lima, Hotel-Begebenheiten in Lima und so weiter. Thor Heyerdahl kommt kaum vor, auch die anderen Mitreisenden werden nur selten genannt, es sind mehr die Situationen (oder die Situationskomiken), die Hesselberg schildert.

Vieles aus Heyerdahls Veröffentlichung findet man wieder, aber erzählt aus einem völlig anderen Blickwinkel - und beide ergänzen sich. Und natürlich beschreibt Hesselberg auch Dinge oder Situationen, die bei Heyerdahl nicht erwähnt werden. Goldig auch die Information, dass die Reisenden meist völlig nackt waren und sich nur für Foto- oder Filmaufnahmen eine Hose anzogen. Weil das manchmal vergessen wurde, konnten eine Reihe von schönen Filmaufnahmen leider nicht in die Filmdokumentation für die Kinos aufgenommen werden. Aber auch wie Hesselberg die verschiedenen Bärte der Mannschaftsmitglieder beschreibt - herrlich.

Meine antiquarisch erworbene Ausgabe ("Ein Buch der Arche in der Nymphenburger Verlagshandlung") ist von 1950, also 70 Jahre alt, hat aber keinen Flecken, ist nirgends vergilbt, ist in einer ausgezeicheten Druckqualität und das Papier hat absolut keine Alterserscheinungen - unglaublich. Man wird es in 70 Jahren immer noch wie neu lesen können.

Abby Sunderland (mit Lynn Vincent) - "Wild Eyes - mit dem Wind um die Welt"

(04.11.2020) Ich habe mir das Buch billig antiquarisch besorgt, ohne große Erwartungen, wollte aber wissen, wie es dieser zur Zeit ihrer versuchten Weltumseglung gerade einmal sechzehnjährigen jungen Frau bis zum Abbruch ihres Unternehmens ergangen ist.

Abby Sunderland, Wild Eyes

Nach der Lektüre muss ich sagen: Hut ab. Das Buch ist gut. Es richtet sich offensichtlich an ein jugendliches Publikum, angesichts des Alters der "Heldin" auch kein Wunder. Die Sprache ist einfach gehalten, aber nicht dumm. Sehr gut gelöst ist der Aufbau des Buches. Erzählt wird aus zwei Blickwinkeln: Zum einen natürlich aus der Perspektive von Abby Sunderland, also von Bord der Yacht aus, zum zweiten aus der Perspektive von Lynn Vincent in Stellvertretung der Supporter, des Unterstützungsteams und aller, die zu irgend einem Zeitpunkt eine Rolle in der Geschichte spielen. Das macht das Buch abwechslungsreich zu lesen und es entgeht damit der Gefahr, quasi aus der Froschperspektive nur aus der Sicht der Seglerin zu berichten. Dieses Konzept dürfte das Verdienst der Co-Autorin Lynn Vincent sein, die zwar eine ultra-konservative Publizistin ist, u.a. eine Sarah-Palin-Biografie geschrieben hat und in Büchern oft das amerikanische Militär lobt, aber eine ungemein erfahrene Autorin mit zahllosen Büchern und Artikeln ist. Und Lynn Vincent ist christlich auf die amerikanische Art, was gut zur tiefreligiösen Familie Sunderland passt, für die manche Probleme letztlich durch Beten gelöst werden, und sei es, indem man per Massen-Mailing einen großen Freundes- und Bekanntenkreis zum Gebet auffordert. Aber was soll's, dem Buch hat die Bearbeitung und die Ideen dieser erfahrenen Publizistin gut getan. Man muss es nur vergleichen mit dem enttäuschenden Bericht von Laura Dekker (Laura Dekker, "Ein Mädchen, ein Traum"), die letztlich nur ihr Backfisch-Tagebuch der Reise etwas überarbeitete und ein ungenießbares Werk ablieferte. Dabei hätte Dekker doch schon von der Erfahrungen von Tania Aebi profitieren können, die mit Unterstützung von Bernadette Brennan ihren Bericht erstellte und auf diese Art auch eine höchst spannende und interessante Reisebeschreibung ablieferte (Tania Aebi, "Die Welt im Sturm erobert"). Von sechzehnjährigen Abenteurerinnen erwartet man schließlich kein entsprechendes Schreibtalent, für professionelle Hilfe muss man sich da nicht schämen. Abby Sunderland kann Hilfe annehmen, Laura Dekker ist da eher eigenbrötlerisch und wenig konsensorientiert unterwegs, wie sich auch bei der Zusammenarbeit mit Jillian Schlesinger für die Filmdokumentation "Maidentrip" zeigte.

Abby Sunderland geriet in einen Sturm, der ihr Boot entmastete und manövrierunfähig machte, sie hat aber auch definitiv die anspruchsvollere Route gewählt, indem sie um Kap Hoorn und um das Kap Agulhas (südlichster Punkt von Afrika) segelte. Laura Dekker nahm die einfache Variante durch den Panama-Kanal. Kritisieren könnte man höchstens, dass Abby Sunderland einen Rekord aufstellen wollte (jüngste Einhandseglerin um die Welt), keine Zeit verlieren durfte und deswegen zur Unzeit im südlichen Indischen Ozean und Südpolarmeer unterwegs war - im Winter gibt es da eben mehr und heftigere Stürme.

Das Verhalten von Abby während der Fahrt, nach dem Kentern und bei der Rettung ist beeindruckend (zumindest was davon geschildert wird). Sie ist gründlich, bedacht, überlegt, bleibt ruhig - und ist mutig. Und wenn es sein muss (gegenüber Kritikern und Spielverderbern) auch trotzig. Und konnte segeln, allen Besserwissern zum Trotz.

Der letzte Satz ist schön: "Wer seinen Traum leben will, der scheitert nur dann, wenn er es nie versucht."[S.213]

Abby Sunderland kommt aus einer Familie mit acht Kindern, selber ist sie nun, im Alter von 25 jahren, bei bereits vier Kindern.

Sophokles - "Ödipus"

(25.10.2020) Theater Heidelberg, Regie Alexander Charim.

Ich kann mir nicht helfen, das Stück hat einen Bart, der jedem Gotteskrieger zur Ehre gereichen würde... In einer Zeit, in der man sich schnell mal gegenseitig tot schlug, hat Ödipus ohne es zu wissen seinen eigenen Vater tot geschlagen (daneben vier andere, von denen danach natürlich keiner mehr spricht). Und hat seine eigene Mutter geheiratet - auch ohne es zu wissen (hätte er bei irgendwelchen der geliebten Kleinkriege der alten Griechen ein Dutzend Frauen des Gegners vergewaltigt, wäre das auch wieder keine Zeile wert gewesen, das gehört wie das Totschlagen zum "daily business" der alten Griechen - aber na gut). Die Götter haben das alles schon gewusst (und zugelassen), das Orakel plaudert alles freimütig aus, und so nimmt die Story ihren Lauf. In einer Zeit und einem Land, in dem der eigene Vater einen gottähnlichen Status hatte und die eigene Mutter auch etwas bedeutete, ist es natürlich schon ein Ding, seinen Vater umzubringen und mit seiner Mutter zu schlafen. Aber heute liest man ähnliche oder schlimmere Familiendramen halt alle paar Tage in der Zeitung (was die Familiendramen natürlich nicht entschuldigt).

Die Verrenkungen, die im Programmheft gemacht werden, um einen aktuellen Zeitbezug - auch zu Corona - herzustellen, das ist schon fast unterhaltsam. Aber leider trotzdem ermüdend zu lesen. Ich ertappte mich oft dabei, während der Aufführung auf die Uhr zu schauen, und war nicht unfroh, dass dem Treiben nach eineinhalb Stunden ein Ende gesetzt war. Das Ende, mit dem nackten Ödipus, der viel knalliges Rot im Gesicht hatte (qua eigener Blendung), ordentlich rumtobt und -schreit und von Kreon gleichzeitig getötet werden will oder in eine Gegend geschickt werden will, wo er mit keinem Menschen mehr sprechen muss (als Blinder? wer versorgt ihn denn dann?) - sehr dramatisch, aber natürlich auch etwas zum Kopfschütteln.

Die Inszenierung war dabei richtig gut: Die zellenartigen Räume, in denen die Schauspieler meist allein agierten, sich teilweise schnell mal für ihre nächste Rolle umzogen - sehr eindrucksvoll.

Oscar Wilde - "Ernst ist das Leben (Bunbury)"

(24.10.2020) "Eine triviale Komödie für ernsthafte Leute von Oscar Wilde." Theater Heidelberg, Regie: Christian Brey.

Ich weiß nicht, ob ich das Stück schon ein- oder zweimal gesehen habe, vermutlich wird aber auch diese Aufführung bald vergessen sein. Obwohl sie nicht schlecht ist. Die Schauspieler haben gut gespielt, hatten hübsche Kostüme an, es war durchaus kurzweilig, und dank der Corona-Beschränkungen (kürzere Spielzeit, keine Pausen) auch nicht übermäßig lang. Aber halt tatsächlich "trivial", oberflächlich, manchmal geradezu kindisch. Manche Regieeinfälle verblüffen geradezu, was will uns denn der Regisseur DAMIT sagen: Dass Gwendolen ihren Tee auf einer ferngesteuerten Schildkröte serviert bekommt, welche immer etwas weiterfährt, wenn sie nach der Tasse greift?? Oder dass am Anfang wilde Rockmusik ertönt und einer der beiden Helden dazu Luftgitarre spielt (noch nicht mal passend zur Musik)?? Na, immerhin konnte man manchmal lachen, und das ist ja auch schön.

Theater und Orchester Heidelberg - "Summernightdreamers"

(18.10.2020) Ein Musiktheater nach Henry Purcell, Benjamin Britten und John Casken. Idee und Konzept von Andrea Schwalbach (Inszenierung), Ulrike Schumann (Dramaturgie) und Elias Grandy (Musikalische Leitung).

Das Stück hat eine Handlung (oder sagen wir "kind of...") - aber nur mit Mühe habe ich sie anhand des Programmheftes und der Einführung auf der Webseite des Theaters einigermaßen erschließen können - nach der Vorstellung. Während der Vorstellung dachte ich oft "Was für ein Schmarrn" und konnte bestenfalls einigen der Lieder etwas abgewinnen. Aber auch da galt: Es gibt bessere. Vielleicht liegt mein Unverständnis auch darin, dass ich mit Elfen und einem König namens Theseus (also wohl antik), der nachts auf einen Kirchturm (antik??) krabbelt und die Uhrenzeiger weiterstellt, nicht viel anfangen kann. Oder mag.

Arno Schmidt. Eine Bildbiographie. Herausgegeben von Fanny Esterházy. Mit einführenden Texten von Bernd Rauschenbach.

(17.10.2020) So eindrucksvoll die äußeren Daten sind (455 Seiten, Format 30cm x 21cm, Dicke 4,4cm, Gewicht fast 2,4kg), so eindrucksvoll ist der Inhalt: Ein klasse Buch! Wer Arno Schmidt kennenlernen will, der hat seit 2016 keine bessere Möglichkeit, als zu diesem Buch zu greifen. Die Bebilderung ist erstklassig, viele bekannte Aufnahmen findet man hier in weit besserer Qualität, in ausgezeichneten Farben oder Halbtönen (bei SW-Aufnahmen). Der Satz ist wunderschön, ein echter "Friedrich Forssmann", und die "einführenden Texte" (ein absolutes understatement) in die einzelnen Kapitel, geschrieben von Bernd Rauschenbach, sind optimal auf das Bildmaterial und die wichtigen (nicht nur wichtigsten) Stationen von Schmidts Leben abgestimmt. Was soll man sagen? Nochmals: Ein klasse Buch!!

Arno Schmidt Bildbiographie

Arno Schmidt "Schwarze Spiegel", Hörspielbearbeitung von Klaus Buhlert (BR 1997). Sendung im DLF, 17.10.2020, 20h05.

(17.10.2020) Arno Schmidts Post-Desaster-Robinsonade "Schwarze Spiegel" ist, da über weite Strecken von einem namenlosen Ich erzählt und inhaltlich dominiert, sicherlich nicht leicht als interessantes und spannendes Hörspiel zu inszenieren. So wundert es mich nicht, dass auch Klaus Buhlert mit seiner Bearbeitung und seiner Regie mich letztlich nicht vom Hocker reissen konnte. Das wesentliche der Handlung ist zwar zu finden, das warum vieler Handlungsdetails bleibt aber offen: Warum baut der Held mühevoll ein Haus im Wald statt ein bestehendes zu beziehen und umzubauen? Wieso ist er überhaupt als einzelner in der Lage, ein Haus zu bauen, Fenster zu setzen, einen Ofen zu setzen usw? Warum zieht es Lisa von dem Tausendsassa-Held wieder weg? Usw usf.

Der Stimme von Ulrich Wildgruber fehlt leider das Böse, das Brutale, das offen Menschenfeindliche des "Helden". Die Stimme von Corinna Harfouch als Lisa ist zu zart, zu weiblich für die von ihr erlittenen fünf Jahre als herumstreunende Nomadin. Laut ihren vom Erzähler aufgezählten Habseligkeiten muss sie als erheblich heruntergekommener und ärmlicher betrachtet werden als der mit gut gepflegten Fahrrad samt Anhänger und allem nötigen Werkzeug durch die Lande reisende und schließlich nach fünf Jahren (warum erst dann, oder warum überhaupt?) schließlich seßhaft werdende Held.

Die Geräusche und das viele Quietschen haben mir auch nicht sonderlich gefallen. Aber das ist Geschmackssache.

Kunsthalle Mannheim; Ausstellung "Umbruch"

(29.09.2020) Der Museumsneubau der Kunsthalle Mannheim wurde zwar schon im Juni 2018 eröffnet, aber erst jetzt bin ich zum erstenmal dort gewesen. Zum einen galt es also, den Neubau kennen zu lernen, zum anderen die aktuelle Ausstellung "Umbruch" zu besuchen.

Der Neubau von aussen wirkt beeindruckend, alleine schon die schiere Größe: Gekleckert wird nicht, wenn es heutzutage um Museumsneubauten geht, es wird geklotzt. Die Fassade wirkt aber dank der Verkleidung mit Edelstahlseilen und bronzefarbig beschichteten Edelstahldrähten nicht brutal, sondern eher filigran, die neue Kunsthalle ist also ein Gebäude hinter Gardinen (fast hätte ich "verräucherte Gardinen" geschrieben). Dass die Fassade aufgrund von Sturmschäden schon nach zwei Jahren aufwändig saniert werden muss, ist natürlich die Kehrseite einer solchen Architektur.

Der Innenraum ist extrem großzügig bemessen. Im Verhältnis zur verfügbaren Fläche hängen sehr wenige Kunstwerke, vor allem in der Eingangshalle. Anselm Kiefers "Sefiroth" mit seinen Abmessungen von 5 x 9,5 Metern findet da einen angemessenen Platz, aber sonst scheint die Regel zu sein: Im Zweifelsfall leer lassen. Aber erfüllt ein Museumsneubau seine Aufgabe, wenn die Wände leer bleiben, weil die Bilder stören? Oder muss man für die heutige Kunst nicht nur Rahmen haben (der Rahmen macht die Kunst) sondern auch einen riesigen Neubau (das Gebäude macht die Kunst)?

Kunsthalle Mannheim, Eingangsbereich
Ein kleiner Teil des Eingangsbereichs mit Anselm Kiefers "Sefiroth".

Es gibt als "Kuben" bezeichnete Räume, da wird tatsächlich konventionell gehängt. Aber warum müssen diese Räume denn "Kuben" (cubes) heißen, es sind doch gar keine! Ein Kubus hat sechs Quadrate als Begrenzungsflächen, zum Glück sind diese Räume aber nicht so hoch wie sie breit und lang sind. Vielleicht hätte "Raum" oder "Saal" zu altbacken geklungen. Also dann eben "Cubes", meinetwegen.

Weite Wege legt man zurück, über Treppen, über Brücken, über Galerien - ein Schrittzähler würde nach einem Besuch eine mittlere vierstellige Anzahl von Schritten anzeigen. Unterwegs sieht man dann mal dies und mal das, und manchmal zum Glück auch etwas richtig gutes. Und manchmal etwas zum Kopfschütteln. Von einer Brücke aus haben wir in einen nicht nutzbaren Raumteil geschaut, der etwa 5 Meter breit und 10 Meter tief ist und rund 20 Meter hoch - und kein Weg führt hinein. Ein toter Raum mit weißen Wänden (den muss ich beim nächsten Besuch fotografieren). Dass dieser tote Raum im Winter automatisch mitgeheizt wird, weil zum Hauptraum offen, ist natürlich ein Ding...

Mannheim Kunsthalle
Irgendwo waren Porzellanfigürchen ausgestellt, darunter diese wunderschöne junge Dame,
die sich auch über manche Eigenarten des Neubaus erstaunt zeigt.

Die meisten Gemälde kannte ich von früheren Besuchen, viele nicht mehr gezeigte Bilder und Skulpturen (wegen den leer bleiben sollenden Wänden) findet man im "Schau-Depot" - eine wirklich nette Idee, man würde sich mehr von dieser Art von Präsentation wünschen.

Der Höhepunkt für mich ist ganz klar der Raum mit Werken von Anselm Kiefer: Frostig-kalte braun-/weiß-/bleifarbene Landschaften wie norwegische Fjorde im Winter, darauf montiert Objekte wie zum Beispiel ein Schlachtschiff aus gebogenem Blei oder eine Waage oder ein altes germanisches Blasinstrument. In diesem beeindruckenden Raum waren wir lange. Vermutlich wird hier immer mal wieder umgehängt, denn die Kunsthalle hat jede Menge Werke aus der Kiefer-Sammlung des verstorbenen Sammlers Grothe.

Sehr gut gefallen hat mir das Triptychon "Birkenstück" (1984) von Ralph Fleck. Man könnte meinen, dieser habe sich von der Malweise (oder Spachtelweise) Kiefers anregen lassen. Auf Abbildungen kommt das gleichermaßen Wuchtige wie Mystische dieser drei grossen Leinwände leider nicht zum Ausdruck: Das ist Kunst, die man im Original sehen muss.

Zur Ausstellung "Umbruch":

Gar nicht gefallen hat mir „Spheres of Doubt“, eine Werkserie von Hu Xiaoyuan. Sie arbeitet viel mit Stahl und Seide. Dass der Stahl zum Teil von illegalen Bauten von Wanderarbeitern stammt, ist nett zu erfahren, macht aber das "Werk" kein bisschen besser. Auch dass die Seide ihre Patina bekam, indem sie die Künstlerin "selbst"(!) im Hof ihrer Eltern den Elementen und Tieren aussetzte - nun ja. Ehrfurcht erweckt das bei mir nicht.

Auch der "Resonanzraum, Mannheim" von Nevin Aladag liess mich kalt. Schön, dass damit ein ganzer Raum zum "Resonanzkörper" für die Musik von ortsansässigen Musikern werden soll, diese werden's der Künstlerin danken. Als Elke etwas trommelte, kam jedenfalls gleich die Aufsicht: Trommeln ist nicht erlaubt. Vielleicht muss man tatsächlich "ortsansässig" sein, und wir sahen einfach zu heidelbergerisch aus.

Gefallen hat mir die Installation "Mother's Legs" der Künstlerin Kaari Upson: Eine Menge Skupturen in der Form riesiger Beine hängen von der Decke, hinter denen man sich verstecken könnte wie hinter Mutters Beinen, wenn es brenzlig wird. Und zack kann man sich in die Kindheit zurückversetzt fühlen.

Clément Cogitore: Les Indes Galantes hätte gut (oder mindestens lustig) sein können, aber die Filmaufnahmen von mehr oder weniger trampelig oder tapsig "tanzenden" Street-Dance-Akteuren zu den Klängen von Rameaus "Les Indes Galantes" waren mit einer einfachen Kamera aus nächster Nähe mit einer sehr hektischen und wackligen Kameraführung aufgenommen, und die Präsentation auf großer Leinwand mit sehr geringem Abstand erzeugte fast schon Kopfschmerzen. Schlecht präsentiert also. Da das ganze natürlich auf Rassismus, Diskriminierung und soziale Ausgrenzung reagiert, hätte vielleicht etwas mehr Multi-Kulti nicht geschadet, der Schwerpunkt war zu stark auf "coloured people", nix mit Asiaten, Indios, Bulgaren, ...

Ein "Rückblick auf die Neue Sachlichkeit" stellte drei Künstlerinnen vor, die angeblich zu Unrecht "vergessen" oder "übersehen" sind. Aber auch wenn einiges nette dabei war: es handelt sich weder um die erste noch die zweite Garnitur, und überhaupt waren weder Hanna Nagel noch Jeanne Mammen vergessen, eher schon Anita Rée.

Die Räumlichkeiten waren zu groß für die Exponate der Ausstellung "Umbruch". Deswegen hat man sie mit Baugerüsten und Podesten und Rampen präsentiert, was viel Raum verbraten hat. Man muss es schon so sehen: Das dünne Material konnte mit der Baustellenchose etwas aufgeplustert, präsentabel gemacht werden. Natürlich kann man davon schwadronieren, dass diese Präsentation das Thema der Ausstellung, den "Umbruch" aufnimmt, auf das Unfertige, den "Baustellencharakter" hinweist. Na ja, wenn's hilft.

Das Schrecklichste, was wir in der Kunsthalle gesehen haben, waren zwei Installationen von John Bock, die offenbar aus Performances hervorgegangen sind. Letztlich ein Sammelsurium von hingestellten oder -geschmissenen Sperrmüll. Man kann die Installationen auch als gelungene Illustration von Kurt Schwitters' Satz "Alles, was ein Künstler spuckt, ist Kunst" sehen. Man muss nur (schon) einen Namen haben, dann kann man alles machen...

Anschließend gingen wir quer durch die Stadt zur Anlegestelle des Mannheimer Museumschiffs, das einem ungewissen Schicksal entgegensieht. Alles und noch viel mehr zum Schiff in der Wikipedia.

Mannheimer Museumsschiff
Das Mannheimer Museumsschiff, die "Mainz"

Talan George - Fahrradtour von England nach Kambodscha

(29.09.2020) Meine längste Fahrradtour war 9 Wochen lang und ging von Heidelberg über Basel, den Lago Maggiore und weiterer Ziele in Norditalien bis nach Venedig, und über den Gardasee, Bozen, Innsbruck und München zurück bis Ulm, wo unsere Fahrräder (nicht wir!) am Ende waren. Im Vergleich mit der Tour von Talan George war das allerdings nur eine kleine Spazierfahrt, denn er fuhr von Bristol in England quer durch Europa, und über den Iran, Turkmenistan usw, China, Vietnam letztlich bis Kambodscha. Unterwegs war er von Anfang Mai 2011 bis Ende Februar 2012. Das nenne ich eine Radtour! Seine Erlebnisse und Erkenntnisse hat er in einem Wordpress-Blog beschrieben, das aber auf Dauer so nervig zu lesen war, dass ich mir schlussendlich den ganzen Text gespeichert und für den Kindle aufbereitet habe. So konnte ich vor dem Schlafengehen immer einige wenige Seiten bequem lesen, weswegen ich allerdings für den buchlangen Text auch einen ganzen Monat brauchte.

Talan war zwar allein unterwegs, war aber unterwegs häufig mit wechselnden Partnern bis zu mehreren Wochen zusammen. Das Schöne und das Üble an dieser Art zu reisen kann man leicht nachvollziehen, auch wenn man nur zwei Monate innerhalb von Mitteleuropa (Deutschland, Schweiz, Norditalien, Österreich) unterwegs war. Mir hat die Lektüre Spaß gemacht und an viele eigene Erlebnisse erinnert. Auch wenn Talan unterwegs Radler in meinem Alter getroffen hat und teilweise über Tage und Wochen mit ihnen unterwegs war, würde ich so eine lange Tour nicht mehr machen wollen. Schon die beschriebenen Unannehmlichkeiten mit der Visabeschaffung bei korrupten Beamten würden mich mächtig frustieren. Seine abschließende Zusammenfassung (quasi "Lessons learnd") ist unabhängig vom Kontext "Fahrradtour" gewinnbringend zu lesen.

Auftritt mit den Lightnings im Cafe Art, Walldorf

(25.09.2020) Wieder einmal ein Auftritt im Cafe Art in Walldorf - da trete ich immer gerne auf: Nettes Ambiente, gute Bühne, nette Leute, gutes mitgehendes Publikum - was will man mehr.

Lightnings, Cafe Art, Walldorf, 25.09.2020
Von links: Waldemar Martin (kb), Claus Hochgeschwender (g), Klaus Petrick (dr), Béla Hassforther (b)
Aufnahme: Elke Konstandin-Hassforther

Wie üblich ein langer Tag: Treffen um 16 Uhr, zum Proberaum und Anlage in die Autos räumen, Fahrt zum Veranstaltungsort, Autos ausräumen, aufbauen, Soundcheck, warten, Auftritt von 20h15 bis 24 Uhr, abbauen, in die Autos räumen und zurückfahren. Um ca 1h15 zuhause. Die Autos haben wir erst am nächsten Tag ausgeräumt und die Anlage bei der nächsten Probe wieder aufgebaut.

Lightnings, Claus Hochgeschwender, 25.09.2020
Lightnings-Gründungsmitglied Claus Hochgeschwender an der Gitarre
Aufnahme: Elke Konstandin-Hassforther

Wolfgang Matz - "Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge"

(13.09.2020) Inhaltlich ist das ein ganz ausgezeichnetes Buch, welches nach einer baldigen Zweitlektüre verlangt. Das Äußere dagegen hinterläßt leider einen zwiespältigen Eindruck: Ein angenehmes Format, ein gut zu lesendes Schriftbild - aber die Lektüre wird einem deutlich verleidet dadurch, dass man es ständig mit Gewalt auseinanderdrücken muss. Für ein Buch, das ohne Abbildungen immerhin 29,90 Euro kostet, empfinde ich das als sehr ärgerlich.

Wolfgang Matz, Adalbert Stifter

Wolfgang Matz liebt sein Sujet, den Schriftsteller Adalbert Stifter und dessen Zeit. Natürlich ärgert ihm auch vieles, am Menschen Stifter und an dessen Zeit. Das macht das Buch aber umso spannender, und abwechslungsreich zu lesen. Man merkt die langjährige Beschäftigung mit dem Thema nicht nur an der intimen Kenntnis der Primär- und Sekundärliteratur, auch daran, dass er seine erstmals 1995 erschienene Arbeit 2016 noch einmal überarbeitet und erweitert herausgibt. Obwohl manche Texte von Stifter nur auf wenigen Seiten abgehandelt werden - der Inhalt und die Hintergründe sind von Matz ausgezeichnet zusammengefasst und auf den Punkt gebracht. Sein 391 Seiten starkes Buch lässt sich kaum angemessen zusammenfassen, zu komprimiert und inhaltsreich ist es. Im Folgenden also auch nur einige Aspekte.

Stifter gilt oft als harmloser biedermeierlicher Idylliker. Vielleicht hatte er davon zur Zeit seiner erste Erfolge auch etwas. Aber relativ bald lässt er diese Phase deutlich hinter sich und entwickelt sich zu einen der abgründigsten Schriftsteller, die ich kenne. Das erste Buch, welches ich von Stifter gelesen habe, war der "Nachsommer", angeregt durch das Lob Friedrich Nietzsches, der vom "Nachsommer" als von einem Buch spricht, das es verdient hat, "wieder und wieder gelesen zu werden". Und Thomas Mann merkt an, dass "hinter der stillen, innigen Genauigkeit gerade seiner Naturbetrachtung eine Neigung zum Exzessiven, Elementar-Katastrophalen, Pathologischen wirksam ist". Seinen Riesenroman "Witiko" habe ich dreimal gelesen und werde ihn sicherlich noch einige Male lesen.

Stifter (23.10.1805-28.01.1868) ging von November 1818 bis Sommer 1826 auf das Gymnasium im Stift Kremsmünster. Von Anfang an war er Klassenprimus, die Schule verließ er mit dem besten Zeugnis seines Jahrgangs. In Wien studierte er zwar offiziell Jura, hat das Fach aber nicht geliebt, auch keine Alternative gewusst, und liess sich als Folge von seinen Interessen treiben und absolvierte eine Art von Studium Generale. Mit Hauslehrerstellen finanzierte er sein Leben. Zu Anfang waren seine Uni-Leistungen wie in der Schulzeit noch ausgezeichnet, das liess aber nach und Stifter blieb letztlich ohne Abschluss.

Wolfgang Matz wird nicht müde, fassungslos Stifters Versagen zu kommentieren, aber hat Stifter wirklich versagt? Hat er nicht vielleicht deutlich gesehen, dass er in dieser Institution, in diesem Beruf keinen Platz hat, dass seine Interessen und Stärken woanders liegen?

So ähnlich liegt der Fall mit seine Liebe zu Fanny Greipl. Er liebt sie wohl wirklich, irgendwie, weicht aber immer wieder zurück, geht Festlegungen aus dem Weg, und nach vielen Jahren hat Fanny von dem Zirkus endlich genug. Letztlich heiratet Stifter im November 1837 Amalia Mohaupt, die er 1832, schon während der Zeit des halbherzigen Werbens um Fanny kennen- und körperlich lieben lernt, die aus ärmlichen Verhältnissen kommt, schon Erfahrungen mit Männern hatte, für die Stifter selbst als Studienabbrecher eine gute Partie war. Für Matz nicht nachvollziehbar, aber natürlich wird Stifter, ein Mensch, der gerne gut und viel ass, gerne gut und viel trank, gemerkt haben, dass er bei Amalia gut und viel vögeln konnte, bei Fanny aber nicht. Und so wählte er Amalia. Ein Unterstützung bei der schrifstellerischen Arbeit hatte er nicht nötig, das wusste er, da hätte auch Fanny nicht helfen können.

Das Paar Adalbert und Amalia lebt durchaus egoistisch: Ein Beispiel. Vor ihrer Verheiratung lebte Amalia mit ihrer Schwester Josepha bei einer entfernten Verwandten. Zwischen Oktober 1836 und April 1837 mietete Stifter eine zweite Wohnung an, in der dann Amalia und Josepha wohnten und angeblich Josepha dann ein Kind gebar - ohne bekanntem Vater. Matz vermutet mit guten Gründen, dass dieses Kind ein uneheliches Kind von Adalbert und Amalia war, und mit Josepha ein Arrangement getroffen wurde, dass sie es als ihres ausgab. Vier Wochen später war das Kind dann tot, (wieder) aus der Welt... Stifters damalige Stellung als Hauslehrer in den bigotten bürgerlichen und adligen Haushalten wäre nicht mehr zu halten gewesen, wenn er mit einer Frau von zweifelhaften Ruf ein uneheliches Kind gehabt hätte. Dass aus der Ehe trotz Stifters angeblicher Kinderliebe kein Kind entsprang, deutet Matz als das Ergebnis einer Abtreibung eines weiteren Kindes mit "ungesunden" Mitteln. Das ganze würde nach Matz auch erklären, warum Stifter und Amalia ihr Leben lang zusammen blieben - es war das Bewusstsein einer gemeinsamen Schuld.

Amalias Schwester Josepha war lungenkrank und starb noch im März 1838 allein in einem Wiener Krankenhaus, wobei die Akten keine Verwandten bezeichnen. Auch nach dem Tod wurden keine Verwandten gefunden, Josepha also in einem Armengrab verscharrt. Der Schluß liegt nahe, dass das Ehepaar Stifter die Beerdigungskosten sparen wollte und Josepha in einem öffentlichen Krankenhaus einsam dahinsterben ließen. Matz schreibt sehr schön, dass solche Beispiele aus dem eigenen Leben Stifter sehr deutlich zeigten, "wie dicht jedes Menschenwesen am Abgrund der Barbarei dahinlebt"(S.129)

Diese Barbarei der Stifters wird - um noch ein Beispiel zu geben - auch im Verhalten zu den Kindern von Amalias Bruder Philipp Mohaupt deutlich, dessen Frau im Herbst 1845 verstorben war. Wohin mit den vier Kindern, war das Problem. Natürlich nicht zu den Stifters, das kann "keine menschliche und göttliche Macht von mir verlangen, da ich die Mittel nicht besitze, und für mein eigenes Alter zu sorgen habe"(S.218) Im Jahr darauf nahmen die Stifters dann doch immerhin die sechsjährige Juliane bei sich auf, aber nie gibt es ein Zeichen der Zuwendung, in keinem seiner Briefe aus Linz an die noch in Wien zurückgebliebene Amalie findet sich ein Gruß an Juliane. Sie musste bei den Stifters als Hausmädchen arbeiten, wurde oft verschimpft, geschlagen. 1851 verschwand Juliane erstmals für zwei Wochen, nachdem sie heftig geprügelt wurde. Im März 1859 schließlich verließ sie die Wohnung endgültig und machte ihrem Leben in der Donau ein Ende. Stifter wusste natürlich, dass auch er dafür verantwortlich war, auch wenn es in der Nachbarschaft nur hieß, Amalia hätte das Kind als Dienstmädchen behandelt, geschlagen, in ihrem Geiz halb verhungern lassen, regelrecht mißhandelt. Der Herr Schulrat Stifter hat bei alledem die Augen zugedrückt, das wird er gewusst haben, auch wenn er dann zahllose entschuldigende Briefe schreibt und behauptet, "daß weder meine gute, treffliche Gattin noch in entferntester Hinsicht ich an diesem Ende Schuld sind".(S.305)

Man streicht vieles an in diesem Buch, manche Sätze von Matz habe ich doppelt und dreifach angestrichen, zum Beispiel diesen aus dem "Hagestolz": "Das Leben ist lebbar nur in einem fruchtbaren Kreislauf von menschlichen Beziehungen; wer sich aus diesem ausschließt, ist verloren für alle Zeit."(S.202)

Oder anlässlich von Stifters ständiger Geldforderungen an den Verleger Heckenast, die "nicht weit entfernt von der Grenze zur Bettelei"(S.206) seien: "Das Wahrscheinlichste ist, dass die Stifters schlicht über ihre Verhältnisse lebten, dass die Reize, die materieller Wohlstand zu verschaffen vermag, eine erhebliche Rolle spielten im ehelichen Glück. Stifter, der in seinen Schriften den Wert des einfachen und bescheidenen Lebens feierte, besaß selbst nichts davon."(S.207)

Was Stifter aus eigener Erfahrung, aus eigenem Erleben klar wusste ist, dass die Menschen eine "tigerhafte Anlage" haben: "Die 'tigerhafte Anlage' des Menschen kann die naive Zuversicht, 'es gibt doch gewisse Dinge, [...] von denen man gewiß weiß, daß man nie fähig wäre, sie zu begehen' in einem einzigen Augenblick hinwegfegen. Zuversicht, das ist der ruchlose Optimismus jener guten Menschen in der kurzen, doch entscheidenden Rahmenhandlung [in der Erzählung gleichen Namens], die sich selbst für unanfechtbar halten."(S.221) Jeder, absolut jeder und jede, kann jederzeit auch als grausames Raubtier handeln. "Wem aber diese Zuversicht fehlt, diese optimistische Fähigkeit zum Selbstbetrug, der weiß, dass auch er zu allem fähig wäre, der weiß sich vor keiner Untat sicher."(S.222)

Neues Ölbild "balls"

(07.09.2020) Am 29.5, habe ich das Scribble für das neue Bild gemacht, gestern die Komposition im vorgegebenen Rahmen festgezurrt. Und heute zügig in einem Rutsch gemalt, wobei es Spaß machte, trotz des kleinen Formats 30cmx40cm ausschließlich mit einem zwei Zentimeter breiten Pinsel zu malen. Der Titel "balls" ist aussagekräftig genug; ob Mensch, ob Tier - who knows...

Neues Ölbild balls
"Balls", Öl auf Malpappe, 30 cm x 40 cm

Metropolink-Festival 2020 Heidelberg (PHV)

(14.08.2020) Als wir letztes Jahr das Metropolink-Festival im neuen Heidelberger Stadtteil Patrick-Henry-Village besuchten, war alles anders: Es war sonnig, es gab keine Corona-bedingten Einschränkungen, es gab viel Streetart zu sehen (weswegen wir überhaupt hingingen), im ehemaligen Kaufhaus der Amerikaner arbeiteten Künstler an ihren Werken und konnten zu ihrer Arbeit befragt werden und so weiter. Man ahnt es: Dieses Jahr war einiges anders. Es regnete kräftig, weswegen man den Shuttle-Bus nehmen musste. Wann der fuhr, war auf der offiziellen Metropolink-Homepage nicht bekannt gemacht, weswegen wir ca 45 Minuten warten mussten (die Abfahrszeiten wurden nur über Facebook kommuniziert, wie wir auf Nachfrage erfuhren: Muss man das also haben? Gehen die Veranstalter davon aus, dass es jeder hat?) Dort angekommen war noch nicht alles für den Einlaß ab 19 Uhr vorbereitet, also anstehen im Regen, mit Maske, selbstverständlich. Streetart?? Ja wo ist sie denn? Das alte Kaufhaus war zu, also da schon mal nicht. Einiges Neue war beim genaueren Hinsehen im eingezäunten und bewachten Bereich dann doch zu entdecken. Das mir am interessantesten erscheinende Gemälde (ein Schimpansenkopf von Czolk) war nicht zugänglich, ich hätte einige Meter hinter die Absperrung müssen, das erlaubte aber der scharfe Aufpasser nicht. So war nur eine Schrägansicht möglich. Einfach nur schade.

Tanzen im Regen
Tanzen im Regen? Gute Idee

Es klart auf
Langsam klart es auf

Schimpanse von Czolk
Der fast nicht zu sehende Schimpanse von Czolk

Ach ja, es gab noch Musik, die Berlinerin "Dalee", die angeblich "mit ihrem Sound aktuell die junge „R’n’B“ und „Neo Soul“ Szene in Deutschland" "erobert" war mit einem richtig guten Keyboarder da. Die Ansagen und Lyrics von Dalee gefielen mir allerdings nicht, die Häufung an Plattituden war nervig. Da war der Feminismus Mitte der 70er-Jahre deutlich reflektierter.

Immerhin hat im Rahmen des Metropolink-Festivals der Heidelberger Hauptbahnhof mit dem riesigen Wandgemälde des spanischen Künstlerduos PICHIAVO einen richtigen Hingucker bekommen. Das Duo nimmt in ihrem Gemälde Bezug auf Adamo Tadolinis (*1789 – †1868) Skulptur "Ganymed mit dem Adler"; hier gibt es einige Informationen dazu.

Pichiavo in Heidelberg
Klassik trifft Graffiti im Heidelberger Hauptbahnhof:
Das spanische Künstlerduo PICHIAVO

Mondsichel

(23.06.2020) Sehr schöne Mondsichel. Zunächst visuell durch einen kleinen Refraktor 80/400 bei 57x Vergrößerung angeschaut, dann mit einem Samsung S7 Smartphone durch das Teleskop fotografiert. Die Aufnahme gibt nur eine schwache Vorstellung von dem wunderschönen plastischen Eindruck wider. Leider stand der Mond schon etwas tief am Himmel, weswegen die Luftunruhe deutlich spürbar war. Eine höhere Vergrößerung hätte sich nicht gelohnt.

Mond 23.06.2020
Mond am 23.06.2020 um 22h35MESZ (20h35UT), Mondalter 2,58 Tage.
Samsung S7 durch Refraktor 80/400 mit 7mm Okular.

Nachtleuchtende Wolken (Noctilucent Clouds = NLCs)

(21.06.2020) Das sind die ersten Nachtleuchtenden Wolken, die ich in diesem Sommer gesehen habe. Nicht besonders beeindruckend, auch hatten sie Konkurrenz durch normale Wolken. Aber die typischen Streifenmuster waren da.

NLCs, 21.06.2020
NLCs, 21.06.2020, 23h43MESZ, EOS450D, 4,5/34mm, 15 Sekunden belichtet.
Die Nachtleuchtenden Wolken sind die hellblauen Streifen.
Capella (alpha Aurigae) ist der hellste Stern.
Links von Capella ist beta Aurigae (unten genau in der Mitte).

Grzegorz Rosinski & Jean van Hamme - "Die große Macht des kleinen Schninkel"

(05.05.2020) Seit 1977 arbeiteten Rosinski und van Hamme zusammen an der bis heute laufenden Serie Thorgal. Beide wollten zwischendurch mal etwas anderes zusammen machen: Rosinski wollte etwas nur in Schwarz-Weiß zeichnen, van Hamme sich vom üblichen Albumformat von 48 Seiten lösen und eine größere Geschichte erzählen. Herausgekommen ist 1986/1987 "Die grosse Macht des kleinen Schninkel". Die Schwarz-Weiß-Fassung wurde allerdings 2001 unter Rosinskis Vorgaben und unter seiner Aufsicht von Graza Kasprzak koloriert, wobei man das Ergebnis nur als gelungen bezeichnen kann.

Schninkel

Die Geschichte lehnt sich an das Neue Testament an, durchaus auch ironisch, durchaus auch mit Humor, nimmt aber auch Anleihen aus anderen Zusammenhängen auf, zum Beispiel den schwarzen Quader aus "2001" oder das sexy Tentakelwesen aus Moebius' "The long Tomorrow".

Köstlich ist, wie der schwarze Quader, der selbsternannte "Herr und Schöpfer der Welten", zugibt, mit seinem Zeitmanagement an seine Grenzen zu stoßen; auf die Frage des kleinen Schninkel, warum ausgerechnet er zum Retter des Planeten Daar ausgewählt wurde, antwortet der Quader: "Weil du zur Stelle bist. Ich wache über eine Unzahl anderer Welten und Milliarden und Abermilliarden von mir geschaffener Wesen. Glaubst du, ich hätte die Zeit, mir hier einen anderen zu suchen? Also bist du der Auserwählte, J'on!". Wie der biblische Gott behauptet er also nichts anderes, als allmächtig zu sein, ist aber nicht in der Lage, für Frieden auf dem Planeten Daar zu sorgen. Aber vernichten kann er natürlich den Planeten, wenn die Bewohner nicht endlich Frieden schließen. Nun ja.

Eine wunderschöne Liebesgeschichte gibt es zwischen dem Schninkel J'on und seiner ersten Anhängerin G'wel, nur traurig, dass es J'on nie gelingt, mit ihr sich richtig zu vereinen, immer kommt was dazwischen. Immerhin kann er (dafür auch kurzzeitig in eine virile andere Gestalt verwandelt), mit der Seherin Volga (der Tentakeldame, die sich kurzzeitig in eine blonde Sexbombe verwandelt) eine heiße Liebesszene mit allem Drum und Dran erleben.

Letztlich wird J'on zwar nicht ans Kreuz geschlagen, aber in ebendieser Haltung an einen (nicht-schwarzen) Quader gekettet und von den drei "unsterblichen" Herrschern des Planeten getötet. Obwohl zwar der Planet nun befriedet scheint (denn die drei vorher verfeindeten Herrscher haben sich im Kampf gegen den durch J'on entstandenen Aufstand verbunden), wird durch den Auftritt von N'om, dem Ketzer, der den höchsten Gott verflucht, alles wieder anders und der beleidigte oberste Chef vernichtet mit Pech und Schwefel (fast) alles Leben auf dem Planeten.

Die Story mag ihre Schwächen haben, die Amazonenkriegerinnen zum Beispiel haben ein Auge zugenäht, weil ihrer Herrscherin auch ein Auge fehlt, aber wie kann man einäugig (von barbusig ganz zu schweigen) kämpfen und mit Pfeilen von Pferden aus schiessen? Aber die Graphik ist vom Feinsten, wozu man auch die Farbgebung zählen muss. Den Band mit seinen immerhin 192 Seiten (und 1,29 kg Gewicht) mehrmals zu lesen und immer wieder durchzublättern ist ein Genuss.

Viele Informationen zum Comic findet man im Forum des Comic-Stammtischs.

Fritz J. Raddatz - Tagebücher 2002-2012

(27.04.2020) "Wenn schon, denn schon" dachte ich: Nach dem ersten Band wollte ich nun auch den zweiten Band der Raddatz-Tagebücher lesen. Und auch dieser Band hat sich wieder kurzweilig lesen lassen, denn anders als bei meiner gegenwärtigen Hauptlektüre, der neunbändigen Tagebuch-Ausgabe von Harry Graf Kessler, gibt es im Text keine langen tiefschürfenden Analysen, sondern es dominiert das Jammern und Schimpfen auf die Zeit und die Zeitgenossen, das Klagen über das Altwerden und die Krankheiten, und das alles garniert mit Tratsch.

Raddatz Tagebücher 2002-2012

Es ist schon nervig, dieses Schimpfen über Touristen, über Sandalenträger, über Männer in kurzen Hosen und die aktuelle Kleidung allgemein, über Tischsitten, über alles und jeden. Raddatz ist aus der Zeit gefallen, er versteht nicht, wie man sich leger und bequem anziehen kann, warum man das überhaupt wollen kann, er versteht nicht, dass andere Menschen einen anderen Geschmack haben können. Er bekommt aber mit, dass er immer mehr als wunderliche Figur wahrgenommen wird, dass seine Werte nicht mehr gelten. Sein Distinktions-Konsumismus zieht nicht mehr. Mich hat er immer mehr an den alten Casanova im Fellini-Film erinnert, der am Ende von den Bediensteten nur noch ausgelacht wird.

Noch kritischer springt er mit Kollegen um und mit Schriftstellern, die er als Kollegen sieht. Seine Kritik macht sich zunehmend an Äußerlichkeiten fest, besonders kritisiert er die Eitelkeit und die Egozentrik seiner Kollegen, ohne sich einzugestehen, dass er bei diesen Maßstäben locker alle anderen toppt. Er schmachtet nach Lob und Anerkennung wie alle anderen auch.

Sein Lebensekel ist manchmal schwer zu ertragen, aber nur aus diesem Ekel heraus ist verständlich, dass er tatsächlich wie von ihm lange geplant in der Lage war, in der Schweiz Sterbehilfe zu suchen und seinem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen.

Im Vergleich zum ersten Band gibt es nicht viel neues an Themen, es wird einsamer um ihn, weil die Kollegen nach der Veröffentlichung seines ersten Bandes teilweise ganz schön bedient waren und manche Freundschaft in die Brüche ging. Und natürlich sterben die alten Kämpen einfach weg.

Übrigens amüsant zu lesen, dass viele der vorgestellten Schriftsteller irgendwann ein zur Veröffentlichung vorgesehenes Tagebuch schreiben und sich bei jedem Treffen, bei jedem Besuch schon Gedanken machen, was nun der andere darüber schreiben wird. Wie klein die Themen geworden sind. Tratsch: Damit endet die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft. Tratsch: Der bestimmt die letzten Themen. Tratsch: Der macht andererseits auch dieses Buch überhaupt erst interessant... Tatsächlich interessant sind im Übrigen die Auslassungen über Schwulensex.

Luis Trenker erzählt

(10.04.2020) Ich bin inzwischen in dem Alter, in dem man seine Erinnerungen schreibt (wenn man meint, das machen zu müssen), und so versuche ich mich auch an Fernsehsendungen zu erinnern, die ich als Kind und Jugendlicher in den sechziger Jahren gesehen habe. Dazu gehört auch solch originelles Material wie "Luis Trenker erzählt": Ein älterer Herr, alleine vor der Kamera, überquellend von Geschichten, die er erzählen möchte, begeistert und begeisternd bei der Sache, sympathisch, emotional und trotzdem mit klarem Kopf. Man kann es sich kaum vorstellen, dass dieses Sendungsformat früher auch Kindern gefallen hat. Schaut man sich jetzt auf YouTube einige dieser Sendungen an, muss man schon irgendwie den Hut ziehen: Man hört zu, und unversehens sind 10 Minuten, sind 20 Minuten vergangen, und plötzlich hat man wieder eine Sendung zu Ende gesehen. Und bereut es nicht.

Luis Trenker

Luis Trenker

Zwei Fotos die zeigen, wie ein Erzähler sein Publikum durch Körpersprache fesseln kann.

Sergio Leone - "Für eine Handvoll Dollar" (Italowestern)

(10.04.2020) Aus einer spontanen Idee heraus angefangen, auf YouTube den 1964 gedrehten Film anzuschauen und nicht mehr weggekommen. Hat mir gut gefallen, war spannend. Die Großaufnahmen der verschwitzten und dreckigen Gesichter immer wieder amüsant anzusehen.

Sergio Leone, Für eine Handvoll Dollar

Clint Eastwood als Idealbesetzung für die Rolle des geheimnisvollen Fremden, der schießen kann wie ein Teufel, aber nur mit einem Maultier daherkommt. Manchmal stört seine Frisur, die zu arg nach vorherigem Friseurbesuch aussieht. Die ganze Gewalt im Film: Gegessen. Kann man nicht ernst nehmen. Herrliche Dialoge, fast schon humoristisch:

Der Fremde zum Sargmacher:
"Mach drei Särge fertig!"
Nach getaner Arbeit (er knallt vier von Baxters Leuten ab):
"Hab' mich geirrt: Wir brauchen leider vier."

Und natürlich - nicht zu vergessen - die herrliche Musik von Ennio Morricone.

Fritz J. Raddatz - Tagebücher 1982-2001

(06.04.2020) So etwa von 1977 bis vielleicht Anfang der 80er Jahre habe ich die ZEIT gelesen, wenn auch nicht ganz regelmäßig. Fritz J. Raddatz war zu dieser Zeit (1976 bis 1985) Chef des ZEIT-Feuilletons und brachte die in meinen Augen interessantesten Interviews und Beiträge - ich habe ihn gern gelesen. Manchmal war er mir zu reißerisch oder hing zu sehr den Besserwisser und Bessermenschen raus. Die ZEIT habe ich allerdings ab Anfang der 80er Jahre nur noch sehr selten gelesen, mir war die Zeitung zu tantenhaft, und mit Herausgebern wie Helmut Schmidt auch nicht unbedingt sympathisch. So habe ich auch den Rausschmiss von Raddatz aus der ZEIT nur am Rande mitbekommen.

Raddatz, Tagebücher 1982-2001

Das Tagebuch habe ich nur halbherzig angefangen, war aber bald gepackt und habe das dicke Buch in vier oder fünf Tagen fertig gelesen (man ist halt inzwischen Rentner...).

Umtriebig ist er, der Raddatz, heute hier, morgen da, immer am Pulsschlag des Geschehens, ein Jetsetter in Sachen Kultur. Beachtlich, dass es sich eine Zeitung leisten kann (leisten konnte), die Spesen für einen Flug in die USA oder Mittelamerika oder sonst ein Land aufzubringen, mit teuren Hotels (Raddatz ist anspruchsvoll) und teuren Essen (Raddatz ist anspruchsvoll), für ein Interview mit zum Beispiel Susan Sontag, Gabriel García Márquez und vielen anderen. Und natürlich hat man mehrere Wohnsitze (einen auf Sylt), und natürlich kauft man Oberhemden nur in London, und natürlich ... und so weiter.

Was kostet es, Raddatz für ein Interview (zu zweit) zum Essen einzuladen, in ein Lokal (auf Sylt) seiner Wahl, mit Weinen seiner Wahl, wobei Raddatz nur einen Salat isst? Es kostet über 1300 DM (eintausenddreihundert), und der Interviewer wird wegen der Spesen einen schweren Stand bei seinem Vorgesetzten gehabt haben.

Das Manuskript wurde auf Wiederholungen durchgeschaut, wenn man aber zusammenzählt, wie oft Champagener getrunken wird, Austern gegessen werden, Hummer gegessen wird, Blumenschmuck besorgt wird, geklagt wird, dass der Besuch keinen Champagner mitgebracht hat, geklagt wird, dass Geschenke zu klein ausfallen, wie oft die Schriftsteller-Kollegen um den Ruhm beneidet werden, wie oft Passagen gelesen werden müssen, die von Eitelkeit nur so strotzen, dann hätte da durchaus rigoroser aufgeräumt werden müssen. Und eine Passage wie die, wo er von Streuselkuchen als "gräßlich" spricht, die hätte rausmüssen, unbedingt! So spricht man nicht vom besten Kuchen, den es gibt!

Keine schlechtmachende Anekdote zu Grass, Kempowski, Johnson u.a. wird ausgelassen, man merkt, wie Raddatz den Kollegen (den "richtigen" Schriftstellern) den Erfolg neidet. Und natürlich hat er dann auch selber begonnen, Belletristik zu schreiben - und ist doch leider in der öffentlichen Wahrnehmung der Feuilletonist geblieben.

Über das alles kann man aber letztlich doch hinwegsehen, zu interessant ist alles, was man über "den Betrieb" erfährt, über das menschlich-allzumenschliche der berühmten Schriftsteller (und Feuilletonisten). Und natürlich auch, dass immer mal wieder Raddatzens Homosexualität thematisiert wird, und von Dutzenden von weiblichen und über 1000 männlichen Geschlechtspartnern gesprochen wird - das ist natürlich auch ein Erfahrungsschatz der menschlichen Komödie, über den nicht jeder verfügt...

In einigen Passagen spricht er mir aus der Seele, zum Beispiel bei der Kritik an Hans-Georg Gadamer, oder seine Einschätzung der George-Grosz-Kunst als "Pissoir-Zeichnungen". Andere Passagen (Kritik an Updike und Amerika, Thomas Bernhard, u.v.a.) sind dann wiederum eher ärgerlich. Aber was soll's - die Lektüre fand ich lohnend, lustig und spannend.

Adalbert Stifter - "Aus dem bairischen Walde"

(31.03.2020) Der vollständige Titel lautet: "Aus dem bairischen Walde. Erzählung." Nach der Originalhandschrift herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Paul Praxl. Morsak Verlag 2005.

Adalbert Stifter, Aus dem bairischen Walde

Das schmale Büchlein kommt recht wertig daher, es hat keine 100 Seiten, aber Schutzumschlag und Lesebändchen. Man kann sich fragen, ob man wirklich 12,80 Euro für eine kurze Erzählung ausgeben muss, denn das Büchlein umfasst 3 Seiten "Zum Text" und "Zu den Bildern", dann den Text mit Erläuterungen von Seite 12 bis Seite 81, wobei immer die linke Seite die Erläuterungen enthält (aber auch leer oder fast leer bleiben kann) und die rechte Seite den Text bietet (der nur 35 Seiten lang ist). Dann gibt es noch ein Nachwort, ein recht umfangreiches Literaturverzeichnis und den "Dank" von Paul Praxl. Und dann sind wir schon auf der Seite 93 und Schluß ist.

Liest man aber den Text, dann schweigen die kleinlichen Überlegungen zum Preis-Leistungs-Verhältnis, denn es ist genügend Leistung da. Stifter liest man langsam, genüßlich, hat Freude an den manchmal knorrigen Formulierungen, an manchen verzopften Ausdrücken. Und Stifter selbst ist ein recht knorriger Typ, wie man bei der Lektüre wieder mal bestätigt bekommt.

Von was handelt das Buch? Stifter ist krank und bekommt eine Kur in einer hochgelegenen Waldgegend empfohlen, dafür wählt er die ihm bekannte Gegend um den Dreisesselberg. Die umständliche Beschreibung des "warum" und wie er mit seiner Nichte Katharina hinreist, und mit wem und warum seine Frau nach Linz reist, und wie wunderschön der Wald ist nimmt den ersten Teil ein. Er bleibt etwas länger als geplant und plötzlich beginnt ein Schneesturm, "ein Naturereignis, das ich nie gesehen hatte, das ich nicht für möglich gehalten hätte, und das ich nicht vergessen werde, so lange ich lebe. Es wurde ein Schneesturm, wie ich ihn nie ahnte, und es wurden Wirkungen, die weit über mein Wissen gingen."[S.47] Drei volle Tage ging das. Die Beschreibung dieses Naturereignisses ist toll, Stifter ist darin ein Meister, aber gleichzeitig wundert man sich über seine Aufregung, warum so viel Post zwischen ihm und seiner Frau hin- und hergehen muss, warum er unbedingt nach Linz will und sich schließlich und endlich mehrere Leute mietet, die ihm einen Pfad in den Schnee trampeln, auf dem er nachfolgen kann. Er schreibt zwar, dass seine Frau krank ist, aber nicht, dass in Linz die Cholera ausgebrochen ist und er um das Leben seiner Frau fürchtet. Das ist schon etwas seltsam, denn so erweckt er den Eindruck, grundlos in Panik zu verfallen. Die Bevölkerung nimmt dieses Schneewunder recht gelassen, und es gehen immer mal wieder Leute trotz des heftigen Schneefalls in die Nachbardörfer oder kommen von dort. Also auch von "abgeschnitten sein" ist keine Rede. Jedenfalls schafft er es und trifft seine Frau, die sich wiederum über ihn die größten Sorgen gemacht hat, wohlbehalten an.

Interessant ist, dass das Buch in der Gegend spielt, in der Witiko seine spätere Frau Bertha kennenlernt. Den Hinweis, dass das Rosenbergergut, in dem Stifter unterkommt, Vorlage zu dem Haus ist, "in welches Witiko von Bertha geführt wurde", habe ich dankbar zur Kenntnis genommen - weiß ich doch nun, wo ich unbedingt hin muss, wenn ich die Schauplätze des "Witiko" irgendwann einmal aufsuche.

Ich habe das Buch langsam und mit Genuß gelesen und werde es nochmal lesen.

Auftritt mit den Lightnings im Cafe Art, Walldorf

(04.03.2020) Jeden Mittwoch ist im Cafe Art in Walldorf freie Bühne. Wir haben die Gelegenheit genutzt, sind mit wenig Equipment hingefahren und haben vier Titel als Band und zwei Titel als Begleitung von Nina, einer sehr begabten Sängerin, gespielt. Hat viel Spaß gemacht. Natürlich haben wir auch anderen Bands noch zugehört.

Lightnings mit Nina
Von links: Waldemar Martin (kb), Nina (voc), Béla Hassforther (b), Klaus Petrick (dr), Claus Hochgeschwender (g)

Ausstellung "Hans Baldung Grien" in der Kunsthalle Karlsruhe

(03.03.2020) Hans Baldung Grien ist nicht gerade der Maler meiner Wahl, die Verzeichnungen seiner Figuren gefallen mir überhaupt nicht, manchmal hat man das Gefühl, als wüsste er nicht genau, wie eine nackte Frau aussieht. Aber es ist seit sehr langer Zeit mal wieder eine Einzelausstellung mit viel Material, neben den Tafelgemälden auch viele Zeichnungen und Drucke. Also gehen wir halt mal hin.

Die erste Überraschung war, dass man nicht einfach so rein konnte: Man musste aussen Schlange stehen. Damit verbunden die zweite Überraschung: Die Ausstellung war sehr gut besucht, überwiegend altes Publikum, wir fielen also nicht unangenehm auf.

Hans Baldung Grien, Tod und Mädchen
Hans Baldung Grien - "Der Tod und das Mädchen", 1517, Kunstmuseum Basel
Ein sehr moralisierendes Werk: Der Tod hat das junge Mädchen schon am Schopf, es
bittet und ringt die Hände, die Tränen rinnen, aber der Kerl wird wohl nicht mehr locker
lassen, zeigt mit seiner freien Hand auch nach unten, zur Hölle. Und schon hat man wieder
ein Nackedei gemalt und eigentlich nur vor einem unsittlichen Lebenswandel warnen wollen.

Die gut gewählte thematische Sortierung der Ausstellung zeigt deutlich, dass Grien ein begabter Geschäftsmann war: Die betuchte (männliche) bürgerliche Käuferschicht goutiert nicht ganz überraschend nackte Frauen, also malt man einige Bildreihen, wo die Nacktheit zumindest naheliegt (also erlaubt ist), also Hexen, oder "ungleiche Paare", oder "Tod und Mädchen" (moralisierend, aber halt doch ein Nackedei).

Hans Baldung Grien, Mädchen
Ein Ausschnitt aus einer Zeichnung mit dem sperrigen Titel
"Scheibenriss mit Wappen des Jörg von Wittelshausen", um 1520/30
Mir hat die junge Frau mit ihrer tollen Frisur gefallen.

Die Zeichnungen haben mir besser gefallen als die Ölbilder, hier konnte Grien seiner Phantasie etwas mehr Raum geben. Die Motive der Zeichnungen sind selbstverständlich auch vielseitiger. Am Ende waren wir dann doch über zwei Stunden in der Ausstellung, und bereut haben wird den Besuch nicht. Der Kuchen in der Cafeteria war auch gut.

Oliver Sacks - "On the Move. Mein Leben"

(18.02.2020) Das 447 Seiten starke Buch liest sich spannend, anregend und extrem kurzweilig. Oliver Sacks kommt sehr sympathisch und menschlich rüber, man glaubt es sofort, dass er nicht nur ein blendender Wissenschaftler, sondern auch ein ausgezeichneter Arzt war.

Oliver Sacks, On the Move. Mein Leben

Von Sacks kannte ich bisher nur seinen Bestseller "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" und sein ausgezeichnetes Buch über "Migräne". Hier lernt man den Mann hinter diesen Büchern kennen und ist erstaunt: Sacks als aktiver Schwuler, Sacks als Leder tragender Motorrad-Fan, Sacks als Gewichtheber - aber natürlich nicht unerwartet Sacks als vielseitig interessierter Wissenschaftler, als kulturell hochgebildeter Mann, als Menschenfreund voller Empathie. Diese Vielseitigkeit macht das Buch zu einer hochanregenden Lektüre.

Kann man sich vorstellen, dass für Sacks das zwölfbändige "Oxford English Dictionary" das "schönste und erstrebenswerteste Werk der Welt" war, und er es während des Medizinstudiums einmal ganz durch las, sich auch später immer mal wieder einen Band als Bettlektüre vom Regal nahm?

Kann man sich vorstellen, dass Sacks in den Semesterferien einmal mit einem Freund durch Europa trampt und sie in Wien "jeden Schnaps kosteten, der der Welt bekannt war?"

Kann man sich heute noch vorstellen, wie schlimm und gefährlich das Leben für Schwule sogar in einer Weltstadt wie London war? "Wurde man entdeckt, konnte das zu hohen Geldstrafen, Gefängnis oder, wie in Alan Turings Fall, zu chemischer Kastration durch Zwangsverabreichung von Östrogen führen."

Sacks hat immer viel Tagebuch geschrieben, teils in Form von Briefen an seine Eltern, teils recht normal. Die vielen Auszüge, die er in "On the Move" daraus bringt, zeigen den äusserst lebendigen Schreibstil, den Sacks schon in jungen Jahren beherrschte.

Während einer Reise in Kanada lernt Sacks einen Professor kennen, der ihm folgendes rät:

"Sie müssen unbedingt reisen, wenn Sie die Zeit haben. Aber reisen Sie richtig, so wie ich reise. Ich lese immer über Geschichte und Geographie eines Ortes und setze mich damit auseinander. Unter diesem Blickwinkel sehe ich die Menschen, sehe sie in ihrem sozialen, zeitlichen und räumlichen Kontext. Nehmen Sie beispielsweise die Prärie; deren Besichtigung ist Zeitverschwendung, wenn Sie keine Kenntnis haben von den Legenden ihrer Siedler, dem Einfluss von Recht und Religion zu verschiedenen Zeiten, den wirtschaftlichen Problemen, den Auswirkungen, die sich aus der sukzessiven Erschließung ihrer Bonschätze ergeben. (...) Gehen Sie nach Kalifornien. Schauen Sie sich die Redwoods an. Die Missionsstationen. Den Yosemite-Nationalpark. Das Palomar-Observatorium. (...) Und gehen Sie nach San Francisco! Es ist eine der zwölf interessantesten Städte der Welt." [S.62/63]

Diese Predigt fiel auf fruchtbaren Boden:

"Unter den Redwoods verschlug es mir die Sprache - das war der Augenblick, in dem ich den Entschluss fasste, für den Rest meines Lebens in San Francisco mit seinem wunderbaren Umland zu bleiben." [S.67]

Zu Büchern hat Sacks ein wohltuend funktionales Verhältnis:

"Ich bin nie ein Buchsammler gewesen, wenn ich Bücher oder Artikel kaufte, dann wollte ich sie lesen und nicht vorzeigen. Daher reservierte Eric seine zerrissenen oder verschmutzten Bücher für mich, Bücher, denen der Umschlag oder die Titelseite fehlen mochte - Bücher, die jeder Sammler verschmäht hätte, die aber meinem Geldbeutel angemessen waren."[S.120]

Der Schreibakt ist für ihn immens wichtig:

"Ich habe den Eindruck, dass ich meine Gedanken durch den Akt des Schreibens, im Akt des Schreibens entdecke.[S.216]" Deswegen hat er auch immer etwas zu schreiben dabei und schreibt immer und überall. Fast 1000 Tagebücher hat er vollgeschrieben [S.436]. In diese schaut er aber nur selten: "Der Akt des Schreibens genügt mir. Er dient mir zur Klärung meiner Gedanken und Gefühle. Der Akt des Schreibens ist ein unentbehrlicher Bestandteil meines geistigen Lebens. Im Akt des Schreibens entstehen Ideen und nehmen Gestalt an." [S.437]

Wichtig für ihn ist auch seine Korrespondenz. Er hebt alle Briefe auf, die er bekommt, sowie die Kopien seiner eigenen Briefe. [S.437]

Kleinigkeiten: Er hat ein fotografisches Gedächtnis. Er ist gesichtsblind, kann also Menschen nicht am Gesicht erkennen. Er hat lange und häufig Drogen (Cannabis, LSD, ...) und Amphetamine konsumiert. Er schreibt nur mit einem Füller. An seinem 40. Geburtstag lernt er einen jungen Mann kennen, mit dem er eine Woche lang ein intensives sexuelles Verhältnis hat - und dann hat er 35 Jahre lang keinen Sex mehr. [S.232]

Das Buch zerfällt für mein Gefühl in zwei Teile: Zum einen in eine erlebnisgesättigte Lebensbeschreibung von der Jugend bis zum Ende des Studiums, und zum zweiten in eine mehr intellektuelle Biografie, bei der er die Themen aufzeichnet, für die er sich interessiert, und wie daraus Bücher geworden sind.

Man könnte endlos viel über das Buch schreiben, man muss es einfach lesen, mehr ist dazu dann nicht mehr zu sagen.

Nassim Nicholas Taleb - "Narren des Zufalls"

(10.02.2020) Der Untertitel "Die unterschätzte Rolle des Zufalls in unserem Leben" umschreibt den Inhalt ganz gut. Taleb beschreibt mit vielen interessanten Schlenkern und spannenden Abschweifungen, wie Erfolgsmythen sich ganz locker als reiner Zufall deuten lassen: Man sieht die Pechvögel nicht, nur die Glückspilze, die übrig bleiben.

Taleb, Narren des Zufalls

An Taleb scheiden sich die Geister: Den einen ist er ein eitler, selbstgefälliger und arroganter Wichtigtuer, andere begeistert er. Ich gehöre eher in die zweite Gruppe. Ich war zwar zu Beginn der Lektüre durch die negativen Urteile belastet, aber Taleb hat mich für sich gewonnen. Das Buch liest sich hochinteressant, und dass er gerne Anekdoten von sich unterbringt - was macht's, Hauptsache, sie sind interessant und passen.

Warum ist das Buch so dick, immerhin 351 Seiten? Nun, Taleb erklärt das so:

"Wahrscheinlichkeit ist nicht einfach nur eine Berechnung der Chancen, sondern die Akzeptanz der fehlenden Sicherheit unseres Wissens und die Entwicklung von Methoden zum Umgang mit unserer Ignoranz. [S.25] Und darüber kann man dann doch so einiges schreiben.

Übrigens behauptet er nicht, dass alles Zufall ist, sondern dass alles zufälliger ist, als wir glauben. Und das erläutert er anhand vieler gut gewählter Beispiele und hochinteressanter Abschweifungen, sei es die gute und nachvollziehbare Beschreibung der "Monte-Carlo-Methode" oder das Abkanzeln "jenes hegelianischen, pseudowissenschaftlichen Historizismus, der zu Hypothesen wie dem "Ende der Geschichte" führt (pseudowissenschaftlich ist er, weil er Theorien aus vergangenen Geschehnissen ableitet, ohne zu berücksichtigen, dass solche Ereigniskombinationen zufällig entstanden sein könnten, vor allem aber, weil es keine Möglichkeit gibt, die vorgebrachten Behauptungen in einem kontrollierten Experiment zu verifizieren)." [S.97]

Eine spannende und lohnende Lektüre! Das ist sicher nicht das letzte Buch, welches ich von Taleb lese.

Canales / Pellejero - Corto Maltese Band 15 "Tarowean"

(08.02.2020) Szenario: Juan Díaz Canales, Zeichnungen: Rubén Pellejero, Farben: Rubén Pellejero & Sasa (= Sonia Pellejero)

Corto Maltese, Tarowean

Da ja "nett" in manchen Kreisen inzwischen negativ besetzt scheint, als "kleine Schwester von Scheiße" bezeichnet wird, sollte ich den neuen Corto vielleicht nicht "nett" finden. Und doch ist er es, ein netter Comic. Man freut sich auf den neuen Band und ist "eigentlich" nicht enttäuscht. Er enthält spannende Passagen, es gibt Bösewichter, es gibt gute Menschen, es gibt tolle Frauen, Corto darf einige nahezu philosophische Sätze sagen, und andererseits wird getötet oder gar gemordet, was das Zeug hält. Schon in der Pratt-Ära hat man sich gefragt, wer denn die ganzen anfallenden Leichen letztlich entsorgt, aber auch jetzt noch wird mit einer Selbstverständlichkeit ein Eingeborenendorf niedergemacht, Eingeborene ohne jegliche Konsequenz erschossen, ein Teil der Haupthandelnden niedergemacht, dass man sich nur wundert. Nun ja. Zum guten Ton der neuen Corto-Bände gehört es, Schlenker zu interessanten und oder schrägen historischen Gestalten zu machen, diesmal zum Beispiel zu den weißen Radschas von Sarawak mit Sylvia, der "Königin der Kopfjäger", die gerne Corto vernaschen würde, oder zur Meeresgöttin Ratu Kidul, oder zum historischen Fotografen John Watt Beattie (1859-1930), oder zum "Kokosnuss-Heiligen" August Engelhardt. Alles schön und gut und nicht uninteressant.

Sylvia, queen of the head-hunters
Sylvia, die Königin der Kopfjäger

"Tarowean" liefert die Vorgeschichte zur "Südseeballade", einem inzwischen wohl sakrosankten Werk der Comicgeschichte, weswegen sich einige Kritiker bemüssigt gefühlt haben, den damit nun nicht mehr "offenen" Anfang der "Südseeballade" als Sakrileg zu beklagen. Ein etwas lächerlicher Vorwurf meine ich: Nichts anderes ist in "Tarowean" geschehen als das, was Corto bei seiner Rettung in der "Südseeballade" erzählt: Er hat einer Frau die Ehe versprochen und sie sitzen gelassen. Nach altem "Seemannsbrauch" wird so jemand ins Meer geworfen, im Fall von Corto gefesselt an eine Art Andreaskreuz. So what? Wo wird hier der Zauber der "Südseeballade" kaputt gemacht?

Um was geht es in "Tarowean"?

Corto und Rasputin haben von ihrem Chef, einem der "Mönche", den Auftrag, Hauki (=Calaboose), den Sohn und Nachfolger des Königs Goravaka der Insel San Eugenio, aus dem Port-Arthur-Gefängnis auf Tasmanien zu befreien und nach San Eugenio zurückzubringen. Hauki wurde mit sieben Jahren ins Exil geschickt, weil er als Unglücksbringer galt. Die Befreiung gelingt, und sie können auf einem Schiff flüchten, dass sie nach Kuching, der Hauptstadt des Königreichs Sarawak bringt. Während der teilweise turbulenten Verwicklungen dort lernt Corto die Königin eines streikenden Eingeborenendorfes kennen, eine rothaarige querschnittsgelähmte Holländerin, die als Verkörperung der Meeresgöttin Ratu Kidul verehrt wird. Als sich Ratu und Hauki kennenlernen, sind sie sofort unzertrennlich. Bei der Ankunft in San Eugenio zeigt sich, dass die eigentliche Chefin und Strippenzieherin der Insel die Königsfrau Bauleni ist, die die Machtübergabe an Hauki natürlich torpedieren muss, da sie dann ihre Macht verlieren würde. Ihre Intrige gelingt, es werden tote Fische gefunden und Hauki scheint wieder Unglück zu bringen. Eigenhändig bringt sie Ratu Kidul um und lässt die Leiche verschwinden. Hauki ist untröstlich und tötet seinen Vater Goravaka, nachdem ihn Bauleni davon überzeugte, dass Goravaka hinter dem Mord steckt und der Dienerin Sula den Befehl dazu gab. Sula soll - obwohl ja unschuldig - zum Tod verurteilt werden, nur eine Heirat kann sie retten, und Corto erklärt sich dazu bereit. Bei Bauleni fordert Corto die Begnadigung von Hauki und beruft sich auf den "Mönch". Die Heirat von Corto und Sula kommt nicht zustande, Corto übergibt Sula einem Kirchenmann, der sich um sie kümmern soll. Als Corto und Hauki absegeln gehört zur Mannschaft der Bruder von Sula, der auf Weisung von Bauleni die beiden umbringen soll. Bei der Meuterei stirbt Hauki, und Corto wird letztlich im Meer ausgesetzt. Dies alles mal ohne Nebenhandlungen zusammengefasst. Eine ganz nette Geschichte also. Die Episoden mit den zunächst fünf Mönchen, wo einer alle anderen umbringt, sind schwach, die Motivation zu dem ganzen Gewaltszenario fehlt. Auch passt der Charakter des überlebenden "Killer-Mönchs" nicht unbedingt zu der Gestalt des Mönchs, die in der Südseeballade agiert. Am Ende kommt es zu einem Sturm, der die Insel San Eugenio vernichtet und auch das Schiff "Mädchen aus Amsterdam" versenkt, und damit Pandora und Cain Groovesnore zu Schiffbrüchigen macht, die kurz nach Corto Maltese in der "Südseeballade" dann von Rasputin gerettet werden.

Ein lesens- und anschauenswerter Comic also.

Neues Ölbild "Vertreibung" fertig

(07.02.2020) Die letzten kleinen Korrekturen am neuen Ölbild sind erledigt. Das Thema geht mich persönlich an, meine Mutter und meine Großeltern mütterlicherseits sind Vertriebene, aus Ödenburg (=Sopron). Beschäftigt man sich mit dem Thema (und das sollte man) ist man mit dramatischen persönlichen Schicksalen konfrontiert. ABER: Die Vertriebenen können es irgendwann auch besser haben als die, die nicht vertrieben wurden. Schon in den sechziger Jahren waren die "Glücklichen", die nicht vertrieben wurden, in vielen davon abhängig, dass die armen Vertriebenen ihnen Pakete mit ganz grundlegenden Konsumgütern schickten. Ich habe das versucht in zwei Zeitebenen unterzubringen, in die Zeit der Vertreibung mit den schattenhaften dunklen Gestalten an den Güterwaggons, und in den mehr oder weniger bunten beiden alten Paaren, die sich allen Widrigkeiten zum Trotz schon Anfang der sechziger Jahre neu eingerichtet hatten und bescheiden, aber zufrieden lebten. Und auch nicht einsam waren, denn manchmal wurden ganze Nachbarschaften oder Familienverbände zusammen vertrieben und konnten in der Fremde Kontakt halten. So erlebt bei meiner Mutter und meinen Großeltern. An dem Bild musste ich wegen der vielen Figuren quälend lange arbeiten, fast ein halbes Jahr lang.

Vertreibung
"Vertreibung", 2020, Öl und Buntstift auf Papier, 74 cm x 55 cm

Zimmertheater Heidelberg - "Das kurze Leben der Fakten"

(27.01.2020) Ein klasse Theaterstück von Jeremy Kareken & David Murrell und Gordon Farrell in einer tollen Inszenierung von Ute Richter, keine Sekunde wurde es langweilig, keine Sekunde schweiften die Gedanken ab. Absolut sehenswert!

Die Chefredakteurin eines Hochglanzmagazins (Emily Penrose) möchte unbedingt einen Essay des Literaten John d'Agata (Werner Opitz) über die Selbsttötung des jungen Levi Presley in der aktuellen Ausgabe unterbringen. Die Deadline ist knapp, es fehlt "nur" noch der übliche Faktencheck. Sie beauftragt den jungen Praktikanten Jim Fingal (Fabian Jung) damit, der mit dem kommenden langen Wochenende aller Erfahrung nach genügend Zeit hat. Dieser Volontär stürzt sich aber mit einer derartigen Verbissenheit in die Aufgabe, dass er alleine für den ersten Satz über ein Dutzend Nachfragen zu unklaren oder falschen Fakten hat. Natürlich läuft die Zeit davon, obendrein fliegt Jim Fingal zu John d'Agata, um ihn zur Rede zu stellen, weswegen letztlich auch Emily Penrose nach Las Vegas zu den beiden fliegt. Alle drei haben ihre eigene Sicht auf die Dinge, eine Zeitlang sieht es so aus, als ob der junge Jim Fingal den älteren John d'Agata in die Enge treibt, der aber dann letztlich genau so gute Argumente für seine Sicht der Dinge hat. Darf man Ziegel "rot" nennen, die nicht rot sind, aber von einer untergehenden Sonne rot angestrahlt werden? Muss man die Maße eines Sessels nachmessen, obwohl der Möbelkatalog und der Möbelhersteller die Größen angeben, aber die nicht rechteckige Form unberücksichtigt bleibt? Und darf man zugunsten des Inhalts einer Geschichte die Fakten etwas unscharf behandeln, gar manipulieren? Und warum ist Emily Penrose so dahinter her, dass der Text gedruckt wird? Gibt es in ihrer Biografie etwas, was den Text für sie wichtig macht? Und warum ist Jim Fingal so kritisch, ist er wirklich nur den Fakten verpflichtet?

Also ein unbedingt sehenswertes Stück. Schüler hinter uns diskutierten in der Pause darüber und weiter intensiv auch noch nach dem Ende des Stücks.

Ludwig Güttler, Konzert in der Heidelberger Christuskirche

(25.01.2020) Spielen kann er, der Trompeter Ludwig Güttler, und er weiß auch, was er wert ist bzw für ein Ticket verlangen kann. Dann sitzt man also in unserer Heidelberger Christuskirche - sofort nach Einlass, eine Stunde vor Konzertbeginn - in der zweiten Reihe, wo der Platz immerhin 40 Euro kostet, denkt man hat für gutes Geld einen guten Platz, und wundert sich allmählich, wie viele Personen denn pro Reihe eingeplant sind und sich auch hier hinsetzen wollen. Zu viele stellt sich heraus, nicht alle finden Platz oder es ist ihnen zu eng und sie suchen sich lieber einen anderen Platz. Und dann geht es immerhin pünktlich los, einfach so, und nun fühlt man sich total über den Tisch gezogen, denn Güttler und seine beiden Musiker Volker Stegmann (Trompete & Corno da caccia) und Friedrich Kircheis (Orgel) befinden sich oben auf der Orgelempore, genau im Rücken des Publikums. Ein total sexy Gefühl also, den langweiligen Altarbereich anschauen zu müssen und die Musiker nicht zu sehen, nur nach anstrengenden Drehen um 180 Grad für einen kurzen anstrengenden Moment.

Das Programmheft ist ein Schnäppchen, für zwei Euro bekommt man ein (1!) in der Mitte gefaltetes DIN-A4-Blatt mit dem Programm und Informationen zu den Musikern, eingeschlagen in einen ebenfalls auf DIN-A5 gefaltenen kräftigeren Zettel mit kurzen Infos zu Güttler und einer kleinen Diskographie. Und trotzdem muss man froh sein, dieses Zettelchen überhaupt gekauft zu haben, denn es wird kein Wort gesprochen, nicht zur Begrüßung, nicht zwischendrin, nicht zum Ende - keine Ansage, keine Absage. Die drei Musiker fangen an zu spielen und hören am Ende (nach zwei oder drei Zugaben) wieder auf. Das wars. Für 40 Euro.

Es fiel schwer, von diesen Nickligkeiten zu abstrahieren und das Programm zu genießen. Für meine Seite war es noch OK, nichts überragendes, aber noch OK. Friedrich Kircheis an der Orgel spielte seine Sachen etwas zu kalt und emotionslos runter, manche Triller von Güttler oder Volker Stegmann mochten auf der Trompete etwas (zu?) schwierig sein, weil zu schnell für so ein Instrument.

Man kann sich natürlich fragen, ob man nicht mehr davon gehabt hätte, eine gute CD-Einspielung zu kaufen und auf der Musikanlage zuhause zu genießen - mit geschlossenen Augen und einer guten Flasche Wein.

Franz Grillparzer - "Reisetagebücher auf der Reise nach Italien, 1819"

(19.01.2020) Grillparzers Reisebeschreibung liest man am besten zusammen mit den korrespondierenden Passagen aus seiner "Selbstbiographie", die klärt die biographischen Voraussetzungen. Grillparzer hatte einige persönliche Schicksalsschläge zu verdauen: Zwei Jahre vorher (1817) hatte sich sein Bruder selbst getötet, Anfang 1819 dann seine Mutter, eine Reise wurde von den Ärzten quasi als Therapie vorgeschlagen, um seine Stimmung wieder zu heben. Er bekam das Angebot, den Grafen Deym zu begleiten, der einen Gefährten für die Reise auf halbe Kosten suchte: Der Graf, ein kaiserlicher Kämmerer, wollte zum Tross des österreichischen Kaiserpaares stoßen, welcher schon in Rom angelangt war, und hielt es für seine Pflicht, seinem Herrn in der Fremde aufzuwarten. Daraus und aus dem dringenden Wunsch heraus, die Feierlichkeiten der Osterwoche in Rom mitzuerleben, erklärt sich die gehetzte Reise, bei der man sogar oft die Nächte in Kutschen verbrachte und fast keine Zeit hatte, Sehenswürdigkeiten zur Kenntnis zu nehmen.

Daffinger, Grillparzer
Moritz Michael Daffinger: Franz Grillparzer, 1827

Am Mittwoch, den 24.3.1819, wurde abgereist, am 28.3. war man in Triest, am 30.3. in Venedig, um schließlich am 8.4.1819 in Rom anzukommen. Seine Bemerkungen zum Ablauf, zu den Menschen, zu den Lokalitäten sind durchaus originell und so kaum in anderen Reisebeschreibungen zu finden. In der wüstenhaften Gegend vor Sessana, der letzten Station vor Triest, notiert er:

"Es war, als hätte Gott hier gestanden, als er nach dem Falle der Menschen den Fluch über die Erde aussprach."

In Triest sieht er zum erstenmal das Meer und ist begeistert:

"Das Bild vom Meere in meiner Phantasie war allerdings mächtiger, gewaltiger gewesen als die Wirklichkeit, und doch fesselte mich der Eindruck so, daß ich mich kaum trennen konnte, ich hatte mir das Meer nämlich nicht so schön gedacht, nicht so unbeschreiblich schön."

Das Leben in einer italienischen Stadt muss man auch erst einmal verdauen, denn

"..., alles schrie, statt zu reden, jubelte, statt zu lachen, sang und zankte, lief und rannte, wie es jedem eben beikam."

Während die Reise ab Venedig meist durch schöne frühlingshafte Landschaften geht, wird es kurz vor Rom wieder öde, und was es besonders traurig und öde macht ist dies:

"Den Gipfel zu alledem setzen noch die zerrissenen Überreste von Räubern und Mördern auf, die, von der Sonne getrocknet, rechts und links an der Straße baumeln und dem armen Reisenden die Stellen bezeichnen, wo seine Vorgänger geplündert und ermordet worden sind."

In Rom ist Grillparzer meist allein und meist in seiner bevorzugten Fortbewegungart unterwegs, nämlich zu Fuß. Seine Meinung zu den antiken und neueren Kunstdenkmälern ist immer begründet und durchaus eigenständig. Dass man große Baudenkmäler nicht vom aktuell herrschenden politischen System trennen kann, formuliert er glasklar:

"So bewunderungswürdig alle diese Gebäude, besonders der spätern Zeit, sind, so ist doch ihre Größe eine barbarische, und man kann nicht verkennen, daß sie von Despoten gebaut sind."

Trotzdem gefällt ihm das Kolosseum:

"Ein lebhaftes Bild der römischen Größe, so daß die Phantasie dadurch wirklich erweitert wird, gibt unter allen hiesigen Denkmälern alter Zeit beinahe allein das Kolosseum. Herrlicheres kann man nicht mehr sehen."

Natürlich trifft er zufällig oder besucht er absichtlich auch immer wieder deutsche oder internationale Künstler. In seinem Kunsturteil ist er sicher und seine Beurteilungen sind nachvollziehbar. Wie er Thorwaldsen und Canova untereinander vergleicht und einstuft ist wunderbar. Thorwaldsen spielt für ihn in einer eigenen Liga, Canova ist der kalte Blender.

Wie auch auf der Reise, bei der er trotz der Hetzerei es einige Male in ein Theater geschafft hat, geht Grillparzer auch in Rom häufig ins Theater und fällt strenge bis vernichtende Urteile:

"Unter den Sängern war noch ein Herr Bottari am erträglichsten, der einen eindringlichen Baß sang, sich aber zuweilen durch das Bestreben, die Stärke seiner Stimme zu zeigen, zu höchst ohrenzerreißenden Anstrengungen hinreißen ließ, wobei besonders lächerlich anzusehen war, wie er sich zu jeder Passage aufblies wie der Frosch in der Fabel. Die Primadonna ein dürres, widerliches Geschöpf ohne nur irgend ausgezeichnete Stimme oder Vortrag. Der Buffo unergötzlich bis zur Widerwärtigkeit. Die Krone von allem aber war der Erste Tenor. Gebaut wie ein Lastträger, die emporgehobenen Schultern beinah zum Buckel mißstaltet, den Kopf hinabgedrückt, das Gesicht ein Gemisch von Roheit, Häßlichkeit und Stupidität, dabei in ein pomeranzenfarbiges Gewand mit brennend blauer Leibbinde und goldenen Tressen auf den Nähten gekleidet, machte er einen wahrhaft unausstehlichen Eindruck und glich auf ein Haar dem Prinzen Höckerich im Feenmärchen. Ihn als kampfgerüsteten Ritter bei dem vorkommenden Lumpenturnier am Schluß des ersten Akts zu sehen, war wirklich merkwürdig. Zu dem allem noch die Dekorationen elend, die Kleidung geschmacklos und lumpenhaft, die Chöre schwach und schlecht, Aufzüge und Komparsen so erbärmlich, daß es vielleicht kaum in dem geringsten Landstädtchen in Deutschland ärger sein kann."

Manchmal lobt er immerhin das Publikum, aber ob das wirklich ein Lob ist:

"...das Publikum benahm sich ziemlich gut, indem es während der Rezitative, statt zu schreien, laut zu sprechen sich begnügte."

Über den "Nationalcharakter" der Italiener oder Römer wird Grillparzer nicht müde sich zu wundern, solche Passagen sind herrlich zu lesen:

"Die Römer sind bis zu einem unglaublichen Grade kindisch. Nicht allein, daß man Erwachsene allenthalben Spiele treiben sieht, die bei uns nur Knaben vergnügen; auch Leute von Distinktion bleiben stehen, wo dergleichen gespielt wird, und nehmen den lebhaftesten Anteil an dem Gange und dem Ausschlage der Kinderei. So sah ich heute einen Haufen Trasteveriner auf dem Petersplatze ein Spiel treiben, das darin bestand, daß einem die Augen verbunden wurden und er so blindlings versuchen mußte, den Obelisk zu finden. Die bärtigen Kerls gebärdeten sich alle wie besessen mit Jauchzen und Schreien, ja selbst Abbates, die dabeistanden, hüpften vor Lust und riefen ihr: »Tocca, tocca!« so gut als die andern."

Die Hauptsache der Romreise war aber der Besuch der Osterfeierlichkeiten. Man ist nicht überrascht, dass Grillparzer auch hier einige Haare in der Suppe findet.

"Alle Zeremonien der Karwoche, an sich rührend und erhaben, haben durch die Länge der Zeit und die abstumpfende Macht der Gewohnheit von Seite der mitwirkenden Personen so sehr alle Bedeutenheit, so allen Geist verloren, daß sie, mit wenigen Ausnahmen, sich beinah komödienmäßig ausnehmen."

So stört ihn die Verherrlichung und Anbetung des Papstes, die geistlosen Feierlichkeiten, kurz: Das Entseelte des Ritus:

"Wenn nun aber erst die langen und langweiligen, ohne Geist und Bedeutung abgehaspelten Zeremonien der Pontifikalmesse beginnen, während welcher die Kardinäle und Prälaten wie Gassenbuben sich auf die Stufen des Thrones halb hinsetzen und halb legen, wenn man in die geistlosen Gesichter dieses Kirchenpöbels schaut, der da mitspielt, weil er seinen Anteil am Gewinn zieht, so ekelt einem..."

Und natürlich ist alles auch eine Touristenattraktion, das Wort passt damals schon. Das heißt: Gedränge da, wo es interessant wird.

"Man muß auch nur den Ungestüm sehen, mit dem sich alles, besonders die Engländer, bei solchen Gelegenheiten zudrängt. Da stoßen und schlagen denn endlich zuletzt die ehrlichen Schweizer, was das Zeug hält, und ich war selbst Zeuge einer solchen Szene, wo sie mit umgekehrten Hellebarden auf Herrn und Damen losschlugen, die mit Gewalt die Türe erstürmen wollten, die zu dem Saale der Fußwaschung führt. Einen solchen Lärm, ein solches Gewühl und Gedräng werde ich vielleicht nie mehr erleben. Wie alles die Treppen hinaufstürzte und die Schweizer, beinahe überrannt, den andrängenden Haufen wieder die Stufen hinunterwarfen, daß die Mittelsten, von beiden Seiten gedrängt, beinah erdrückt wurden. Drohen, Schreien, ohnmächtige Damen, brüllende Engländer, prügelnde Schweizer; ich war froh, aus dem Gedränge mit Aufopferung der Fußwaschung nur wieder herauszukommen."

In Neapel ist er in der Januariskirche, um das Wunder der Flüssigmachung des Blutes des Heiligen mit anzusehen. Seine Beschreibung besonders "der Pfaffen" ist köstlich:

"Mir waren die Pfaffen interessant. Der Domherr, der das Blut hielt, war ausgelernt. Er machte eine so verzückte Miene, so begeisterte Augen, zitterte so natürlich und wischte sich so eifrig den Angstschweiß von der Stirne, daß man ihn für wahrhaft hätte halten können, hätte ich nicht bemerkt, wie er in der höchsten Ekstase immer verstohlen nach mir schielte, der ich ihn unverrückt beobachtete, und wie er unter all den Grimassen gewaltsam die Augen zusammenpreßte, um eine Träne herauszupressen, die aber nicht kam, daher er die wegwischte, die nicht da war. Weniger geschickt war sein Assistent, ein wohlgenährter, feister Pfaffe. Auch er drückte die Augen zusammen und tat ängstlich und andächtig, es wollte aber durchaus nicht vonstatten gehen, so widerspenstig war sein mit Fett ausgepolstertes, unbewegliches Gesicht. Nur ganz zuletzt, als es zur Traurigkeit durchaus schon zu spät und das Blut schon flüssig geworden war, erpreßte er eine Träne, mit der im Auge er sich triumphierend gegen die versammelte Menge wandte."

Das Highlight für ihn in Neapel war die Besteigung des Vesuv. Hier ist er nur noch begeistert:

"...wandelten wir auf Lava, die nicht älter war als drei Tage und die erst auf der Oberfläche etwas abgekühlt war, unten aber noch glühte, wie wir leicht durch die tiefen Ritzen sehen konnten, die allenthalben klafften. Man sagte mir, das sei grausenhaft anzusehen, ich fand es nur begeisternd und erhaben. Habe Dank, Natur, daß es ein Land gibt, wo du herausgehst aus deiner Werkeltagsgeschäftigkeit und dich erweisest als Götterbraut und Weltenkönigin, habe Dank!"

Dafür nimmt er schon etwas in Kauf:

"Meine Füße waren durch die Sohlen meiner ungewöhnlich starken Stiefel halb gebraten, als wir endlich uns entfernten..."

Grillparzer beobachtet aber auch die Prostituierten, die aus blanker Not heraus sich für fast nichts verkaufen müssen, nämlich für einen halben Laib Kommißbrot:

"...daß während des Aufenthaltes der Östreicher in Neapel die Gemeinen mit einem Laib Kommißbrot unter dem Arme in diese Gasse gegangen seien. Für die eine Hälfte des Brotes büßten sie auf der Stelle ihre Lust, für die andere Hälfte erhielten sie einen Schein, der noch für einmal freien Genuß gab."

Bei der Rückreise fallen wieder die Überreste hingerichteter Räuber auf und werden fast schon sarkastisch beschrieben:

"An der Straße ein niedliches Körbchen von Eisen auf einer Stange und darin der Schädel eines hingerichteten Räubers, der hier auf dieser Stelle einen Mord begangen."

Und immer häufiger stellt sich bei Grillparzer eine gewisse Gesundung ein, denn die Frauen gefallen ihm immer besser:

"Molo, kleiner enger Ort. Hat aber den schönsten Weiberschlag, den ich noch im südlichen Italien gesehen. Beinahe keine von den vielen Mädchen und Weibern, die herausgelaufen waren, unsern respektabeln Zug zu sehen, die nicht hübsch, großenteils sehr hübsch gewesen wäre. Klare Gesichter, häufig blondes Haar, mitunter auch blaue Augen."

Die Männer kommen nicht unbedingt gut weg:

"Bocca di Fiume. Kurze Posten, gute Pferde. Aber wie die Menschen aussehen! Geisterbleich und Krankheit im Gesichte, scheint es ihnen an der Kraft zu fehlen, die Spitzbübereien auszuführen, die in ihren verschmitzten, lauernden Zügen und spähenden Augen sich nur zu deutlich malen."

Wieder in Rom will er vom Papst einige Rosenkränze, die er verschenken will, segnen lassen, passt also eine Gelegenheit ab, aber o Graus, er kommt nicht um einen Fußkuß herum:

"Hätte ich die hündische Art gekannt, wie der Fußkuß geschieht, ich wäre weggeblieben. Man muß sich dazu, da der schwache Alte den Fuß nicht heben kann, fast auf den Bauch niederlegen. Ins Himmelsnamen! Man tut wohl viel ärgere Dinge!"

Und wieder bei der Heimreise die Wegbegleiter:

"Öde Heide ohne Menschen – außer denen, die zerstückt und gedörrt auf den Pfählen zur Seite der Straße baumeln."

Aber immerhin gibt es die schönen Frauen...

"Die Weiber sind hier sehr hübsch, gut gebaut und haben vorzüglich schöne und volle Brüste. Auch an Lustigkeit scheint's ihnen nicht zu fehlen, ..."

"Im See watend ein hübsches, etwa vierzehnjähriges Mädchen mit lang herabhängenden gelben nassen Haaren. Eine Seenixe wohl gar."

"Was sind die Mädchen hier herum hübsch!"

Und in Arezzo:

"Sehr schön ist hier das weibliche Geschlecht. Herrlicher Wuchs, schöne Gesichtsbildungen. Eine Unzahl hübscher Mädchen; aus jedem Fenster guckte eine.

Aus verschiedenen Gründen, für die er letztlich nichts konnte, überzog Grillparzer seinen dreimonatigen Urlaub, was ihm bei der Rückkehr dann massive Probleme machte.

Insgesamt eine interessant und unterhaltsam zu lesende Reisebeschreibung. Ich war angenehm überrascht, hätte das von Grillparzer nicht erwartet.

Christoph Poschenrieder - "Mauersegler"

(16.01.2020) Ein nett zu lesender Roman über eine Gruppe von Kindheitsfreunden, allesamt erfolgreich im Leben, die sich im Alter entschliessen, eine Männer-WG zu gründen und sich gegenseitig zu helfen - bis hin zur Sterbehilfe. Lässt man mal ausser Betracht, dass es reichlich unwahrscheinlich ist, dass aus fünf Kindheitsfreunden lauter sehr erfolgreiche Männer werden und begegnet man der lebenslangen Trauer um den schon als Kind ertrunkenen Sechsten im Freundschaftsbund mit Achselzucken, so kann man dem Roman trotzdem noch viel abgewinnen. Poschenrieder formuliert derart humorvoll, scharfzüngig, doppeldeutig und manchmal gehässig, dass man das Konstruierte des Romans hinnimmt und aus Spaß an der Freude liest. Der Titel "Mauersegler" erklärt sich damit, dass für den Ich-Erzähler die vier Vögel Lerche, Amsel, Spatz und Mauersegler für die Lebensalter Kindheit, Jugend, Erwachsenendasein und Alter stehen. Und jetzt sind die Jungs eben alle zu Mauerseglern geworden: "Der Mauersegler legt die Flügel an und will nicht mehr fliegen. So soll es auch mit mir zu Ende gehen."

Christoph Poschenrieder, Mauersegler

Dass der Erzähler sich als Verantwortlicher für den Tod des sechsten Jungen herausstellt und dass er schnell Freude daran findet, bei seinen Freunden Sterbehelfer zu sein: Das gehört zu den spaßigen Aspekten des lesenswerten Buchs.

Ich habe mir ausgesprochen viele als Humor getarnte spannende Gedanken oder eben schlicht gute Formulierungen angestrichen. Das Buch kommt eindeutig oberflächlicher daher, als es ist.

James M. Tabor "Blind Descent."

(10.01.2010) Untertitel: "The Quest to discover the deepest Place on Earth". 306 Seiten. Das Taschenbuch kostet 12 Euro, wobei die äußerliche Qualität allerdings nicht dem Preis entspricht: Das Papier greift sich billig an, und die Abbildungen (nur in schwarz-weiß) sind von unterirdischer Qualität (OK, immerhin passend zum Thema).

Tabor, Blind Descent

Thema des Buchs ist der Wettlauf zweier Männer, die "tiefste Höhle" zu finden. Gemeint ist damit die Strecke vom Einstieg bis zur Sohle, also unabhängig von der Länge oder von sonstigen Kriterien die reine Höhendifferenz. Beschrieben wird das aber ganz anders. Der Untertitel suggeriert, dass es darum geht, möglichst tief ins Erdinnere einzudringen, und das hat mich überhaupt dazu animiert, das Buch zu lesen. Als Kind habe ich von Jules Verne "Die Reise zum Mittelpunkt der Erde" gelesen, und bis heute gehört es zu den faszinierendsten Büchern, die ich je gelesen habe. 1992 war ich bei einer Fahrradtour zum ersten Mal beim Snæfellsjökull (Reiselektüre natürlich Jules Verne), dann wieder 2017, und beide Male habe ich mir etwas Lava vom Vulkan mitgenommen. Und die kann ich jederzeit zwischen die Finger nehmen:

Lava
Lava vom Snæfellsjökull

Was genau ist mit der "tiefsten Höhle" gemeint? Beide Kontrahenten bewegen sich in Karstgebieten, in denen das Wasser in Schlünden, Spalten, Gängen nach unten fliesst und dabei manchmal die Gänge so weit macht, dass sich Menschen darin bewegen können. Mit der "tiefsten Höhle" ist also eine Höhle gemeint, in der sich Menschen fortbewegen können: Die "tiefste Höhle" für irgendeines der Tiere, die tatsächlich in solchen Höhlen noch vorkommen können, sieht anders aus, da reichen manchmal winzige Spalten, um weiterzukommen. Die Terminologie ist also sehr anthropozentrisch.

James Tabor stellt die Höhlenforschung und die Jagd nach der tiefsten Höhle (Höhendifferenz Einstieg zu tiefsten Punkt) auf eine Stufe mit der Mondlandung, dem Ersteigen des Mount Everest oder dem Erreichen der tiefsten Stelle des Meeresgrundes. Das sind nun aber alles klare Sachen, messbar. Die "tiefste Höhle" von 2017 kann aber 2020 nur noch die vierttiefste sein, weil bis dahin weitere tiefere Höhlen gefunden werden. Amüsant das Foto vor der Seite 149: Die Höhlensportler erfürchtig vor einer Grube an der im Oktober 2004 tiefsten gefundenen Stelle in der Krubera-Höhle. Der Text zum Bild erregt Kopfschütteln: "October 18, 2004: Bottom of the world, 6,825 feet deep." Aber schon 2007 war in der Krubera-Höhle eine deutlich tiefere Stelle erreicht, und seit 2017 ist sie von der nahegelegenen Werjowkina-Höhle übertroffen worden. Dieses Attribut hat also immer ein Haltbarkeitsdatum, anders als der Mount Everest: Einen höheren Berg gibt es auf der Erde nicht, wie viele tiefere Höhlen aber noch der Untersuchung harren - das kann keiner beantworten. Übrigens gibt es Millionen von Menschen, die dem "Centre of the Earth" näher gekommen sind und da mehr oder weniger zufrieden leben: Das Tote Meer liegt wesentlich tiefer als die tiefste bisher erreichte Stelle in einer dieser Superhöhlen, die aber immer noch ca 50 Meter über dem Wasserspiegel des Schwarzen Meeres enden.

Die Aufmerksamkeit auf die beiden Teamleader ist ungleich verteilt: Dem unsympathischen aber dafür schillernden Alpha-Tier Bill Stone sind ca 190 Seiten gewidmet, dem eher biederen Wissenschaftlertyp Alexander Klimchouk dagegen nur 70 Seiten. Teils spannend sind die Reibereien von Stone mit seinen Teams zu lesen (bis hin zu Meutereien), während es bei dem hochgeachteten Klimchouk sehr friedlich in den Teams zugeht.

Die Wissenschaft spielt beim Fundraising und beim Eintreiben von Geldern als Deckmäntelchen bei Stone zwar eine gewisse Rolle, gelebt wird sie aber nicht. Klimchouk dagegen scheint Wissenschaftler durch und durch zu sein, und die Menge seiner Aufsätze wird ehrfürchtig erwähnt. Hier im Buch kommt das Thema Wissenschaft sonst aber nicht vor. Man erfährt auch nur das nötigste über die Abläufe so einer Expedition, aber kaum etwas vom Alltag in der Finsternis. Dass man Batterien sparen muss und beim Gang zum Pinkeln in Lebensgefahr kommen kann oder beim Pinkeln in die dafür vorgesehenen Flaschen mal auch mal etwas verwechseln kann und in Lebensmittelflaschen pinkelt - das sind nur nette Anekdoten.

Fazit: Ein Buch, dass das abenteuerliche und extrem unbequeme Leben von Höhlensportlern vorstellt, aber sehr reißerisch daherkommt und sich in Personalia erschöpft. Als Einführung in das Thema ist es kaum zu gebrauchen, und das Thema Wissenschaft (Biologie, Geologie, ...) kommt nicht vor.

Eduard von Keyserling - "Schwüle Tage"

(02.01.2020) Nach der Lektüre eines Romans über Keyserling wollte ich auch etwas von Eduard von Keyserling selbst lesen und habe dafür die 1906 erschienene Novelle "Schwüle Tage" gewählt. Der darin geschilderte Konflikt eines "Jungadligen" mit seinem Vater, die kleinen Enttäuschungen bei seiner "Brautschau", die Aufdeckung eines Verhältnisses zwischen Vater und einer jungen Nachbarin, der Trost des "Jungadeligen" bei einem Hausmädchen, der Suizid des Vaters - alles nicht so recht interessant und auch nicht so geschildert. ABER: Keyserling schreibt ausgesprochen schöne Natur- und Stimmungsschilderungen, und die lassen einem den Text dann doch zufrieden zu Ende lesen.

Klaus Modick "Keyserlings Geheimnis"

(01.01.2020) Ein wunderschöner, mit 230 Seiten angenehm kurzer Roman, den ich in einem Rutsch durchgelesen habe. Mit Keyserlings Geheimnis ist eine von Keyserling selbst als Lappalie oder Kleinigkeit bezeichnete Begebenheit während seiner Studienzeit in Dorpat (heute Tartu) gemeint, aufgrund der er exmatrikuliert und in den baltischen Adelskreisen zur Unperson wurde. Modick macht daraus eine Geschichte um Spielschulden, Ehebruch und Flucht vor einem Duell, was recht stimmig klingt, heute aber eher tatsächlich als Lappalie durchgehen würde. Für Keyserling selbst muss es eine schambehaftete Geschichte gewesen sein und mit ein Grund dafür, dass auf Grund seiner Verfügung sein ganzer schriftlicher Nachlass vernichtet werden sollte.


Klaus Modicks Buch über Keyserling & Lovis Corinths Porträt von Keyserling (Ausschnitt)

Der Roman spielt zur Hauptsache in folgenden Zeitebenen:

Der Roman ist sprachlich toll geschrieben, wobei man merkt, dass Modick studierter Germanist ist und als Werbetexter gearbeitet hat. Er schreibt aus einer leicht ironischen Distanz heraus, aber dennoch wunderbar eingefühlt in die Sprachwelt Keyserlings, und mit einem beeindruckend großen Wortschatz.


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