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Journal 2021

Hella Streicher - "Höhere Welten"

(21.12.2021) Dieser "deutsche Alltagsroman" stand schon lange auf meiner Wunschliste der zu lesenden Bücher, aber diese Wunschliste umfasst eine dreistellige Anzahl von Einträgen, und entsprechend kann die Umsetzung dauern. Sehr lange manchmal, leider, denn inzwischen ist die Autorin verstorben, ihr engagiert gepflegtes Blog verschwunden und nur noch mit der "Wayback Machine" des "Internet Archive" zu finden, ebenso wie ihre berühmten ausführlichen Berichte über die Bachmann-Wettbewerbe und -Preisverleihungen.

Hella Streicher, Höhere Welten

Hella Streicher war stolz auf ihr Buch, hat in ihrem Blog immer wieder darauf hingewiesen und zum Kaufen aufgefordert. Ihr Anspruch geht auf eine "Bestandsaufnahme des ganz alltäglichen Wahnsinns unserer Wendezeit, die eine Zeitenwende sei"[S.423]. Im Roman stellt sie sich vor, dass in hundert Jahren über sie ("zu Lebzeiten verkannt und verbrannt"[S.414]) promoviert wird und die Nachwelt ihr ein Denkmal errichten wird. Insgesamt also ein sehr hoher Anspruch. Sie bezeichnet ihr Werk als einen Roman und betont, dass die Ich-Erzählerin nicht identisch mit der Autorin ist, aber auch mit nur rudimentärer Kenntnis ihrer Biografie sind die Parallelen unübersehbar, bis dahin, dass die Ich-Erzählerin mit dem Namen Andrea Aschenbach (auf Seite 414 allerdings Andrea Streicher!) sich als Enkelkind des berüchtigten Nazi-Hetzautors Julius Streicher bekennt(S.49) - was Hella Streicher im realen Leben tatsächlich war.

Ein Urteil über das Buch fällt mir nicht leicht: Die ersten etwa 250 Seiten haben mir gut gefallen, interessante Milieuschilderungen, gute Charakterisierungen, das Lesen hat Spaß gemacht. Die letzten fast 200 Seiten fand ich dann aber stark abfallend, träge, voller Wiederholungen. Irgendwann hat auch der tumbste Leser gemerkt, dass es mit einer Liebesgeschichte zwischen der Heldin Andrea und der zweiten Hauptperson, der Anthroposophin Luise Weyrich, nichts wird, nur die arme sich ach so cool fühlende Andrea glaubt es nicht, wird immer wieder von Luise eingeladen und dann schnöde abgewiesen, und immer wieder muss sie viel rauchen und immer wieder viel weinen, und immer häufiger verdreht man beim Lesen die Augen und denkt: Wie blöd kann man (frau) sein.

Das Buch kam 2003 raus und spielt zur Hauptsache in den Jahren von 1990 bis 1994. Das geschilderte Milieu aus "alternativer" Subkultur, (Bewegungs-)Lesben, Therapien, Gurus, Punkmusik und so weiter, die erwähnten Bücher vom "Klitoris-Kalender" bis hin zu Verena Stefans "Häutungen" hat mich aber deutlich an das Heidelberger Milieu Mitte bis Ende der siebziger Jahre erinnert. War Bremen so weit hinten dran...?

Ich habe angefangen, mit der erwähnten "Wayback Machine" das Höhere-Welten-Blog von Hella Streicher zu rekonstruieren und sauber zu formatieren, weiß aber nicht, ob ich das bis zum Ende durchziehe.

Ryszard Kapuscinski - "Die Welt des Ryszard Kapuscinski. Vorgestellt von Ilija Trojanov"

(04.12.2021) Als Ryszard Kapuscinski 2007 gestorben ist, habe ich mich - wie in meinem Journal für 2007 berichtet - durch eine Unzahl von Nachrufen gewühlt. Er kam nicht immer gut weg, und schaut man sich den aktuellen Eintrag zu Kapuscinski in der Wikipedia an, dann fällt auf, dass der Teil "Kritik" länger ist als die Ausführungen zum Leben. Egal: Ich habe die Reiseberichte von Kapuscinski in meiner damaligen Hauptzeitung, der "Wochenpost", immer gern und intensiv gelesen. Ein Buch mit Notizen von Kapuscinski (den Titel habe ich vergessen) habe ich dagegen Anfang der 2000er Jahre gelangweilt nicht beendet.

Die Welt des Ryszard Kapuscinski

Der von Ilija Trojanow zusammengestellte Auswahlband "Die Welt des Ryszard Kapuscinski" (Piper Verlag, 2010) hat mich gefesselt: Man ahnt (und Trojanow wird im Vorwort nicht müde, es zu betonen), dass es keine reinen Faktenschilderungen sind, sondern literarisch überhöhte und pointierte Berichte. Und das ist auch gut so, denn die Berichte werden historisch eingeordnet und implizit oder explizit moralisch beurteilt. Sieben längere Ausschnitte aus Kapuscinskis Büchern werden vorgestellt, unterbrochen von Texten "Aus den Notizbüchern". Vier Texte befassen sich mit Afrika, einer mit dem Persien des Reza Pahlavi, einer mit den Gräueln der sowjetischen Arbeits- bzw Todeslager in Sibirien, und einer mit den ersten Erfahrungen Kapuscinskis als Reiseschriftsteller u.a. in Indien und Ägypten. Bei der Mehrheit muss man schlucken und wird beklommen über die Hölle, die Menschen den Menschen bereiten, dies besonders im Bericht über die Lage in Persien mit der folterwütigen und allgegenwärtigen Geheimpolizei SAVAK und im deprimierenden Text über die Todeslager in Sibirien.

Ein tolles Buch, das mich zu hunderten von Anstreichungen zwang.

Franz Grillparzer - "Selbstbiographie"

(30.11.2021) Nachdem mir Grillparzers "Reisetagebücher auf der Reise nach Italien, 1819" so gut gefallen haben (gelesen im Januar 2020), lag es nahe, auch seine umfangreiche "Selbstbiographie" vorzunehmen. Die Lektüre bedaure ich nicht, sie fällt aber im Vergleich zu den Reisetagebüchern stark ab. Vielleicht liegt es daran, dass sich Grillparzer erst nach mehrmaliger äußerer Aufforderung an die Arbeit machte, es für ihn also keine Herzenssache war, seine Biografie zu schreiben. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass der mitunter sehr knorrige Grillparzer den Mißerfolg und den Skandal um "Weh dem, der lügt" im Jahr 1838 nicht verwand, sich in der Folge nicht nur aus der Öffentlichkeit zurückzog und nur noch für die Schublade (und die Nachwelt - so viel Selbstbewusstsein hatte er immer noch) arbeitete, sondern auch die Selbstbiografie nur bis zum Jahr 1836 gehen lässt, als noch alles halbwegs in Ordnung ist. Und danach blieb auch dieser Text ab 1853 in der Schublade. Gestorben ist Grillparzer erst 1872, fast sein halbes Leben bleibt also in der Selbstbiographie ausgespart.

Grillparzer
Der etwas mürrische Herr Hofrat...
Ausschnitt aus einem Foto von Ludwig Angerer

Der lebenslang unverheiratet gebliebene Grillparzer, der natürlich trotzdem einige Frauengeschichten hatte, spart dieses so wichtige Thema komplett aus. Und auch eine ehrliche Auskunft über den Tod seiner Mutter (die sich selbst tötete) ist nicht zu bekommen, statt dessen eine gewundene und beschönigende und trotzdem erschreckende Schilderung, wie die Leiche gefunden wird.

Bezeichnend auch seine zwischen Selbstbewusstsein (er kommt gleich hinter Goethe und Schiller) und kindischer Verehrung (ihm kommen die Tränen, als sich Goethe ihm zuwendet) schwankende Beziehung zu Goethe.

Ansonsten - er kann schimpfen: Über Juden, über den sächselnden Dialekt, über dies, über das. Es liest sich aber nicht so schön wie vergleichbare Passagen der Reisebeschreibung.

Bruce Chatwin - "Traumpfade"

(21.10.2021) Die Lektüre ist mir schwer gefallen: Ich habe mich regelrecht gezwungen, das Buch fertig zu lesen - etwas, was man in meinem Alter eigentlich nicht mehr machen sollte. Chatwin besucht Australien, natürlich auch die Aborigines, bleibt eine Zeitlang dort und findet sie offenbar klasse. Bei vielem, was er so erzählt, trotz vieler Nervereien offenbar halb belustigt, habe ich mir nur gedacht: Nein, solche Freunde oder Bekannte möchte ich nicht haben. Von Zuverlässigkeit und Verläßlichkeit keine Spur, Diebstahl ein Kavaliersdelikt, Sexismus (Unterdrückung der Frauen) ein Bestandteil der Folklore, Brutalität (gegen Menschen und Tiere (auf S.284ff beschreibt Chatwin eine Jagd)) ganz gewöhnlich und so weiter. Aber (zur Freude der Anthropologen): Ein angeblich nahezu unglaubliches Orientierungsvermögen, eine sagenhafte Nähe zur Natur, die "Traumpfade" und ihre "Songlines" und so weiter und so fort.

Bruce Chatwin, Traumpfade

Vieles von diesem zweiten Narrativ hat mich an die sogenannten "Lehren des Don Juan" von Carlos Castaneda erinnert, von dem ich mir in den siebziger Jahren zwei Bücher angetan habe (um mitreden zu können), oder auch an die ach so tollen Tarahumara, die angeblich besten Ultralangstreckenläufer der Welt (die es natürlich nicht nötig haben, diesen Status bei Wettkämpfen zu beweisen): Das begeisterte Buch von Christopher McDougall "Born to Run" konnte ich aber beim besten Willen nicht weiter als bis zur Hälfte lesen.

Was mich bei der Stange gehalten hat waren eher Geschichten über einige (weiße) Drop-Outs, also Aussteiger, die für Chatwin offenbar die interessanteren Gesprächspartner waren. Daneben ist das Buch eine etwas merkwürdige Mischung aus Reisebericht und Materialsammlung zu nomadischen Kulturen, und bei diesen Zitaten zum Nomadentum gab es einige interessante Passagen.

Ich habe mich parallel zur Lektüre von Chatwin näher über die Aborigines informiert, vor allem auch zu einigen Themen, die bei Chatwin nur von ferne anklingen, zum Beispiel den Initiationsriten (bei Chatwin S.196ff). Diese haben es in sich und man müsste jeden Tag feiern, nicht als Aborigine auf die Welt gekommen zu sein. Den Jungs blüht(e) es, als "Schmuck" tiefe Narben verpasst zu bekommen, einen Zahn ausgehauen zu bekommen, die Vorhaut entfernt zu bekommen (Circumcision) und den Penis aufgeschlitzt zu bekommen (Subinzision). Das alles natürlich ohne Betäubung. Ob daraus bessere Männer resultieren? Oder eher brutalere und empathiefreie? Einige Bildbeispiele.

Aborigines, Narben
Narben zieren den Mann...

Aborigines, Zähne ausschlagen
Zahnausschlagen bei Mädchen (Quelle: commons.wikimedia.org)

Aborigines, Zähne ausschlagen
Zahnausschlagen bei einem Jungen

Aborigines, Circumcision
Die Circumcision kann auch als Gruppenveranstaltung stattfinden.
Nach Freudenschreien sehen die Gesichter der Jungs nicht aus.

Aborigines, Subinzision
Es braucht viele Männer, um einen Jungen festzuhalten, der mit der Subinzision gefoltert wird.
Quelle: commons.wikimedia.org

Folgende Sätze liefern ungewollt einen guten Kommentar zu Chatwin und sind mir aus der Seele gesprochen:

"Aboriginal culture, which the anthropologists are so keen to revive, is so brutal that Aboriginal youth have deserted the old ways in droves. It can best be compared to the ritual torture and cannibalism of the Aztecs, as suggested by the following selections from writings on the 'Aboriginal tradition' by well-known anthropologists."
Quelle:
Ritual Torture in Aboriginal Culture

Zum Glück scheinen diese Praktiken also allmählich zu verschwinden, und sei es, weil die Jugend vor diesen Initiationsriten desertiert, sie nicht mehr erleiden will und flieht. Aber aus der eigenen Kultur zu fliehen und in der anderen (noch) nicht heimisch zu sein oder gar ausgegrenzt zu werden - das ist eben auch kein Rezept zum Lebensglück. Den Aborigines in Australien geht es folglich heute sehr schlecht: "Verzweiflung unter Australiens Ureinwohnern."

Außer über Aborigines und Nomadentum schreibt Chatwin auch über anderes, und auch da kratzt man sich manchmal ungläubig am Kopf. Zum Beispiel liest man über "Zigeuner" folgendes:

Dann versuchte ich einen anderen Weg und beschrieb, wie Zigeuner über riesige Entfernungen miteinander kommunizieren, indem sie geheime Strophen durch das Telefon singen.[S.80]

Bevor er initiiert wird, fuhr ich fort, muß ein junger Zigeuner die Lieder seines Klans, die Namen seiner Verwandten und mehrere hundert internationale Telefonnummern auswendig lernen.[S.81]

"Die Zigeuner betrachten sich ebenfalls als Jäger", sagte ich, "Die ganze Welt ist ihr Jagdgrund - Seßhafte sind 'unbewegliches Wild'. Das Wort für 'Seßhafte' ist bei den Zigeunern identisch mit dem Wort für 'Fleisch'."[S.81]

Ob man das alles glauben soll? Nun gut. - Was weiß Chatwin von der "Entstehung" des Menschen?

"Der Mensch war in der Wüste geboren, in Afrika. Indem er in die Wüste zurückkehrte, entdeckte er sich selbst"[S.93]

Sehr dunkel. En passant: Ist für ihn Afrika = Wüste? Oder ist Steppe / Savanne für ihn gleichbedeutend mit "Wüste"?

Wunderbares Australien, immer für eine Überraschung gut: In einem gottverlassenem Kaff gibt es einen "Desert Bookstore", und da kann man anstandslos reinflitzen, um folgendes Buch ganz selbstverständlich zu kaufen: Die Penguin-Klassikerausgabe von Ovids Metamorphosen. Respekt, das würde ich von einem deutschen Buchladen nicht erwarten.[S.108]

Jetzt ein schönes Zitat, wie es ein Philosophiestudent im ersten Semester in seinem ersten Referat nicht besser formulieren könnte:

Alle großen Lehrmeister haben verkündet, der Mensch sei ursprünglich ein 'Wanderer' in der ausgebrannten und unfruchtbaren Wildnis dieser Welt gewesen, ...[S.223]

Im ersten Semester maßt man sich noch an, über "alle großen Lehrmeister" zu sprechen, denn da kennt man sie alle. Oder? Weiter: Im Rahmen des Materials zum Nomadentum zitiert er einen ehemaligen Fremdenlegionär, den er in Mauretanien trifft, und dieser sagt erstaunlich gescheite Sachen:

"So etwas wie ein Kriegsverbrechen gibt es nicht", sagte er, "Der Krieg ist das Verbrechen."[S.233]

Seine Definition eines Soldaten lautet so: "Ein Mann vom Fach, der dreißig Jahre lang dafür bezahlt wird, daß er andere tötet. Danach beschneidet er seine Rosen."[S.234]

Einmal, in einem unwichtigen Zusammenhang, spricht Chatwin von "tanzenden Spermatophagen", einem der Stämme, die sich an den Randzonen antiker Geographie befänden. Ich habe noch nie von "tanzenden Spermatophagen" gehört, aber es klingt spannend und faszinierend... Vermutlich spielt er auf Diodors Erwähnung einiger Völker in Äthiopien an, die sich u.a. von (Pflanzen-[ach wie langweilig, aber was sonst?])Samen ernähren. Aber dass die tanzen, hm...[S.277]

Ich schließe mit einem Zitat, wo von Chatwin wohl auch die Aborigines als Vorbild genommen wurden, wie weit berechtigt, das sei dahin gestellt:

"Wenn die Welt noch eine Zukunft hat, dann ist es eine asketische Zukunft."[S.184]

Stanislaw Lem - "Ausstellung mit 26 Zeichnungen"

(11.10.2021) Der Zugang zu dieser Ausstellung im Obergeschoß der Heidelberger Volkshochschule musste erwandert werden: Wegen Corona war der große Haupteingang zum "Nur-Ausgang" verwandelt worden, der neue "Nur-Eingang" war eine Art Notausgang auf der Rückseite des Gebäudes, über 150 Meter Fußweg also, aber warum nicht. Beim Betreten schauten mich zwei Männer neugierig an, ich schaute mit Pokerface zurück, bis einer fragte, ob ich eine Impfbescheinigung hätte und ich spontan witzelte "Ah, sie sind die beiden Türsteher" und einer antwortete "Hm, eigentlich waren wir mal Hausmeister, aber inzwischen könnte man das so sagen" und der andere ergänzte "Tja, man muss der Wahrheit ins Gesicht schauen." Arme Kerle. Alle Gänge waren mit Klebebändern "geschmückt", die eine strikte Zweiteilung der Böden anzeigten, und viele, viele Pfeile machten einem klar, wo man sich zu bewegen hatte. Nun ja, da muss man halt durch, dachte ich.

Stanislaw Lem, Achtermensch

Aber nun zum Stanislaw Lem, der dieses Jahr, also 2021, 100 Jahre alt geworden wäre - wenn denn einige Vorhersagen der Science Fiction bezüglich unserer Lebenserwartung schon greifen würden. Aber tot ist er halt schon seit 2006, seit fünfzehn Jahren.

Ich habe von Lem eher wenig von seiner Science Fiction gelesen, Kurzgeschichten halt, dafür sein dickes Werk "Summa technologiae" (1964, deutsch 1976) und die herrlichen Buchbesprechungen zu nicht-existenten Büchern, nämlich "Die vollkommene Leere" (1971, deutsch 1973). Beides hochinteressante Bücher, die mir viel Stoff zum Nachdenken gaben und deren neuerliche Lektüre ich immer mal wieder plane.

Die 26 ausgestellten Zeichnungen sind - nun ja - nicht so ganz vom Hocker reißend, sie sind ganz nett, aber wären sie nicht von Lem, sie wären nie und nimmer ausgestellt. Es war nicht uninteressant, sie anzuschauen, sie sind teilweise von einem etwas boshaften Humor, teilweise ziemlich ironisch, manche verlässt man leider achselzuckend. Die meisten sind eigenhändige Illustrationen zu seinem berühmten Zyklus "Sterntagebücher".

Ursula Ziebarth - "Hexenspeise"

(25.09.2021) Verlag Günther Neske Pfullingen 1976, 417 Seiten.

Ursula Ziebarth war eine der vielen Geliebten von Gottfried Benn. Ihr Erinnerungsbuch an ihre sehr unruhige Beziehung zu Benn - von der Kritik meist zerrissen, von mir aber gut gefunden (Journal 2004) - hat sie für mich auch unabhängig von Benn interessant gemacht. Den ersten Hinweis auf Ursula Ziebarth habe ich aber von Band 1 "Orpheus und Eurydike" aus Klaus Theweleits Reihe "Buch der Könige", wo Theweleit einige Passagen aus dem Text "Es ist schön, an Orpheus zu denken" zitiert, der in "Hexenspeise" auf den Seiten 103 bis 120 abgedruckt ist.

Ursula Ziebarth, Hexenspeise

"Hexenspeise" versammelt 33 Texte, manche wirken ganz isoliert und können für sich stehen, manche haben lockere Verknüpfungen zu anderen Texten dieser Sammlung. Leider sind die 33 Texte von stark unterschiedlicher Qualität, ich musste mich meist zwingen, weiter zu lesen, in der Hoffnung, auf einen der besseren Texte zu stoßen. Folgende Texte haben mir gut gefallen:

Diese vier Texte leben davon und beziehen ihre Intensität daraus, dass Ursula Ziebarth etwas mitteilen will, entweder begeistert oder tief beschämt ("Alte Augenfrau) ist. Die meisten anderen Beiträge erwecken den Eindruck, dass mal wieder etwas geschrieben werden sollte, egal was, und statt eines packenden Inhalts gesuchte Formulierungen treten, die heute sehr altmodisch klingen, oder riesige veschachtelte Sätze geschrieben werden, die wohl kunstvoll sein sollen, aber nur noch manieriert wirken. Am schlimmsten aber, dass die Texte den Eindruck von leeren Geschwafel vermitteln.

Leider war also das Buch (für mich) zum großen Teil eine Enttäuschung, aber es gibt einige Lichtblicke.

Haruki Murakami - "Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt"

(16.09.2021) Mit diesem frühen Roman (1985) von Murakami tat ich mich anfangs etwas schwer: Die Handlung nahm nur langsam Fahrt auf, und der für Murakami typische immer zunächst etwas langweilig wirkende Protagonist (ein Mann in den 30ern) sorgte auch nicht gerade für Gänsehaut-Stimmung. Aber nach rund 100 Seiten bekam die Geschichte endlich Pfeffer, und dann wurde es richtig spannend.

Murakami, Hard-boiled Wonderland

Zwei Handlungsstränge stehen zunächst krass nebeneinander: Einer hat den Obertitel "Hard-Boiled Wonderland" und spielt in der Gegenwart oder einer nicht so fernen Zukunft in Tokio - dieser Handlungsstrang ist im großen und ganzen realistisch gehalten. Der andere hat den Obertitel "Das Ende der Welt" und beinhaltet stark alptraumhafte Elemente, teils ist er aber auch nahe an der Fantasy. Erst sehr spät im Geschehen erkennt man, dass dieser zweite Strang sich im Innern des Protagonisten, in seiner Phantasie abspielt - aber ohne dass die beiden Stränge die längste Zeit voneinander wissen, das "klärt" sich erst nahezu am Ende.

Die Konstruktion der beiden kontrastierenden Handlungsstränge hat mir nicht gefallen. Die Auflösung, dass es sich letztlich um das gescheiterte Experiment eines genialen "Großvaters" (keine Figur im Roman hat einen Namen) handelt, überzeugt mich ganz und gar nicht. Das erinnert an Murakamis "1Q84", wo zwei Realitätsebenen nebeneinander stehen und man sich frägt, ob das wirklich notwendig war.

Was mir am Roman gefallen hat, hat jedenfalls nichts mit diesem Konstrukt zu tun, frei nach dem berüchtigten Murakami-Bingo sind es

Aber vor allem immer diese tollen, teils schrägen Frauen.

Äußerst spannend fand ich die Flucht in der Tokyoer Unterwelt vor menschenfressenden "Schwärzlingen", bedroht von Blutegeln, von tiefen Löchern (da haben wir fast auch den Brunnen-Tick von Murakami), das Schwimmen im stockdunklen unterirdischen See und so weiter. Das war Fantasy pur, obwohl im realistischen Erzählstrang.

Insgesamt ein spannender und unterhaltsamer Roman, bei dem man das eher störende Konstrukt um die Erfindungen des genialen Professors ausblenden kann, auch wenn da die Aufteilung in eine reale und eine parallele Welt letztlich herkommt.

Einige hübsche Zitate

"Normale Leute sind vielleicht normal, aber ihr Leben ist kein Leben."[S.74]

"Die Veranlagung, irgendwo Spitze zu sein, hat jeder Mensch. Nur weil Leute daherkommen, die diese Veranlagung nicht fördern, sondern unterdrücken, schaffen es die meisten nicht."[S.241]

Wenn einem ein dickliches siebzehnjähriges Mädchen folgendes Angebot macht, was sagt man dann?

"Wenn wir das hier hinter uns haben, wollen wir dann nicht zusammenleben? Ich meine nicht heiraten oder so, einfach nur zusammenleben. Wir gehen nach Griechenland oder Rumänien oder Finnland, irgendwohin, wo es nicht so hektisch zugeht, und reiten zusammen aus und singen Lieder. Geld habe ich genug, und mit der Zeit wirst du ein Spitzenklassenmensch."[S.142]

Was man von den "Schwärzlingen" so hört, macht sie nicht sympathisch...:

"Die Schwärzlinge sind schlecht, und was sie sagen, ist schlecht. Sie fressen Aas und modrigen Müll und saufen Abwasser. Früher lebten sie unter den Friedhöfen und fraßen das Fleisch der Toten. Bis man zur Feuerbestattung überging."[S.259]

Das dickliche Mädchen sagt:

"Man muß nur glauben, dass alles gutgeht, dann flößt einem nichts auf der Welt mehr Angst ein."[S.266]

Der Protagonist antwortet:

"Wenn man älter wird, nutzt sich so mancher Glaube ab."[S.267]

Wem möchte man eher glauben?

Wenn man in der Dunkelheit einen steilen Berg hoch muss um dem steigenden Wasser und anderen Gefahren zu entkommen, fühlt man sich gelinde gesagt sehr unsicher, so natürlich auch der Protagonist:

"Wenn man etwas erreichen will, stellt man sich ganz natürlich immer dieselben drei Fragen: Was habe ich zu diesem Zweck bereits getan? Wo befinde ich mich zur Zeit? Was habe ich noch zu tun? Wenn einem diese drei Wegemarken genommen werden, bleiben nur Unsicherheit, Angst und Erschöpfung."[S.275]

"Ein wirklich schöpferischer Wissenschaftler muß unabhängig sein."[S.337]

Will man ein Leben ohne Kampf, ohne Haß und ohne Begierde? Unser Held könnte sich das vorstellen. Aber sein "Schatten" argumentiert dagegen...

"Ohne Kampf, Haß und Begierde gibt es auch das Gegenteil nicht - keine Freude, kein Glück, keine Liebe. Gerade weil es Verzweiflung, Enttäuschung und Trauer gibt, entsteht Freude. Ohne Verzweiflung kann es auch kein Glück geben."[S.440]

"Wie viele Menschen mochte es wohl auf der Welt geben, die die Namen der Brüder Karamasow hersagen konnten?"[S.519]

Britta & Christian Habekost - "Elwenfels"

(16.08.2021) Ein Fund aus dem "kommunalen Buchregal" in Heidelberg-Pfaffengrund. Ich habe das Buch mitgenommen, weil ich Christian Habekost als "Comedian" mit einem Wahnsinns-Sprachgefühl kenne. Und das Buch ist keine Enttäuschung: Wer auf Sprachwitz steht, ist gut bedient mit diesem "fantastischen Kriminalroman" mit 368 Seiten.

Habekost, Elwenfels

Der Fall, den der Privatdetektiv Carlos Herb aus Hamburg lösen soll, klingt zunächst nicht ungewöhnlich: Ein schwerreicher Manager ist verschwunden, in einem pfälzischen Weindorf verliert sich seine Spur. Laut seinem Testament soll nach drei Jahren das gesamte Vermögen an ein Kinderhilfswerk in Laos gehen, wenn keine Leiche gefunden wird. Die hinterlassene Frau (eine arrogante, geldgierige Tuss) einer schon seit langem kaputten Ehe ist natürlich sehr daran interessiert, dass die Leiche rechtzeitig gefunden wird und beauftragt Herb mit der Suche. Was sich dann aber an Verwicklungen und aberwitzigem Geschehen ergibt, das rechtfertigt locker die Genrebezeichnung "fantastischer Kriminalroman". Und natürlich ist der culture clash zwischen Hamburger Ermittler und Pfälzer Eingeborenen immer wieder für einen Lacher gut. Mir hat der gar nicht mal so kurze Roman so gut gefallen, dass ich ihn in einem Rutsch durchgelesen habe - das zeigt auch, dass eine ordentliche Spannung aufgebaut wird.

Gespräch Tim Ferriss mit Kevin Rose

(07.07.2021) Dies ist Nummer 1 der Tim-Ferriss-Transkripte. Als Mitschrieb sind das 42 Seiten, die sich relativ schnell lesen lassen. Etwas zu viel Flachserei für meinen Geschmack, aber stellenweise ganz interessant, auch wenn nur wenig zum Notieren bleibt. Interessant die Passagen über die Notwendigkeit von Vaterfiguren für männliche Jugendliche, also jemand der sagt wo's langgeht und wie's gemacht wird. Der für Struktur sorgt (S35/36). Antreiber (personal trainer) sind beim Sport wichtig, aber auch allgemein sinnvoll, z.B. in der Rolle als Mentor. Interessant auch die Erfahrung der Scham, zum erstenmal zu einem Therapeuten zu gehen, sich eine Schwäche einzugestehen. Und auch interessant die Erwähnung einer "10x"-Regel bei Google: "Die richtige Person in der richtigen Rolle kann die Arbeit von zehn Personen in der falschen Rolle erledigen" - etwas, was ich nach den Erfahrungen aus meinem Berufsleben sofort unterschreibe.

Theater und Orchester Heidelberg: "Souvenirs, Souvenirs!"

(05.07.2021) Eine "Chor-Revue" im Rahmen der Heidelberger Schlossfestspiele "auf der Bäderterrasse". Mitglieder des Opernchores sangen einzeln oder zu mehreren 28 Schlager und Hits, die meist mit Urlaub, Reisen und Fernweh zu tun haben. Marcos Padotzke begleitete virtuos auf dem Klavier, ich schaute oft auf seine flinken Finger. Originell wirkte, dass die Mitglieder des Chores Leute wie du und ich sind, also keine glitzernden Schönheiten darstellen, und dann diese solistischen Darbietungen - goldig. Die meisten der Schlager kannte man ja irgendwie, und wenn's nur die wichtigsten Zeilen sind - man hätte also durchaus mitsingen oder -brummen können. War ganz nett, der Open-Air-Abend, und es regnete nicht (was es noch bei der Hinfahrt tat).

Comicerzählung - "Die Weiße Tigerin"

(23.06.2021) Die siebenbändige Comicerzählung "Die Weiße Tigerin" ist eine inhaltlich spannende und grafisch exzellente Erzählung um die chinesische Agentin Alix Yin Fu. Die Geschichte spielt um 1947, also knapp nach Ende des Zweiten Weltkriegs, enthält aber auch Rückblenden. Ich habe die sieben Bände im Lauf des Juni dreimal(!) gelesen, denn man entdeckt bei jeder Lektüre neues. Die "Heldin" ist eine hochintelligente junge Frau, in allen Kampftechniken bewandert, und dem "neuen", dem kommunistischen China zugewandt.

yann, conrad, die weisse tigerin

Die deutsche Ausgabe ist im Verlag schreiber & leser erschienen und von Resel Rebiersch ausgezeichnet übersetzt. Das Szenario der ersten beiden Bände ist von Yann le Pennetier geschrieben. Ab dem vierten Band wird Wilbur (das ist die Comic- und Kinderbuchautorin Sophie Commenge) als Szenaristin angegeben. Für den dritten Band wird Didier Conrad (der Ehemann von Wilbur) als Szenarist genannt, man kann aber davon ausgehen, dass auch hier Wilbur verantwortlich zeichnet: Didier Conrad wird wohl nur als Szenarist genannt, um seiner zur Abfassungszeit schwangeren Frau die anstrengenden Verhandlungen mit dem Verlag zu ersparen. Alle Zeichnungen sind von Didier Conrad (dem offiziellen Nachfolger Uderzos bei Asterix, wir haben es also mit einem hochangesehenen Zeichner zu tun), die Kolorierung aller Bände besorgte Julien Loïs. Nicht ohne Grund wird die Sekundärliteratur aufgezählt, die herangezogen wurde, ist doch diese fiktive Geschichte in einer realistisch beschriebenen Zeit angesiedelt und viele der vorkommenden Personen haben tatsächlich gelebt.

"Die Weiße Tigerin", die einzelnen Bände:

  1. Yann / Conrad - Im Geheimdienst des Großen Steuermanns (Dargaud 2005, s&l 2008)
  2. Yann / Conrad - Seidenschlipse auf Pfirsichhaut (Dargaud 2005, s&l 2008)
  3. Conrad(&Wilbur) / Conrad - Die fünfte Glückseligkeit (Dargaud 2006, s&l 2008)
  4. Conrad&Wilbur / Conrad - Raubkatze auf dem Dach (Dargaud 2007, s&l 2009)
  5. Conrad&Wilbur / Conrad - Das Jahr des Phönix (Dargaud 2008, s&l 2009)
  6. Conrad&Wilbur / Conrad - Die Mikado-Strategie (Dargaud 2008, s&l 2010)
  7. Conrad&Wilbur / Conrad - Paris sehen und sterben (Dargaud 2010, s&l 2011)

Auf dem ersten Blick sehen die Personen schon etwas "funny" aus und man könnte auch an Comics für Kinder oder Jugendliche denken. Die Handlung ist aber weit davon entfernt: Sie ist komplex, sie ist hart, sie ist teilweise sehr grausam. Es wird immer wieder auf den Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg angespielt, und man tut gut daran, sich mit diesem Teil der Weltgeschichte, den man bei uns im Geschichtsunterricht üblicherweise unter den Tisch fallen lässt, etwas näher zu beschäftigen. Das sollte man nicht vor dem Schlafengehen machen, denn die Gräuel und Kriegsverbrechen, für die Japan verantwortlich zeichnet, sind nichts für schwache Nerven. Ich habe Zeit gebraucht, das zu verdauen. Man weiß dann aber, vor welchem Hintergrund diese Comicgeschichte spielt und kann manche Motivationen der tragenden Gestalten besser nachvollziehen.

Man erkennt, warum der "Große Steuermann" (Mao) so viel Hoffnung wecken konnte (Alix Yin Fu bezeichnet sich immerhin als überzeugte Kommunistin), man ahnt aber auch, warum der Kommunismus historisch scheitern musste: Die vorgeführten Gestalten, die für das neue China kämpfen, haben immer auch ihre eigene Agenda, sie bereichern sich, kosten ihre Macht aus, sind sexistisch. Die jungen Frauen teils gewaltsam zu vernaschen (sprich: zu vergewaltigen) ist quasi selbstverständlich. Dass das eigene Wohlsein über alles geht: In welcher Gesellschaftsform gilt das nicht?

Dass der Charakter der Alix Yin Fu keineswegs stromlinienförmig ist und sie ein ganz großes Problem damit hat, dass von Agentinnen erwartet wird, entweder "Stechfliege" zu sein (also auf Kommando jeden ohne zu fragen zu exekutieren) oder "Honigfliege" (also auf Kommando mit jedem ins Bett zu gehen, von dem Informationen abgegriffen werden können) wird bald klar. Sie gilt für Hardliner deswegen schnell als "ungehorsam", da sie mitdenkt und eigene Gefühle hat. Eine ebenfalls sehr vielschichtige Gestalt, der französische Kommunist und(!) Anarchist "Rousseau" sagt ihr sogar ins Gesicht, dass sie zu stark indoktriniert worden ist, ohne dabei von ihren frühen familiären Belastungen zu wissen.

Einige Beispiele für Macht, Sex und Vergewaltigung, Töten auf Kommando

tigresse blanche
Macht ist ein grosser Genuss

Ein vorlauter Agentenanwärter soll die drei Eigenschaften des guten Revolutionärs aufsagen: das sind 1. Gehorsam, 2. Mut, 3. Opferbereitschaft. Alix bekommt nun den Auftrag, diesen Genossen vor allen anderen Bewerbern mit Gehorsam und Mut die Kehle durchzuschneiden, der Genosse soll das mit Opferbereitschaft erdulden. Was für ein Menschenbild spricht aus diesem Auftrag, was für eine Politik ist von Menschen zu erwarten, die solche Aufträge aussprechen? Alix macht es nicht und wird deswegen kritisiert.

tigresse blanche
Sex bzw dominanten Sex nimmt man immer mit

Hübsche Mädchen werden einfach genommen, da wird gar nicht groß gefragt, die Frauen wollen das doch... Einvernehmlicher Sex sieht aber anders aus. Da ist es für Alix natürlich von Vorteil, alle Kampftechniken zu beherrschen.

tigresse blanche
Töten auf Kommando, "Los, bring ihn um!"

Ein alter Mann zwar, aber stark engagiertes Mitglied der Einheit 731, also Menschenversuche im Krieg... Kann man den einfach töten?

tigresse blanche
Sexismus: Genossen denken, Genossinnen machen Denkversuche

Der Sexismus dieser Männer bedarf keines weiteren Kommentars...

Wie angemerkt habe ich eine Reihe von Sekundärliteratur zum besseren Verständnis der Erzählung herangezogen, meist aus der Wikipedia. Eine Auswahl davon:

Partielle Sonnenfinsternis am 10.06.2021

(10.06.2021) Das Wetter war während der beiden Beobachtungszeitpunkte (ca 9h40ut bis 9h50ut und von ca 10h15ut bis 10h25ut) kooperativ, aber schon eine Stunde danach zogen Gewitterwolken auf und etwas Regen fiel. Währnd der Beobachtungen war der Himmel zwar nicht wolkenfrei, aber Richtunge Sonne brauchbar.

a) Visuelle Beobachtungen ohne Fernrohr aber natürlich mit Sonnenfilterfolie: partielle Phase beide Male leicht zu sehen.

b) Visuelle Beobachtungen mit Refraktor 80/400 um ca 10h25ut (abgeblendet auf 50mm Objektivdurchmesser mit Sonnenfilterfolie, Amiciprisma und 7mm Okular, also V=57x): schöner Anblick der partiellen Phase, aber keine Sonnenflecken gesehen.

c) Fotografische Beobachtungen gleichzeitig mit den visuellen Beobachtungen: Refraktor 80/400 (abgeblendet auf 50mm Objektivdurchmesser mit Sonnenfilterfolie, Amiciprisma und 7mm Okular), Samsung S7 mit Smartphone-Halterung am Okular befestigt.

Sonne, 10.06.2021
Partielle Sonnenfinsternis am 10.06.2021 um 10h19ut

Comicserie - "Der Wind der Götter"

(09.06.2021) Innerhalb einiger Tage habe ich alle 16 Alben der Comicserie "Der Wind der Götter" gelesen. Die Serie erschien zuerst in Frankreich beim Verlag Glénat (von 1985 bis 2004), in Deutschland dann bei wechselnden Verlagen von 1987 bis 2009 (wobei der sechzehnte Band nach langer Pause vom Finix-Verlag veröffentlicht wurde, der es als eine seiner Aufgaben ansieht, unvollendet herausgegebene Serien ordentlich zu beenden).

Wind der Götter

Szenarist für alle Alben war Patrick Cothias. So viele erfolgreiche Serien er auch schon geschrieben hat und so gut sein Ruf auch ist - es gibt bei ihm immer wieder Serien, die irgendwie zerlaufen, in wirre Fäden zerbröseln, und "Der Wind der Götter" ist eine davon. Während die ersten fünf Bände als in sich abgeschlossen betrachtet werden können, zerläuft die Handlung in den nächsten elf Bänden immer mehr, und auch der als "Abschluss" bezeichnete Band 16 ist alles andere als ein klares Serienende, treten in diesem im Japan des 13. Jahrhunderts in Japan und Tibet spielenden Epos doch plötzlich kämpfende Roboter auf, es gibt eine Art Fernseher, der "Alte vom Berge" hat einen Aufzug im Berg und so weiter. Und der Held erhält den Auftrag, den Kopf Sindbads des Seefahrers zu holen, der sich gerade in Bagdad aufhält. Warum das? Keine Begründung. Warum Roboter? Keine Begründung. Man kann nur vermuten, dass plötzlich irgendwelche Außerirdische ins Spiel kommen sollten, dass die ganze Geschichte mit ihren Verästelungen und Charakteren aber kaum noch zu beherrschen war. Und deswegen von Cothias aufgegeben wurde.

Wind der Götter
Coole Sache: Wer kann schon bei einer Audienz vor versammelter Mannschaft
seinen Gespielinnen am Busen rumspielen?

Die Bände 1 bis 5 wurden von Philippe Adamov gezeichnet und koloriert. Adamov war ungemein begabt als Zeichner extrem dekadenter und teils extrem gewalttätiger Themen, war also prädestiniert als Mitarbeiter einer Serie, die als Haupthelden einen Samurai (Tchen Qin) hat, in der es viele Gemetzel gibt und es an Höfen dekadent bis zum Abwinken zugeht. Man frägt sich unwillkürlich, ob heute noch Illustrationen möglich sind, in der nackte kleine Mädchen und teilweise als Mädchen geschminkte nackte Jungs als erotische Spielzeuge für erwachsene Männer dienen. Sicherlich war Cothias mit diesen Illustrationen einverstanden, bilden sie wohl auch in seiner Auffassung das damalige Leben in Japan gut ab. Adamov ist ein Vollblutzeichner gewesen, der von seiner Kunst gut leben konnte - bis der Markt für Comicalben einbrach und er es schwer hatte, an weitere Aufträge zu kommen und dem Verlauten nach immer frustrierter wurde. 2020 ist Adamov mit gerade einmal 63 Jahren verstorben. Ein schöner siebenseitigen Beitrag in der Comic-Zeitschrift "RRAAH!" von August 1988 stellt Adamov noch fast zu Beginn seiner Karriere vor.

Wind der Götter
Coole Sache: Auch ein Lama sagt nicht nein bei einem Blowjob.
Der reine Genuss war's für Pimiko wohl nicht...

Die Bände 6 bis 16 wurden dann von Thierry Gioux gezeichnet und koloriert (wobei für Band 6 noch Julie Dethorey die Kolorierung übernahm). Gioux konnte die formale Qualität der Serie halten, für das Nachlassen der inhaltlichen Qualität kann er nichts. Es gibt teilweise herrliche Landschaftsdarstellungen, für die Gioux eine besondere Begabung hat.

Wind der Götter
Coole Sache: Auch ein Priester weiß das Leben zu genießen...

Die Geschichte spielt im Japan des ausgehenden 13. Jahrhunderts. Es gibt Höfe örtlicher Adliger mit ungeheurer Pracht. Es gibt die Samurai, die ohne nachzudenken und ohne an ihr eigenes Leben zu denken alle Befehle ihrer Herren erfüllen und für die hunderte ermordeter Menschen nichts bedeuten. Es gibt Priester, die genauso sexistisch unterwegs sind wie die anderen und jede Gelegenheit beim Schopf packen, sich von Frauen körperlich verwöhnen zu lassen. Und es gibt Bauern, die weder von den Adligen noch von den Samurai als Menschen wahrgenommen werden, die bar aller Empathie bei der geringsten Kleinigkeit geköpft werden, und bei Strafaktionen wird oft das ganze Dorf niedergemacht, vom Säuling bis zum Greis. Die Losung lautet: "Tötet! Plündert! Vergewaltigt! Brennt alles nieder!". Der Held der Geschichte, Tchen Qin, beginnt über diese Rolle, über das unmäßige Blutvergießen nachzudenken, ohne sich bis zum "Ende" der Serie vom sogenannten Ehrenkodex ganz lösen zu können. Er kann sich auch bis zum Ende nicht zwischen zwei Frauen entscheiden, die ihm absolut verfallen sind. Die Polyarmorie war wohl noch nicht erfunden...

Wind der Götter
Coole Sache: Lasset die Kindlein und so weiter...
Das ist eine eher harmlose Abbildung.

In den Unterhaltungen der Samurai untereinander erkennt man, wie aufgesetzt der ganze Ehrenkodex ist, es handelt sich um eitle, eifersüchtige, egoistische Typen, denen das Quälen und das Töten anderer schlicht und einfach Spaß macht.

Sowohl beim Adel als auch bei den Samurai als auch bei Priestern und auch bei Bauern spielt die Sexualität eine dominierende Rolle. Man gönnt sie sich entweder aus einer dominanten Rolle heraus oder mit Gewalt, im Fall der Priester und (Schein-)heiligen auch mit mehr oder weniger sanfter Überredung oder Erpressung. Auch eine besonders heilige Gestalt wie der Lama Kao lässt sich durch einen gekonnten Blowjob von Pimiko locker für deren Wünsche umstimmen. Dass Kinder ganz selbstverständlich mit zum Vergnügen der Männer beitragen müssen war ja schon weiter oben erwähnt.

Nun gut, es gibt in dieser Comic-Serie einiges zu beanstanden, aber was solls: Die Lektüre war spannend und hat Spaß gemacht. Man erfährt so einiges zu Japan oder fühlt sich zumindest bemüßigt, nachzulesen, ob es wirklich so zugegangen sein könnte. Und eigentlich müsste man nun alles noch einmal von Band 1 bis Band 16 lesen.

"Der Wind der Götter", die einzelnen Bände:

  1. Cothias, Adamov - Das Blut des Mondes (Glénat 1985, Splitter 1987)
  2. Cothias, Adamov - Der Leib des Drachen (Glénat 1986, Splitter 1988)
  3. Cothias, Adamov - Der vergessene Mann (Glénat 1987, Splitter 1990)
  4. Cothias, Adamov - Der Tigerhase (Glénat 1988, Splitter 1993)
  5. Cothias, Adamov - Die Rückkehr des Mizu (Glénat 1991, Splitter 1993)
  6. Cothias, Gioux - Der Orden des Himmels (Glénat 1991, Splitter 1994)
  7. Cothias, Gioux - Barbarei (Glénat 1992, Splitter 1994)
  8. Cothias, Gioux - Ti Fun (Glénat 1993, Splitter 1995)
  9. Cothias, Gioux - Cambaluc (Glénat 1994, Splitter 1995)
  10. Cothias, Gioux - Das Gherkek (Glénat 1995, Splitter 1997)
  11. Cothias, Gioux - Cogotai (Glénat 1996, Splitter 1998)
  12. Cothias, Gioux - Von Angesicht zu Angesicht (Glénat 1997, Kult Editionen 2002)
  13. Cothias, Gioux - Der König der Welt (Glénat 1999, Kult Editionen 2002)
  14. Cothias, Gioux - Verlorene Paradiese (Glénat 2001, Kult Editionen 2003)
  15. Cothias, Gioux - Die wundersame Reise (Glénat 2002, Kult Editionen 2003)
  16. Cothias, Gioux - Der Alte vom Berge (Glénat 2004, Finix 2009)

Nick Morgan - "How to sell yourself in 30 Seconds"

(28.05.2021) Morgan erklärt in dieser erfrischend kurzen Broschüre (andere hätten daraus ein Buch gemacht), was eine "Elevator Pitch" (auch "Elevator Speech" genannt) ist, warum man mehrere braucht und auf was man beim Erstellen achten sollte. Eine Elevator Pitch (EP) hat die Aufgabe,

in einer äußerst knappen Form vorzustellen - 30 Sekunden müssen reichen. Man braucht mehrere Varianten, denn es ist ein Unterschied, einem entfernten Verwandten kurz darüber zu informieren, was man beruflich so tut, oder einen beruflich Vorgesetzten bei einem formellen oder informellen Anlaß über die eigene Rolle im Unternehmen aufzuklären. Und manchmal muß man auch nur erklären, was die Organisation, in der man seine Brötchen verdient, eigentlich macht - und das auf interessante Art und Weise. Außer der Aufgabe, andere zu informieren und zu interessieren(!) dient die EP auch dazu, uns selbst wie ein Mantra immer wieder auf das einzuschwören, was uns im Leben wichtig ist. Es sollte klar sein, dass die verschiedenen EPs gut und immer wieder frisch memoriert werden müssen.

Morgan, Elevator Pitch

Morgan erledigt seine Aufgabe gut: Man sieht unmittelbar ein, warum man vorbereitet sein sollte, dass man mehrere braucht und so weiter, man muss aber natürlich vom Einsehen zum Tun kommen. Das war mir bei der Lektüre im Klinikbett nicht so recht möglich, das muss bei einer Zweitlektüre angegangen werden.

Kirsten A. Seaver - "Mit Kurs auf Thule. Die Entdeckungsreisen der Wikinger"

(28.05.2021) Deutsche Ausgabe 2011 im Konrad Theiss Verlag. Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel "The last Vikings". Die Übersetzung von Karin Schuler empfand ich als ausgezeichnet, sie transportiert sehr schön den oft leicht ironischen Humor, der Seaver auszeichnet: Anders als mit einer gewissen Portion Humor kann man wohl manchen oft ideologisch gefärbten Fehlschlüssen und Falschinterpretationen der älteren Forschungsliteratur kaum begegnen. Trotz der schönen Gestaltung und des wertigen Gesamteindrucks: Ein Manko hat die deutsche Ausgabe. Sie enthält ausser einer in der E-Ausgabe kaum entzifferbaren Kartenskizze keine Abbildungen. Das ist umso unverständlicher, als die englische Ausgabe immerhin 15 Abbildungen enthält. Natürlich ist es kein Problem, online nach geeigneten Karten oder Grundrissen zu recherchieren, man wird auch fündig, aber ich habe die E-Ausgabe in einem Krankenhausbett auf dem Kindle gelesen und eine parallele Recherche auf dem Smartphone war mir zu lästig und zu unbequem. Aber auch zuhause ist es mir nicht gelungen, zu manchen erwähnten Kleinplastiken der Ureinwohner, die Nordmänner darstellen sollen, Abbildungen zu finden: So etwas gehört ins Buch.

Kirsten A. Seaver, Mit Kurs auf Thule

Kirsten A. Seaver hat einen Hintergrund, der sie exzellent dazu befähigt, über das Thema zu schreiben. Sie ist Historikerin, sie kennt die Sprachen, sie kann die Quellen im Original lesen, sie kennt die Quellen und kann ihre Aussagekraft beurteilen, sie kennt selbstverständlich die alte und die neue Forschungsliteratur, und sie kennt die Originalschauplätze in Island, Grönland und Neufundland von eigenen Besuchen. Überdies ist Seaver auch Autorin mehrerer Romane und kann gut schreiben. In der Summe ergibt das ein Buch, in dem die Souveränität der Autorin durchgängig zu spüren ist.

Von wem handelt das Buch: Im Kapitel "In den Weiten des Nordmeeres" wird zwischen "Nordmännern" und "Wikingern" unterschieden. Die Wikinger waren Nordmänner, aber nicht alle Nordmänner waren Wikinger. Als "Wikinger" wird die Gruppe von norwegischen, schwedischen und dänischen Kriegern bezeichnet, die als "gewalttätige Piraten, Plünderer und Brandschatzer" auftraten. Genaugenommen ist also sowohl der englische Buchtitel "The last Vikings" als auch der deutsche Untertitel "Die Entdeckungsreisen der Wikinger" falsch gewählt und wohl als Marketingmaßnahme zu deuten: Der Begriff "Wikinger" ist bekannter und hat etwas faszinierendes, "Nordmänner" dagegen klingt etwas langweilig.

l'Anse aux Meadows
Die Siedlung der Nordmänner in Nordamerika: l'Anse aux Meadows.
Erstellt aus Satellitenaufnahmen (Quelle: BING), bearbeitet von mir.

Inhalt des Buches ist die Siedlungsgeschichte von Grönland von ca 1000 bis etwa 1500, sind die Fahrten zur nordamerikanischen Küste, sind die Beziehungen zu Ureinwohnern in Grönland und Nordamerika, das Alltagsleben in den grönländischen Siedlungen, die Absicht hinter den Erkundungsfahrten nach Nordamerika, die Aufgabe der Stützpunkte in Vinland (l'Anse aux Meadows), die Geschichte von Island und Grönland in ihrer Abhängigkeit von der "großen Politik" (norwegisches Königtum, Kirche, Hanse) und vor allem die Suche nach Gründen für die Aufgabe der grönländischen Siedlungen spätestens um 1500. Ein ausgezeichnetes Kapitel zur Quellenlage geht dem allen voran. Seaver ist vielleicht manchmal etwas spekulativ, wenn es darum geht, trotz der Überlieferungslücken eine kohärente Siedlungs- und Wirtschaftsgeschichte zu schreiben, aber ihre Lösungen sind faktenbasiert und beruhen auf einem sorgfältigen Studium der archäologischen Reste, der historischen Daten und der Deutung literarischer Quellen.

Ich muss zugeben, dass mich die Geschichte Islands im Mittelalter nicht so interessiert, dass auch die ständigen Versuche irgendwelcher Könige, mehr Macht, mehr Einfluß, mehr Geld zusammenzuräubern auch nicht so interessierte (das ist letztlich deren Hauptbeschäftigung). Aber extrem spannend war für mich die Beschreibung der Quellen, die unterschiedliche Deutung der Quellen in Abhängigkeit von kulturellen und akademischen Moden, die Beschreibung der Landnahme in Grönland, die Beschreibung des Alltags, der Gesellschaft und der Wirtschaft der Siedlungen, der Entdeckungsfahrten nach Nordamerika und der Kontakte zu dortigen Ureinwohnern. Und das macht in der Summe deutlich mehr als die Hälfte des Buchs aus und es insgesamt zu einer ausgezeichneten Lektüre.

Hermann Bahr - "Adalbert Stifter. Eine Entdeckung"

(26.05.2021) Oje, das war eine quälende Lektüre... So gerne ich Literatur von Stifter lese, so schwer fällt es mir manchmal, Literatur über Stifter zu lesen. Dieser Text vom Wiener Kritiker und "Adabei" Hermann Bahr, der 1919 zur Zeit der Niederschrift seines Büchleins schon lange wieder in den Schoß der allein selig machenden Kirche, sprich: zum Katholizismus konvertiert war und täglich in Messen ging, ist harte Kost, und nur mit einer "jetzt erst recht"-Mentalität bleibt man am Ball und liest diesen glücklicherweise kurzen Text zu Ende. Das Blabla dieser "Entdeckungsanzeige" ist stellenweise unerträglich, man sollte sich zwischendurch ans offene Fenster stellen und dem Gezwitscher der Vögel zuhören - da erfährt man mehr vom Lauf der Welt.

Hermann Bahr, Adalbert Stifter

Man kann auch bezweifeln, dass es Stifter nötig hatte, "entdeckt" zu werden, er war schließlich nicht vergessen. Stifter, den laut Bahr

"nur ein ganz reifer, von Erfahrung gesättigter, überblickender Mann mit dem Ohr für die leise Stimme der Weisheit verstehen kann"

hatte definitiv immer sein Publikum, er hatte auch Empfehlungen aus erster Hand, Bahr verweist ja selbst auf Friedrich Nietzsche, der Stifters "Der Nachsommer" zu den besten deutschen Büchern rechnete, und Kafka, den der Herr Kritikus Bahr wohl 1919 (immer) noch nicht entdeckt hatte, zählt ebenfalls den "Nachsommer" zu seinen Lieblingsbüchern. Und als ich 1977, im zarten Alter von 24 Jahren, weit entfernt davon, ein "ganz reifer, von Erfahrung gesättigter Mann" zu sein, zum erstenmal den "Nachsommer" las, habe ich so viel an Kommentaren machen müssen, soviel nebenher dazu geschrieben, wie selten während einer Lektüre.

Wer ein Name-dropping und Wortgeklingel mit Stifter, Goethe, Grillparzer, Kunstreligion, Kirche, Dämonen, Weisheit usw gerne liest, ist mit Hermann Bahrs Stifter-Hagiographie gut bedient. Wer etwas vernünftiges zu Stifter lesen möchte, soll Wolfgang Matz lesen. Ansonsten gilt Ingeborg Bachmanns Diktum, dass die Primärliteratur immer wichtiger ist als die Sekundärliteratur.

James L. Chen - "Astronomy for Older Eyes"

(24.05.2021) James L. Chen - "Astronomy for Older Eyes. A Guide for Aging Backyard Astronomers ". The Patrick Moore Practical Astronomy Series. Springer, 2017. 233 Seiten.

Chen, astronomy for older eyes

Mit Ende 60 kann man sich das Nachlassen der körperlichen und leider auch geistigen Kräfte nicht mehr schön reden: Man ist definitiv kein "Best-Ager" mehr, die besten Zeiten sind schlicht und einfach vorbei. Bestenfalls kann man versuchen, den Alterungsprozess hinauszuschieben und seinen Alltag und seine Hobbies im Rahmen des Möglichen zu managen - und da ist mehr möglich, als man gemeinhin denkt.

Chens Buch ist durchaus lesenswert, besonders das ausführliche Kapitel zum (alternden) Auge und den Konsequenzen daraus für die Wahl der Instrumente und der Optik. Welches Teleskop man sich tatsächlich bei einem alten und schwächer werdenden Körper noch zumuten kann oder sollte - jenseits vom blossen Wunschdenken - auch das ist informativ zu lesen. Andere Kapitel sind dagegen so allgemein, dass man sie auch alternden Schmetterlingssammlern oder Cineasten empfehlen kann. Und leider gibt es nicht wenige Passagen, für die "Speed-Reading" das geeignetste Lesetempo ist.

Wichtige Anregungen, die ich mitgenommen habe, sind:

Und natürlich einige Kleinigkeiten. Kein überragendes Buch, aber OK zum schnellen Lesen.

Wie bei anderen Büchern der Reihe "Patrick Moore Practical Astronomy Series" hätten 100 Seiten voll und ganz gereicht, tatsächlich sind es aber 233 Seiten und das Buch ist dadurch teurer als nötig (rund 40 Euro!). Wie üblich wird trotz des Spezialthemas (ein älterer Vogelbeobachter wird sich das Buch nicht kaufen) praktisch nichts an Astronomiewissen vorausgesetzt und Basiswissen durchgekaut (was ist ein Refraktor, was ist ein Reflektor, ...) sowie endlose Tabellen gebracht, die auch in anderen Büchern zu finden sind (Messier-Katalog, Caldwell-Katalog, Herschel-400-Katalog) - aber dafür kauft man dieses Buch ja nicht. Auf Seite 154 endet der Haupttext, dann kommen im Anhang viele Wiederholungen (sprich: nicht viel neues) und eben die Tabellen. Und ob man beim Vorstellen der (ausschließlich amerikanischen) Beobachter-Treffen wirklich so viele Fotos braucht - ich meine nein.

Ein gut gemeintes Buch, aber zu umfangreich und viel zu teuer.

Wilhelmine von Hillern - "Die Geier-Wally"

(18.05.2021) Einer spontanen Idee folgend öffnete ich diese schon seit einiger Zeit heruntergeladene epub-Datei und begann zu lesen, auf dem Smartphone, noch nicht einmal auf dem Kindle... und hörte nicht auf, bevor ich nicht nach einigen Stunden, um ein Uhr nachts, damit fertig war. So kann es gehen. Natürlich kennt man den Namen oder den Begriff "Geier-Wally". Aber ohne weitere Kenntnis des Romans stellte ich mir eine Geschichte um eine alte als Hexe verschrieene Frau vor - und fand mich angenehm getäuscht: Die Geier-Wally ist eine junge Frau, zu Anfang erst 16, und es ist die Geschichte ihrer großen Liebe zum "Bären-Joseph" - der auch geschilderte Vater-Konflikt tritt demgegenüber zurück.

Wilhelmine von Hillern, Geier-Wally

Die Unzahl von Adjektiven und Adverben - typisch für Trivialliteratur - bekämpfte ich beim Lesen mit einer höheren Lesegeschwindigkeit, da fielen sie nicht ganz so unangenehm auf. Erleichtert wurde die hohe Lesegeschwindigkeit durch den etwas schlichten Aufbau der Erzählung. Gibt es einmal Anspielungen (zum Beispiel auf das Nibelungenlied, was aus der Wally eine Brunhilde und aus dem "Bären-Joseph" einen Siegfried macht, aus Asra die Kriemhild), dann wird da ausgesprochen deutlich drauf hingewiesen.

Im ersten Moment könnte man meinen, dass die Geschichte einer emanzipierten Frau erzählt wird. Dem ist aber nicht so: Wally ist zwar körperlich sehr stark, stärker als viele männliche Gegenspieler, aber körperliche Kraft hat nichts mit Emanzipation oder einem freien starken Geist zu tun. Ganz deutlich wird dies am Schluss, als eine schwache, sich selbst erniedrigende Wally von ihrem Idol, dem "Bären-Joseph", als "du liebes Kind" angesprochen wird, im Bewusstsein, dass er ihr nun in allen Belangen über ist: "i fürcht dich nit, i zwing dich doch", und Wally bestätigt dieses Ankommen in der Normalität einer zeit- und ortstypischen Frau, denn sie will "allezeit dankbar und demütig bleiben!"

Hauptschauplätze Geier-Wally
Vön Sölden bis zum Hochjoch - die Hauptschauplätze.
Aus: Velhagen & Klasings Neuer Volks- und Familienatlas
Bielefeld und Leipzig 1901, Karte 37/38

Dem 1875 erstmals in Buchform erschienenen Roman liegt eine wahre Begebenheit zugrunde, die die Tiroler Malerin Anna Stainer-Knittel erlebte. Wilhelmine von Hillern verlegte die ursprünglich im Lechtal spielende Geschichte in die Ötztaler Alpen, aber scheint weder die dortige Geographie noch das bäuerliche Leben genauer studiert zu haben: Die Welt der Bauern bleibt reine Staffage (keine Tätigkeit wird genauer geschildert), und ob man wirklich Ziegen auf dem Hochjoch (Höhe ca 2870 Meter) dem Sommer über halten kann (und im Frühjahr wie beschrieben hochgeht), ist sehr zu bezweifeln, sind doch in dieser Höhe nur der August und September weitgehend schneefrei: Noch im Juli kann es schneien, und schon Ende September wieder schneien. Die Autorin kennt die Gegend ganz eindeutig nicht aus eigenem Erleben.

Trotz allem: Ein "süffig" sich lesender Roman, der natürlich etwas Patina angesetzt hat, aber durchaus spannend ist.

Neal Bascomb - "The Nazi Hunters"

(16.05.2021) Neal Bascomb - "The Nazi-Hunters. How a Team of Spies and Survivors captured the World's most notorious Nazi." Arthur A. Levine Books, 2013, 249 Seiten.

Wow, ein atemberaubendes Buch, man legt es nur ungern zur Seite. Man kennt das Ende der Geschichte (Eichmann wurde erfolgreich nach Israel gebracht), und trotzdem ist das Buch spannend von der ersten bis zur letzten Seite. Und nicht nur spannend: Die wenigen aber gut gewählten Beispiele des Grauens, welches Täter wie Eichmann anrichteten, lassen einen wie immer verstört zurück. Man sollte nicht wie ich bis spät in die Nacht daran lesen - mich hat es bis in die Träume verfolgt.

Neal Bascomb, Nazi-Hunters

Bascomb legt einen außergewöhnlich gut recherchierten und vorbildlich mit Quellen und Literaturangaben belegten Bericht vor. Ein ausführliches Inhaltsverzeichnis, Personenlisten, ein Index, eine reichhaltige Bibliographie, vorbildliche Photo-Credits - was will man mehr. Alle handelnden Personen werden mit Foto vorgestellt, auf sich widersprechende Quellen wird hingewiesen und so weiter, und das alles bei einem Buch, was durchaus auch als Spionage-Thriller gelesen werden kann.

Die erste Hürde für die Mossad-Mitarbeiter war, an ein brauchbares Foto von Eichmann zu kommen. Das gelang nach aufwändigen Recherchen erst 1947, als ein Agent eine freundschaftliche Beziehung zu einer der Mätressen Eichmanns, einer Maria Mösenbacher, aufbaute und beim gegenseitigen Vorzeigen von Fotoalben endlich fündig wurde - dabei zu seinem Ekel ständig mit rassistischen und anti-semitischen Aussagen der "Dame" belästigt war und das kommentarlos schlucken musste. Versuche, etwas über den aktuellen Aufenthaltsort Eichmanns zu erfahren verliefen im Sand, obwohl auch der Aufbau einer Vertrauensbeziehung zu Vera Eichmanns Frau und Kindern gelang. So blieb der Fall erst einmal einige Jahre liegen.

Wie es nach einigen Anläufen gelang, den Aufenthaltsort zu ermitteln, wie Eichmann observiert wurde, wie die einzelnen Phasen der Aktion geplant wurden, mit welchen Herausforderungen alleine der Transport ausser Landes zu tun hatte - das alles muss man gelesen haben. Da man über Eichmann selber und seine Tätigkeiten im Dritten Reich nicht annähernd so viel erfährt wie über die Geheimdienstaktion, kann man das Buch als Thriller lesen und es sei über die Details der Aktion nichts verraten: So bleibt die Spannung gewahrt!

Elke Brüns - "Game of Thrones"

(11.05.2021) Das Bändchen aus der Serie "Reclam 100 Seiten" liest sich sehr schnell, leider hinterlässt es aber auch keinen besonders tiefen Eindruck. Man erfährt etwas über George R.R. Martin (dem Schöpfer der Serie), über die Anfänge der Verfilmung, über manches spezielle der Serie (zum Beispiel, dass auch Hauptpersonen ihres Lebens nicht sicher sein können), über historische Anregungen (zum Beispiel den 1455 bis 1485 in England stattfindenden "Rosenkrieg"), über unterschiedliche Herrschaftsformen in der dargestellten Welt und so weiter - aber halt immer nur "etwas". Klar kann man mit 100 Seiten verfügbaren Raum nicht in die Tiefe gehen, aber vielleicht hätte etwas mehr Struktur dem Bändchen gut getan. So hatte ich den Eindruck, dass manche Themen mehrfach behandelt wurden.

Elke Brüns, Game of Thrones

Andererseits gibt es schöne Kurzcharakteristiken der wichtigen Personen und ein schön zu lesendes Kapitel über die "Seltsame[n] Pärchen" der Serie (Tyrion - Varys, Tyrion - Bronn, Arya - Sandor Clegane, Brienne - Podrick, und noch einige andere). Und gut beobachtet, dass über die Bekanntschaft mit der ritterlichen Brienne sich bei Jaime Lennister eine der tiefgreifendsten Charakterwandlungen unter den Seriengestalten vollzieht. Auch die Ausführungen zu den Sex- und Gewaltszenen der Serie und die in den social-media darüber geführten Diskussionen finde ich gelungen. Interessant auch, dass sich die Serie durch Fanproteste immer mal wieder beeinflussen liess (deutlichstes Beispiel: die Anzahl der gezeigten Vergewaltigungen ging massiv zurück).

Trotz der Knappheit hat mir die Lektüre doch Spaß gemacht und das Verständnis der Serie (gegenwärtig habe ich 64 Episoden gesehen, jeden Tag wird es eine Episode mehr) deutlich erhöht.

Brigitte Biehl - "Leadership in Game of Thrones"

(07.05.2021) Brigitte Biehl "Leadership in Game of Thrones", Reihe "Serienkulturen: Analyse - Kritik - Bedeutung", Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, 2020, 135 Seiten.

Brigitte Biehl, Leadership in Game of Thrones

Seit Mitte März 2021 schauen wir jeden Tag eine Episode "Game of Thrones", anfangs (zumindest ich) etwas unwillig, denn ich bin kein Freund von Gewaltszenen, inzwischen aber mit Spannung, Lust und Laune. Die Wikipedia zitiert eine treffende Kritik von Peter Weissenburger aus der "Tageszeitung":

"Nach etwas mehr als fünf Staffeln Anti-Empathie-Kur ist kaum noch etwas in mir, das zu einer Regung fähig wäre."

Das ist vielleicht etwas überspitzt, aber inzwischen nimmt man die Schlachten (die oft Gemetzel sind), die Enthauptungen und Folterungen tatsächlich relativ gleichmütig hin.

Inzwischen ist auch der Wunsch in mir erwacht, etwas mehr über die Hintergründe der Serie zu verstehen, über ihre Rezeption, über ihren Paradigmencharakter (warum kommt die Serie so gut an?). Dass Sekundärliteratur natürlich immer auch einiges an Spannung rausnimmt - das nehme ich in Kauf: Lieber verstehe ich mehr als dass ich mehr Spannung habe.

Anhand von Figuren aus Game of Thrones stellt Brigitte Biehl unterschiedliche Arten von "Führung", von "Leadership" vor und diskutiert deren Stärken und Schwächen, im Einzelnen oft auch den Grund des Scheiterns. Im Inhaltsverzeichnis wird man mit der Bandbreite an Leadership-Typen bekannt gemacht:

  1. Einleitung: Populäre Kultur und Leadership
  2. Authentizität (Eddard Stark)
  3. Kapital (Robb und Catelyn Stark, Petyr Baelish)
  4. Phallus (Asha Graufreud, Varys)
  5. Frauen (Sansa Stark)
  6. Isolation (Cersei Lennister)
  7. Charisma (Daenerys Targaryen)
  8. Romantisierung (Jon Snow)
  9. Behinderung (Tyrion Lennister, Brandon Stark)
  10. Fazit: Leadership ist eine Beziehungssache

Jedes einzelne Kapitel wird mit einer Zusammenfassung eingeleitet, die ich durchweg informativ und gelungen finde, als Beispiele hier die Zusammenfassungen der ersten beiden Kapitel. Hier diejenige der Einleitung:

"In Game of Thrones geht es nicht nur um Fantasy, sondern um die Menschen in unsicheren Zeiten. Populäre Kultur ist performative Praxis, die uns Sinn vermittelt und Verständnis ermöglicht, auch von zwischenmenschlicher Interaktion und Kämpfen um Einfluss, Geltung und Bedeutung. Zentrale Themen des Serie sind Macht, Führung und Folgen - die Kernthemen der Leadership-Forschung, die uns heute allerorts begegnen. Medienprodukte zeigen uns die Komplexität von Führung ganz anders als Lehrbücher mit ihren oft blutleeren Erklärungen."[S.1]

Und hier die Zusammenfassung des Kapitels "Authentizität":

"Ehrlichkeit und Echtheit verkörpert in Game of Thrones keiner besser als Eddard (Ned) Stark von Winterfell, Wächter des Nordens. Sein Motto: "Der Winter naht" ("Winter is coming"). Sein Outfit: grobes Leder, Fell und Pelz, ungeordnete Zopffrisur, herb, männlich, ehrlich. Seine Haltung: entsprechend. Stark ist in der ersten Staffel die tragende Figur. Er bleibt seinen Prinzipien treu, ist ein Idealist - aber gut sein schützt vor'm Scheitern nicht: Ned stirbt grausam und ehrlos, denn er kann keine verstehende Beziehung zu den hintertriebenen Gegenspielern aufbauen."[S.17]

Die schönste Beschreibung aber bekommt meine Lieblingsfigur Arya Stark, eine explizite NICHT-Führungsfigur:

"Arya Stark (gespielt von Maisie Williams) lässt sich nicht führen und folgt niemandem, sie ist eine Einzelgängerin, verachtet Autoritäten und übt als gesichtslose Killerin ausführliche Selbstjustiz aus. So ist sie eine der wenigen Personen, die sich kaum einordnen lassen und weitgehend außerhalb des ubiquitären Führungsdiskurses handeln. Westeros kehrt sie schlussendlich den Rücken und in der letzten Folge sieht man Arya auf einem Schiff in bisher unbeschriebene Gewässer aufbrechen.[S67ff]

Ich habe das Buch mit Gewinn und viel Vergnügen gelesen.

Kai Kupferschmidt - "Seuchen"

(22.04.2021) Schade, dass ich dieses Büchlein aus der Reihe "Reclam 100 Seiten" nicht schon letztes Jahr gelesen habe - es hätte mir vieles an Unmut über die politische und öffentliche Reaktion auf COVID-19 erspart, da es wohltuend sachlich über Seuchen aufklärt, aber 2018, vor dem Ausbruch von COVID-19, herausgekommen ist, den ganzen Hype um Corona also ausspart. Das ist zum allgemeinen Verständnis von Seuchen durchaus von Vorteil.

Kupferschmidt, Seuchen

Kupferschmidt nähert sich dem Thema "Seuchen" mit fünf Kapiteln, fast alle gleich lang, mit den knappen Überschriften:

Aufgelockert werden die sachlich dargestellten Hauptpunkte immer wieder durch persönliche Erinnerungen des Autors an zum Beispiel abenteuerliche Fahrten und Märsche im afrikanischen Urwald, um abgelegene Dörfer zu erreichen, wo vermutlich ein Virus seinen Ursprung gehabt haben könnte oder Superspreader leben, die informiert werden müssen. Auch kurze Interviews mit bekannten Virologen (nein, nicht mit dem deutschen Staats-Virologen) werden zitiert, so dass die Lektüre insgesamt sehr abwechslungsreich und spannend ist.

Größeren Raum nehmen Krankheiten wie Ebola, Cholera, Pocken, Grippe und AIDS ein, und gerade die lange Geschichte von AIDS ist ungemein spannend zu lesen, von der ersten Beschreibung als "Affenseuche" im Jahr 1967 bis zur Erkenntnis, dass das Virus offenbar schon vor ca 100 Jahren entstanden ist und sich zunächst langsam, dann schnell ausgebreitet hat. Wie weit Änderungen des Sexualverhaltens und der sozialen Verhältnisse die Ausbreitung eines Virus begünstigen können, wird beim gleichen Beispiel deutlich:

In Leopoldville (heute Kinshasa) wurde vor der Unabhängigkeit des Kongo die Prostitution betrieben von "sogenannte[n] Femmes libres, Frauen, die jeweils einigen wenigen Klienten Essen, Gespräche und Sex boten und dafür eine Art festes Gehalt erhielten. (...) Mit der Unabhängigkeit des Kongos 1960 änderte sich das Muster der Prostitution: die Bevölkerung von Kinshasa wuchs dramatisch an, Armut und Arbeitslosigkeit nahmen zu. Die Femmes libres wurden von Prostituierten verdrängt, die ihren Körper manchmal für wenige Pennies anboten und im Laufe eines Jahres hunderte verschiedene Freier trafen. Jetzt explodierte die Zahl der Infizierten im Kongo regelrecht und das Virus breitete sich von dort auf die ganze Welt aus. In den USA und in anderen Ländern traf es auf eine schwule Szene, die gerade aus den Schatten hervortrat und mit neuem Selbstbewusstsein die eigene Sexualität in Saunen und Clubs auslebte.[S.15ff]

Im Kapitel "Ausbreitung" ist die Cholera ein eindrucksvolles Beispiel dafür, welche Verhältnisse die Entstehung einer Epidemie fördern können. Und ebenfalls am Beispiel Cholera wird demonstriert, wie man dem Erreger auf die Spur kommen kann. Auch die verschiedenen Übertragungswege einer Seuche werden im Kapitel "Ausbreitung" behandelt. Was die seit COVID-19 bekannt gewordene "Reproduktionszahl" ist, erfährt man ebenso, auch was "Herdenimmunität" bedeutet und was "Superspreader" sind. Was ich wie vieles andere nicht gewusst habe: Das Virus, das die Masern auslöst, "ist einer der tödlichsten Erreger in der Geschichte der Menschheit. Mehr als zwei Millionen Menschen tötete die Krankheit jedes Jahr, bevor 1963 der erste Impfstoff auf den Markt kam."[S.32] Von daher ein Unding, dass inzwischen impfmüde Eltern anfangen, ihre Kinder nicht impfen zu lassen: "Eltern sollten sich klarmachen, wie asozial es ist, sein Kind nicht zu impfen."[S.36]

Im Kapitel "Bekämpfung" fand ich überraschend den Hinweis, wie wichtig auch die sichere "Entsorgung" der an einer ansteckenden Krankheit Gestorbenen ist. In Gesellschaften, in denen man sich von den Gestorbenen durch Berührungen oder gar Küssen verabschiedet, natürlich ein ganz besonderes Thema, welches viel Fingerspitzengefühl bei der Beratung erfordert.

Eine Aussage, die im Nachhinein wie eine Vorahnung auf das Corona-Geschehen erscheint:

Ebola ist ein Beispiel dafür, wie eine Seuche bekämpft wird, gegen die der Mensch keine gezielten Waffen entwickelt hat. Ärzten bleiben nur die einfachsten Mittel der Seuchenbekämpfung: Quarantäne, Isolation, Verhaltensänderung.[S.56, Hervorhebung von mir]

Das Kapitel "Ausrottung" schildert u.a. den spannenden Kampf gegen die Pocken, die tatsächlich 1980 als ausgerottet erklärt werden konnten. Noch spannender die Ergänzung und die Implikationen daraus: Die vermutlich letzten Pockenstämme lagern in zwei Hochsicherheitslaboren (eines in Atlanta, eines in Nowosibirsk). Ist das ein Risiko? Und was bedeutet es, dass es mit der Gentechnik inzwischen gelungen ist, den Pockenerreger aus an sich harmlosen Pferdepocken herzustellen...? Die Antwort: Die Welt muss weiterhin einen Impfstoff gegen die Pocken parat haben, und deshalb liegen weltweit ca 600 bis 700 Millionen Dosen des Impfstoffs bereit. [S.79]

Die Grippe wiederum spielt im Kapitel "Vorhersage" eine wichtige Rolle, denn jedes Jahr muss von Fachleuten vorhergesagt werden, welche Grippestämme in der kommenden Grippesaison das größte Risiko darstellen werden. Schon bei der Grippe ist das nicht einfach, und oft ist die Vorhersage falsch. Arbeitsmittel der Vorhersage für andere Krankheiten sind beispielsweise das Fangen und Untersuchen von Wildtieren wie den Fledertieren, die häufig als Auslöser verdächtigt werden, und die Abschätzung ihrer aktuellen Verbreitung.

Im gleichen Kapitel wird auch geschildert, wie schnell eine einmal gefundene Wunderwaffe (z.B. Antibiotika) durch die Anpassungen der Erreger ihre Wirksamkeit verliert. Das sind manchmal gerade einmal einige Jahre. Ursache kann auch der viel zu häufige Einsatz der Antibiotika sein, und der sollte zurückgeschraubt werden, um der schnellen Entstehung von Resistenzen zu begegnen.

Das Buch hat mich regelrecht gepackt, ich werde es zum besseren Verständnis der Thematik bald noch einmal lesen.

Harry Mulisch - "Strafsache 40/61"

(20.04.2021) Harry Mulisch, "Strafsache 40/61. Eine Reportage", DuMont Aktuell, 1963, 177 Seiten.

Der harmlos klingende Titel "Strafsache 40/61" steht für einen der berühmtesten Gerichtsprozesse des zwanzigsten Jahrhunderts, den Eichmann-Prozess im Jahr 1961. Harry Mulisch hat für die niederländische Wochenzeitschrift "Elseviers Weekblad" über den Prozess berichtet. Die Zeitschriftenbeiträge veröffentlichte er in Buchform 1962 auf niederländisch und (in einer Übersetzung von Johannes Piron) 1963 auf deutsch. Die deutsche Ausgabe aus dem Verlag M.DuMont Schauberg, Köln wirkt äusserlich trotz ihres Alters (im Jahr 2021 immerhin 58 Jahre) absolut modern, die graphische Gestaltung durch das "DuMont Atelier" ist ein zeitloser Hingucker im besten Wortsinn.

Mulisch, Strafsache

Inhaltlich besteht die deutsche Ausgabe aus vierzehn sehr unterschiedlich langen Kapiteln - oder fünfzehn, wenn man die halbseitige Einführung mitzählt -, in denen sich Mulisch auf sehr unterschiedliche Weise diesem Thema annähert. Er hat einen Erfahrungsbericht geschrieben und stellt explizit fest, dass er zum einen den Gerichtsprozess in der Sache Adolf Eichmann beschreibt, aber zum zweiten einen weiteren Prozess, nämlich den seiner eigenen Verwandlung. Im Lauf des Gerichtsprozesses, der menschlichen Begegnungen, seiner Reflektionen und einiger Ortstermine ist Mulisch nicht der gleiche geblieben: Die Erfahrung, das Thema, die Erlebnisse, das Nachdenken über Eichmann haben ihn verändert, verwandelt:

"An dieser Stelle möchte ich sagen: Er [Eichmann] gehört zu den zwei oder drei Menschen, die mich verwandelt haben."[S.165]

Um auch diesen, seinen eigenen Prozess zu dokumentieren und kenntlich zu machen hat er die einzelnen Kapitel datiert, und zwar bewusst mit dem Tag der Niederschrift, nicht dem der Veröffentlichung. Das erste Kapitel ist datiert auf den 26.3.1961 (und damit vor dem Prozessbeginn geschrieben), das letzte Kapitel ist auf den 30.9.1961 datiert, nach den Verhandlungen, aber vor der Urteilsverkündigung.

Zweimal war er beim langwierigen Prozess, der in fast 100 Verhandlungstagen vom 11. April bis zum 14. August 1961 dauerte, vor Ort, diese beiden Aufenthalte werden in den Kapiteln "Jerusalemer Tagebuch I" (6.-29.4.1961) und "Jerusalemer Tagebuch II" (19.6.-2.7.1961) anhand von Tagebuchnotizen geschildert. Diese beiden Kapitel machen zusammen ca 40% des Textes aus. Bei der Verkündung des Urteils am 11.Dezember 1961 war Mulisch nicht anwesend. Vollstreckt wurde das Todesurteil am 31.5.1962. Harry Mulischs Berichte sind also lange vor dem Urteil und lange vor der Urteilsvollstreckung geschrieben worden.

Ein kurzes Kapitel befasst sich mit dem Gesicht Eichmanns. Aufgrund eines schweren Unfalls mit Schädelbruch war es deutlich asymmetrisch: Spiegelt man die linke Seite (vom Betrachter aus gesehen), sieht man einen freundlichen Herrn im hellen Licht, spiegelt man die rechte Hälfte, schaut einem ein unheimliches Gesicht in dämonischer Beleuchtung an. Mulisch hat lange über diese beiden Gesichter nachgedacht, seiner Meinung nach (S.16) sieht einem im linken Bild das "glatte, unbewegliche, mitleidlose Gesicht des Mörders" an (was ich nicht ganz nachvollziehen kann), im rechten Bild das Gesicht des Zeugen, das "vor Abscheu verzerrt" zusieht (auch hier habe ich meine Zweifel).

Mulisch, Eichmann, Gesichter

Warum dieses Nachdenken über das Gesicht Eichmanns? Mulisch will zum Beispiel folgendes verstehen:

"Dies ist das rätselhafte Gesicht des Mannes, der 1939 einen Befehl erließ, in dem alle, die das Grab von Theodor Herzl in Wien schänden würden, mit schweren Strafen bedroht wurden. Herzl war der Begründer des Zionismus. Bei der Gedenkfeier seines fünfunddreißigsten Todestages sahen entgeisterte Juden eine einsame Gestalt in Zivil am Grabmal stehen. Es war Eichmann."[S.16]

Wenn nun dieses reichlich unheimliche Gesicht für das Buchcover einer amerikanischen Übersetzung (Univ. of Pennsylvania Press, 2005) und einer spanischen Übersetzung (Ariel Verlag, 2014) verwendet wird, kann man nur von verlegerischen Fehlentscheidungen sprechen, die Mulisch bestimmt nicht abgesegnet hätte. Man ahnt die Herausforderung und die Beunruhigung, sich vorzustellen, dass ein Mensch mit einem durchschnittlichen Gesicht (und vielleicht gar einem durchschnittlichen Charakter) derart monströse Taten vollbringen konnte. Aber muss man es dann mit fotografischen Tricks dämonisieren? Lenkt das nicht vom tatsächlichen Problem ab?

Mulisch, Buchcoverbeispiele

Dieses Problem umkreist Mulisch im ganzen Buch und bringt es auf folgende knallharte Formel: Man sollte nicht versuchen, Eichmann

"...in eine beruhigende Verbrecherpsychologie zu ziehen, [die] das Einschlafen der Wachsamkeit zur Folge hat. Wir müssen nicht auf Verbrecher achten, wir müssen weiterhin auf ganz gewöhnliche Menschen achten. Wir müssen weiterhin auf den Spiegel achten."[S.121, Hervorhebung von mir]

Letztlich ist sich Mulisch bewusst, dieses - nennen wir es "Problem" - nicht gelöst zu haben. Er macht Ortstermine in Berlin, sucht die Arbeitsstätte von Eichmann auf, sucht die Örtlichkeit der Wannsee-Konferenz auf, fährt nach Auschwitz, beobachtet intensivst Eichmann während der Verhandlungen - aber ist sich bis zum Ende nicht schlüssig, ob er ein gerissenes Monster vor sich hat oder einen gewöhnlichen Menschen, der nur seine Befehle ordentlich ausführen wollte, seinen Job gut erledigen wollte. So wie es Mulisch von einem Assistenten der Verteidigung bei einem Gespräch erzählt bekommt:

Seit Monaten hat er täglich mindestens drei Stunden mit Eichmann gesprochen und sagt, es sei der gewöhnlichste Mann, den man sich vorstellen könne: "unerlaubt normal". Eine Million anderer hätten an seiner Stelle genauso gehandelt.[S.44]

Das macht die oben zitierte Aussage, dass man auf gewöhnliche Menschen achten muss, dass man auch auf sich, auf die Person, die man im Spiegel sieht, achten muss, so eminent wichtig: Wir können nicht sicher sein, ob wir an Stelle Eichmann nicht genau so gehandelt hätten. Wir müssen uns selbst misstrauen.

Natürlich schreibt Mulisch über weit mehr Themen, Beobachtungen und Fragen - aber um alles wichtige zu referieren, bräuchte man einige Dutzend Seiten. Deswegen zum Schluß nur einige Hinweise:

Mulischs Buch hat eine Reihe von ausgezeichneten Besprechungen erfahren, nur ein Beispiel:
Harvey Asher, "The Mechanical Man", 2006, https://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=11464 (anläßlich der amerikanischen Übersetzung in der Univ. of Pennsylvania Press, 2005)

Mulischs Buch bekommt von mir die Bewertung "unbedingt lesenswert"!

Jonas Jonasson - "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand"

(13.4.2021) Dieser Debütroman von Jonasson erschien 2009 in Schweden und entwickelte sich schnell zum internationalen Bestseller. 2011 erschien das Buch in Deutschland und war 31 Wochen lang auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Ich habe die Taschenbuchausgabe des btb im öffentlichen Buchregal unseres Stadtteils gefunden, da, wo Bestseller gerne mal enden. Obwohl ich nach der Lektüre von Jonassons zweitem Roman "Die Analphabetin, die rechnen konnte" (gelesen 2015) nicht vorhatte, noch ein Werk des Autors zu lesen, habe ich mir seinen Debütroman doch vorgenommen und in einigen Tagen so nebenher durchgeschmökert. Die Lektüre ist kurzweilig, durchaus unterhaltsam. Auch die Morde der Helden sind unterhaltsam und lustig. Auch wenn Allan Karlsson (die Hauptperson) ein ganzes Untersuchungsgefängnis samt politischen Gefangenen und dem Wachpersonal in die Luft sprengt ist es unterhaltsam. Sogar als er, der später Hundertjährige, ganz Wladiwostok in Schutt und Asche legt (zugegebenermaßen unabsichtlich), ist das Buch unterhaltsam. An die Opfer wird keinen Moment gedacht - so kommt man mit einer lockeren Lebenseinstellung unangefochten durchs Leben. Wäre er Däne, würde man wohl von "Hygge" sprechen, aber vielleicht haben die Schweden ja auch so eine "Happy-go-lucky-Philosophie" auf Lager.

jonas jonasson, der hundertjährige

Die Kehrseite so einer Philosophie und Geschichte ist aber eben, dass alles reichlich seicht und flach daher kommt: Nichts ist ernst zu nehmen, die Sammlung von Unwahrscheinlichkeiten und Gags durchleben Held und Leser wie in einer Hängematte, sogar im Gulag geht's einem noch ganz gut.

Aufgebaut ist das Buch recht geschickt: Mit genauer Datumsangabe werden kapitelweise die Abenteuer des Hundertjährigen in der Gegenwart geschildert, beginnend am 2.Mai 2005, wobei der alleswissende Erzähler natürlich auch schon die Zukunft kennt und manchmal vorgreift. Und abwechselnd gibt es immer wieder Kapitel, die das vergangene Leben des Hundertjährigen schildern, von der Kindheit bis zum unfreiwilligen Eintritt in das Altersheim. Was sich in diesen einhundert Jahren alles abspielte hat natürlich schon seinen Reiz: Karlsson war nacheinander an beiden Fronten des Spanischen Bürgerkriegs aktiv, rettete Franco das Leben, fuhr gut versorgt in die USA, kam beim Los-Alamos-Projekt unter und konnte (als Kellner, der sich in einer Besprechung der Physiker zu Wort meldet!) Oppenheimer beim Bau der Atombombe entscheidende Hilfestellung leisten, wurde dadurch Freund des späteren Präsidenten Harry Truman, der ihn nach China schickt, um die Kommunisten... und so weiter und so fort - letztlich war also Allan Karlsson eine prägende Gestalt des 20. Jahrhunderts. Aber das alles liest sich halt doch ganz nett.

Nach der Lektüre von "Die Analphabetin, die rechnen konnte" war es leicht, wiederkehrende Muster zu finden (wobei meine Lesefolge umgekehrt war - ich habe den Debütroman erst nach dem zweiten Roman gelesen). Zum Beispiel die Schelmenroman-Freundschaften: Die Gruppe von lebensgeniessenden Freunden um Allan wird immer größer, und wer liest so etwas nicht gern? Und eben auch die wahnsinnstolle Biographie mit den illustren Bekanntschaften und Freundschaften. Wobei Nombeki Mayeki (die Heldin aus "Die Analphabetin, die rechnen konnte") nicht so bombastische Bekanntschaften schliesst und weltbewegende Auftritte hat wie unser Allan Karlsson. Gut, sie hat zu Ende ihres Romans auch noch keine hundert Jahre auf dem Buckel.

Jetzt werde ich aber wohl wirklich nichts mehr von Jonas Jonasson lesen (hm...?).

Friederike Gräff - "Schlaf"

Friederike Gräff, Schlaf, Reclam

(02.04.2021) Dieses Buch aus der Reihe Reclam 100 Seiten ist überraschend gut und vielseitig. Man glaubt kaum, dem Thema "Schlaf" auf 100 Seiten auch nur annähernd gerecht werden zu können, aber Friederike Gräff hat es geschafft, nicht nur die üblichen Verdächtigen (Schlafphasen, Schlafdauer, Sinn des Schlafs, Träume und ihre Bedeutung usw) knapp anzureißen, sondern auch Themen anzusprechen, die man sonst eher selten im Kontext Schlaf behandelt findet.

Die Vielfalt der behandelten Themen, die zugegebenermaßen nur angerissen werden können (100 Seiten!!), macht das Büchlein zu einer Fundgrube für Interessierte. Die Lektüretipps sind knapp gehalten, enthalten aber einige interessante Einträge, und wohl absichtlich nichts von dem so von ihr genannten "Wanderprediger" in Sachen Schlaf, von Matthew Walker, demzufolge wir wohl alle 50% länger schlafen müssten, als wir's tun.

Matthias Egeler - "Der Heilige Gral"

(30.03.2021) Matthias Egeler, "Der Heilige Gral. Geschichte und Legende". C.H.Beck Wissen, München 2019. 128 Seiten.

Was haben höfische und christliche Dichtungen des 12. Jahrhunderts, Wolfram von Eschenbachs "Parzifal" und Wagners "Parsifal", Hitler und Himmler, Dan Brown und Marion Zimmer Bradley, Indiana Jones oder die Religion der "Großen Göttin" gemeinsam? Sie sind fasziniert von einem Gral, der mal heilig und mal pagan verstanden wird, der mal für gedeckte Tische sorgt und mal einen König legitimiert, der oft mit Blut zu tun hat und häufig für völkische Ideen vereinnahmt wird.

Matthias Egeler. Der heilige Gral

Matthias Egelers "kurze Einführung" ist ein fantastisches Buch, das man ungern aus der Hand legt. Er geht die frühesten literarischen Stellen durch (beginnend beim Versroman "Perceval" des Chrétien de Troyes aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts samt Schilderung der Tradition, in der dieser Text steht), beschreibt die verschiedenen Fortsetzungen und inhaltlichen Verschiebungen von ritterlichen Ehrencodizes bis hin zur christlichen Entsagungsmoral und dem ganzen Sünden-Gedöns, erklärt, warum das Thema in der Renaissance keine große Rolle spielt, aber in der Neuzeit wieder unter unterschiedlichsten Blickwinkeln populär wird, und so unterschiedliche Geister wie William Morris, Alfred Lord Tennyson, Richard Wagner und in dessen Kielwasser Adolf Hitler, Otto Rahn und seinen Auftraggeber Heinrich Himmler fasziniert, sowie Bestsellerautoren wie Dan Brown oder Marion Zimmer Bradley anregt und nicht zuletzt Steven Spielbergs "Indiana Jones" ein wildes Abenteuer erleben lässt. Wichtige Texte wie zum Beispiel der Versroman "Perceval", Tennysons "Holy Grail", Wagners "Lohengrin" und "Parsifal" und andere werden teils ausführlich nacherzählt.

Geschrieben ist das Buch in einer wohltuend konzisen Sprache, der alles blumige und ausschweifende fremd ist, für die das Thema vielleicht anfällig ist. Es ist somit ein Beispiel, wie sich ein vordergründig altmodisches Thema als ungemein spannend und kulturhistorisch bedeutsam darstellen lässt, ohne die sachliche Ebene zu verlassen.

Hier noch das Inhaltsverzeichnis:

  1. Vom Mythos zum Mysterium:
    die frühe Artusliteratur, Chrétien de Troyes und die Frage keltischer mythologischer Wurzeln des Grals
  2. Der Gral als christliches Symbol und als Ziel ritterlicher Suche:
    von Robert de Boron bis zu den großen Gralszyklen
  3. Mittelalterbegeisterung und Gralsschwärmerei:
    der Gral von seiner Wiederentdeckung bis zum Ersten Weltkrieg
  4. Zwischen Wiederkehr des Mythos und Trivialisierung:
    der Gral vom 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart
  5. Ausblick:
    Versatilität und Gegenkultur

Dazu gibt es ein Vorwort, Leseempfehlungen, ein Abbildungsnachweis und ein hilfreiches Register.

Petron - "Satyrica"

(25.03.2021) Übersetzt und herausgegeben von Karl-Wilhelm Weeber. Reclam 2018. 297 Seiten.

Das Bändchen hat alles, was man von einem guten Buch erwartet: Einen interessanten, lustigen, geistvollen Inhalt, eine lebendige moderne Übersetzung ohne Angst vor expliziten Stellen, ausführliche Anmerkungen (immerhin 70 Seiten in kleiner Type), ein hilfreiches Nachwort, eine kurze Inhaltsübersicht. Das einzig negative ist das, was es zu einem "Bändchen" macht: Das absolut nicht mehr zeitgemäße Mini-Format der "Universal-Bibliothek", die kleine Schrift, die engen Zeilenabstände, die schmalen Seitenränder (die eigene Anmerkungen kaum zulassen), der Druck bis 5mm an den Falz heran, weswegen das Bändchen immer feste auseinander gedrückt werden muss. Dieser Band hat eine bessere Ausgabe verdient als gerade eine Reclam-Ausgabe. Nach 75% der Lektüre war ich kurz davor, die ebook-Version zu bestellen.

Petron, Satyrica, reclam

Ich habe vor einigen Jahren alle online verfügbaren Petron/Petronius-Texte gesammelt (in unterschiedlichsten Übersetzungen), für den Kindle formatiert und auf dem Kindle gelesen. Diese von Karl-Wilhelm Weeber herausgegebene Übersetzung ist wesentlich besser als alles, was ich damals gelesen habe. Der Text ist zeitlos, eine Mischung von Schelmenroman, Satire, Sex und Crime, gemischt mit poetischen Ergüssen (von Eumolp) und mit interessanten philosophischen Hintersinn. Herrlich die Verwirrungen am Schluß, als Enkolp (der Ich-Erzähler) unter Impotenz leidet und von einer alten Hexe geheilt werden soll. Meine frühere Lektüre geschah ohne Anmerkungen, bei der Lektüre dieser Ausgabe war aber deutlich zu spüren, was ein gründlicher und trotzdem ausgewogener Kommentar an Mehrwert bietet, der ist hier wirklich viel wert.

Ich kann die Ausgabe also wärmstens empfehlen, aber vielleicht sollte jemand mit älteren Augen eher zur ebook-Ausgabe greifen.

Adelbert von Chamisso - "Briefe von Chamisso an Hitzig während der Reise um die Welt. 1815-1818"

(20.03.2021) Chamissos Briefe an seinen Freund und Herausgeber Hitzig finden sich in "Adelbert von Chamisso's Werke, Vierte Auflage, Sechster Band, Berlin 1856, herausgegeben von Julius Eduard Hitzig", S.3-68. In dieser Ausgabe von Chamissos Werken wird der Vorname Chamissos immer als "Adelbert" geschrieben, nicht wie heutzutage üblich "Adalbert".

Man erfährt nicht wesentlich viel sachlich neues zur Weltreise mit der Rurik unter Otto von Kotzebue als in seiner bekannten Reisebeschreibung, die Briefe sind aber natürlich um die persönliche Sphäre erweitert, und manches kritische Wort kann er in Briefen eher unterbringen als in einer gedruckten Reisebeschreibung an ein großes anonymes Publikum. Von daher habe ich die Lektüre als Ergänzung zu der schon einige Jahre zurückliegenden Lektüre der Reisebeschreibung gerne gelesen. Manchmal nehmen die Klagen und das Selbstmitleid etwas überhand, auch die Gedichte für Kitzig tragen etwas dick auf mit dem Lob der Freundschaft und den ständigen Anspielungen auf den Tod und das Nachleben. Da muss man bei Chamisso eben drüber wegsehen. Die Briefe beginnen zeitlich etwas vor der Reisebeschreibung und malen da manche interessante Episode etwas weiter aus, zum Beispiel die Anekdote mit dem Hamburger Matrosen, der sich bei der Robben- und Walfischjagd oft in arktischen Gebieten aufhielt und nach dem Untergang eines Schiffes 17 Hungertage auf dem Eis zubrachte und dann in Grönland 17 Monate unter Eskimos lebte. Von 600 Mann Besatzung kamen 120 Mann zurück.

Albert Zink - "Ötzi"

(16.3.2021) Ich habe mich so oft über die winzigen Reclam-Heftchen (Buch kann man zu diesen kleinen dünnen wabbeligen Dingern ja kaum sagen) mit ihrer kleinen Schrift geärgert, dass ich mich regelrecht überwinden musste, eine Bestellung aufzugeben (selbstverständlich in einem Buchladen). Obendrein kannte ich die Sonderreihe 100 Seiten für 10 Euro noch nicht und brummte ob des gefühlt viel zu hohen Preises. Aber immerhin bietet Reclam auf seiner Webseite zum Buch eine Voransicht der ersten 25 Seiten an, und der erste Eindruck war so beeindruckend, dass ich über den Schatten früherer Schwüre sprang und mir einige Bändchen bestellte.

Albert Zink, Ötzi

Zunächst zum Äußerlichen: Die Sonderreihe "100 Seiten" ist ein einem größeren Format als die normale Reihe: 115mm x 170mm zu 96mm x 148mm bedeuten fast 40% mehr Fläche. Der Satzspiegel beträgt nun 85mm x 131mm zu 79mm x121mm, das ist ein Zuwachs von etwa 17%. Nur noch 31 Zeilen stehen 33 enggedrängten Zeilen der normalen Ausgabe gegenüber: Es ist also weniger Text auf einer größeren Fläche vorhanden, was der Leserlichkeit aber deutlich entgegen kommt. Endlich kann man auch einige Anmerkungen zum Text machen. Und auch das verwendete Papier ist kräftiger. Insgesamt also eine deutliche Verbesserung - jedenfalls in meinen und für meine Augen.

vergleich reclam normal und 100seiten
Vergleich Reclam-100Seiten (Hintergrund) und Reclam-UB (Vordergrund)

Inhaltlich wurde der erste Eindruck noch übertroffen: Dieses Buch (den Ritterschlag mache ich jetzt, es ist kein Büchlein oder Bändchen oder gar Heftchen mehr) ist inhaltlich ausgezeichnet: Fachlich überragend, gut gegliedert, gut geschrieben, spannend, anregend - man liest höchstens zwei Stunden daran und hat danach einen wirklich umfassenden Überblick über Fundgeschichte, Forschungsgeschichte, Konservierungsprobleme, aktuelle Fragestellungen und so weiter. Das Kapitel zu den Tätowierungen Ötzis fand ich am spannendsten: Dass sie offenbar zum Grossteil therapeutischen Zwecken dienten und mehrheitlich auf bekannten Akupunktur-Punkten und Meridianen sitzen ist eine überaus faszinierende Erkenntnis.

Ein vorbildliches Buch also zur knappen und doch umfassenden Wissensvermittlung. Albert Zink ist natürlich auch der ideale Autor für dieses Thema: Als ausgewiesener Mumienexperte und in Bozen Leiter des Instituts für Mumienforschung ist er direkt zuständig und verantwortlich für Ötzi und in alles involviert, was mit ihm zusammenhängt.

Das Preis-Leistungs-Verhältnis, um das noch anzumerken, geht also für diesen Band voll in Ordnung.

Aufsatz zu V1319 Cyg

(28.02.2021) Mitte Januar habe ich einen Aufsatz über den Veränderlichen Stern V1319 Cyg für den BAV Rundbrief verfasst. Die Zeitschrift (BAV Rundbrief, 1/2021) ist inzwischen gedruckt, so dass ich den Aufsatz für meine Homepage formatiert habe und ihn nun auch hier veröffentliche: V1319 Cyg, eine neuer langperiodischerCepheide mit P=41,3d

Mondaufnahmen am 24.2.2021

(24.02.2021) Der Mond stand gerade günstig, deswegen eine Reihe von Aufnahmen gemacht. Allerdings: Die Luft war unruhig, und ich musste durch Fensterglas fotografieren. Hat trotzdem Spaß gemacht. Ein Beispiel:

Mondrand mit Schickard und Wargentin
Mondrand mit Schickard und Wargentin.
24.02.2021, 17h24UT, durch 140/500 Schmidt-Newton und 7mm-Okular
Samsung S7 mit Okularklemme befestigt.

Saharastaub Anfang Februar 2021

(12.02.2021) Beim Wiederlesen meines Geologiebuches von Rüdiger German: "Einführung in die Geologie" (Ernst Klett Verlag, 1985) finde ich im Kapitel IV.4 "Ablagerungen des Windes - äolische Sedimente" auf Seite 77 folgendes:

Zitat zum Saharastaub

Anfang Februar 2021 gab es mal wieder sehr weiträumig und zum Ärger vieler Autobesitzer weiträumige Ablagerungen von Saharastaub, auch in Heidelberg. Ich habe das als Anlaß genommen, etwas von diesem Saharastaub unter das Mikroskop zu legen, und tatsächlich: Verglichen mit normalen Sand sind diese Körnchen aus der Sahara winzig klein. Es gibt zwar unter ihnen auch einige größere Teilchen (vielleicht haben sie ein leichteres spezifisches Gewicht?), die durchschnittliche Größe der transportierten Körnchen bewegt sich aber zwischen 0,005mm und 0,015mm, und das ist wirklich sehr klein.

Saharastaub
Saharastaub unter dem Mikroskop, V=300x.
Smartphone freihändig hinter dem Okular.

Alois Theodor Sonnleitner - "Die Höhlenkinder"

(23.01.2021) Alois Theodor Sonnleitner, der eigentlich Alois Tlučhoř hieß, ist mit seiner Trilogie "Die Höhlenkinder" ein auch heute noch bekannter Autor. Die einzelnen Bände sind immer noch leicht greifbar, und bei Gutenberg findet man die E-Texte dazu, die man sich nach Lust und Laune für einen E-Reader formatieren kann. Erschienen sind die Bände im Jahresabstand:

Ich habe eine Gesamtausgabe des Kosmos-Verlags, in der 63. (!) Auflage von 1999, gekürzt und bearbeitet von Ingeborg Rothe, mit 286 Seiten. An sich ein schönes Buch, gut gebunden, auf gutem Papier, mit 129 meist kleinen Zeichnungen von Fritz Jaeger und Ludwig Huldribusch. Dazu eine sehr hilfreiche Panoramakarte des Heimlichen Grundes und ein Grundriss der Höhle. Die Formulierung "gekürzt und bearbeitet" ist aber immer etwas alarmierend: Ich mag es nicht, wenn jemand für mich entscheidet, was weg kann oder was anders formuliert sein sollte. Folglich habe ich die ersten paar Kapitel meiner Buchausgabe verglichen mit der beim "Projekt Gutenberg-DE" verfügbaren Fassung, die vollständig und näher am Original zu sein scheint ("scheint" weil: Es gibt keine aussagekräftigen bibliografischen Informationen). Das Fazit: Meine Buchausgabe ist um mindestens 25% gekürzt. Die "Bearbeitung" ist spürbar, aber nicht unbedingt ein Gewinn. Ich habe daher alle Höhlenkinder-Texte aus Gutenberg-DE heruntergeladen und für den Kindle formatiert. Die Lektüre auf den Kindle ist natürlich nur dann sinnvoll, wenn man ein Buch schlicht und einfach "schmökern" will, nicht ständig Anmerkungen zu machen hat, aber das "Schmökern" hat mir als Lektüreform für die "Höhlenkinder" durchaus gereicht.

Sonnleitner, Höhlenkinder
Eine schöne Gesamtausgabe, aber leider gekürzt und bearbeitet.

Kurz und knapp zum Inhalt: Die Kinder Eva und Peter müssen mit der Großmutter von Eva und deren Bruder Hans zum Heimlichen Grund fliehen, nur die Kinder überleben diese Flucht, und nun müssen sie im Heimlichen Grund ohne jegliche Werkzeuge überleben, nur mit dem Wissen über Pflanzen und Tiere bzw Tierverwertung, welches sie in ihrer Kindheit vermittelt bekommen haben. Die Ausgangsposition ist also weit schwieriger als die von Robinson, der ja eine umfangreiche Ausrüstung vom Wrack retten konnte, während die Höhlenkinder die grundlegendsten Werkzeuge erst einmal basteln oder erfinden mussten und lange Zeit von Pflanzen und rohem Fleisch lebten. Ihr Nachvollzug der Technikgeschichte in kürzester Zeit (Steinbearbeitung, Holzbearbeitung, Metallverarbeitung) macht einen großen Teil der drei Bücher aus.

Wichtig und für die inzwischen hundertjährige Erfolgsgeschichte mit verantwortlich ist, dass Eva und Peter keine Puppen sind, die zur Illustration einer Evolutionstheorie gebraucht werden, sondern als Menschen mit Fehlern und Leidenschaften geschildert werden. Sonnleitner, der auch für eine Sexualpädagogik eintrat, hat in den Höhlenkindern natürlich nicht die Wirren der Pubertät und die Freuden mit und die Leiden an der Sexualität geschildert, aber immerhin deutet er deutlich genug an, welche inneren und äußeren Probleme Eva hat, als sie ihre Tage bekommt. Auch dass in solchen erst einmal unerklärlichen Phänomenen eine Quelle für Aberglauben und Religion liegen kann wird angedeutet.

Die Probleme, die beispielsweise mit dem Fund von Gold sich auftun, der Neid, die Missgunst, das Betrügen, das wird schön hergeleitet aus den ersten Kindheitseindrücken von Eva, die eine heimliche Zeremonie ihrer Großmutter und ihres Großonkels mit einem Wurzelmännchen, einem Alraun, beobachten konnte, bei der einige Goldkörner eine wichtige Rolle spielten. Diese Episode ist trotz ihrer Bedeutung in der gekürzten und bearbeiteten Fassung leider weggefallen.

Die drei Bücher sind zwar zusammen schon etwas umfangreich, lesen (schmökern!) sich aber schnell hintereinander weg. Die Lektüre war interessant und hat Spaß gemacht. Es schadet allerdings nicht, sich etwas über die Hintergründe zu informieren. Ich habe teils parallel, teils danach folgende erläuterndes Material gelesen.

Noch einige Aspekte von Sonnleitners Höhlenkindern:

Italia und Germania? Das Aussehen der Kinder wird nicht besonders ausführlich beschrieben, mit einer Ausnahme: Die Haarfarbe! Eva ist flachsblond (diese Information ist in der gekürzten Buchfassung leider weggelassen) und blauäugig, Peter ist schwarzhaarig und braunäugig. Man könnte hier einen Hinweis auf die "Italia-und-Germania"-Symbolik vermuten, aber auch einen Hinweis auf ganz andere Konnotationen sehen, wenn es sich zum Beispiel bei Peter um einen Roma-Jungen (vulgo: um ein Zigeunerkind) handeln würde. Da müsste man aber mehr zu Sonnleitner wissen und ob das für ihn ein Thema wäre. Die Gegensätzlichkeit der beiden Kinder fällt aber bei solchen Beschreibungen schon auf.

Die Zeit wird überraschend genau benannt. Die erste Flucht von Evas Großmutter (mit der kleinen dreijährigen Eva auf dem Rücken) vor einem Hexenprozess zu ihren Bruder Hans war 1683. Warum gerade 1683? Man frägt sich das unwillkürlich, aber eine schnelle Antwort habe ich nicht gefunden. Als fünfjährige beobachtet Eva ihre Großmutter und ihren Großonkel beim Hantieren mit dem Alraun. Ihre Großmutter muss bald darauf zum Heimlichen Grund fliehen und ist ein Jahr lang weg. Als Eva sechs ist, kommt die Großmutter zurück und mit ihr der sieben- oder achtjährige Peter. Als dieser 13 ist, arbeitet er schon als tüchtiger Hirt. Kurz darauf ist die endgültige Flucht, die Kinder sind also etwa 11 und 13 Jahre alt, als ihr Leben im Heimlichen Grund beginnt. Die Angaben dafür in der Literatur schwanken, das ist meine eigene Rechnung.

Auch die Lokalitäten sind zum Teil genau benannt. Die Geschichte beginnt in Windisch-Garsten, und diesen Ort gibt es tatsächlich. Die Großmutter, genannt die "Stoderin" wird wohl aus einem der Nachbarorte stammen, die einem Namensbestandteil "Stoder" haben (Vorder-Stoder, Mitt.-Stoder, ...). Hier gibt es auch das Sengsen-Gebirge.

Höhlenkinder, Windisch-Garsten
Herkunft der alten Stoderin und von Eva: Windisch-Garsten.
Aus: "Velhagen & Klasings Neuer Volks- und Familienatlas", Karte 45/46, 1901

Sie flieht zu ihrem Bruder, der der Meraner Gerichtsbarkeit untersteht, und Köhler am Eisack ist, einem Fluß, der durch Sterzing, Brixen und Bozen fließt. Als Köhler verarbeitet er Holz, muss also in eher tieferen Lagen arbeiten und wohnen, deutlich unter 1000 Metern (der Laubbaumgrenze auf den Südhängen der Alpen), und seine Hütte in der "Einöde" kann höchstens einen halben Tag zu Fuß vom Fluß Eisack entfernt liegen. Als wahrscheinlichster Lebensraum des alten Hans und der alten Stoderin und der jungen Eva und des jungen Peter kommt also in den Sarnthaler Alpen die Gegend zwischen Klausen (Meereshöhe 520 Meter) und Kollmann in Frage, in unmittelbarer Nähe des Eisack, wohl auf dessen Westseite. Die Flucht führt im Spätsommer drei Nächte lang südwärts, wo sie vermutlich in eine Gegend kommen, die "Am Ritten" heißt, im Südosten der Sarnthaler Alpen. Im "Einsamen Grund" wachsen auch Laubbäume, sogar Obstbäume, und Kastanien sind als Winternahrung ganz wichtig, weswegen man auch für den "Einsamen Grund" annehmen muss, dass er deutlich unter 1000 Metern Höhe liegt. Und der Bach, der im "Einsamen Grund" entspringt, fließt sicherlich in den Eisack.

Sonnleitner. Einsamer Grund
Vermutliche Lage der Köhlerhütte und des "Einsamen Grundes".
Aus: "Velhagen & Klasings Neuer Volks- und Familienatlas", Karte 37/38, 1901

Ich könnte mir vorstellen, dass es schon den ein oder anderen Versuch eines wackeren Heimatforschers gegeben hat, den "Einsamen Grund" zu identifizieren.

Die Höhlenkinder - Fernsehserie von 1962

(22.01.2021) Kinderfernsehserie 10 Folgen, 1962. Drehbuch: Peter Podehl und Ulrich Schonger. Regie: Peter Podehl. Produktion Schongerfilm. Im Auftrag des WDR. Folgen: Intro von Peter Podehl; 1) Die Soldaten; 2) Die Hütte; 3) Das Boot; 4) Der heimliche Grund; 5) Die Höhle; 6) Die Jäger; 7) Die Stimme; 8) Das Feuer; 9) Der Fremde; 10) Der Abschied.

Die 10-teilige Fernsehserie "Die Höhlenkinder" lief 1962, zu einer Zeit, als die meisten Haushalte noch keinen eigenen Fernseher hatten. Ich habe als Kind daher nur zweimal kleine Ausschnitte bei Freunden gesehen, und deswegen auch keine nostalgischen Erinnerungen an die Serie. Aber als Fan von Robinsonaden und Survival-Geschichten in der Natur und schon seit jeher fasziniert von Höhlen ist mir das Thema immer präsent gewesen.

Höhlenmann
Ich zwei Wochen als Höhlenmann auf Hydra.
Griechenland, 1978

Bei YouTube habe ich drei der Episoden gefunden und angeschaut. Inhaltlich gibt es im Vergleich zur Buchausgabe markante Änderungen, wobei die Geschichte trotzdem stimmig ist:

Der Film ist behäbig gedreht, aber das, was auf YouTube vorhanden ist, kommt durchaus spannend daher. Die Flucht der Kinder mit dem Großvater wirkt manchmal wie eine Wanderung zum eigenen Schrebergarten, aber plötzlich ist immer mal wieder Gefahr da (deutsche Soldaten oder italienische Partisanen, die jeweils die Flüchtigen für Spione der Gegenseite halten).

Höhlenkinder, Flucht
Eva und Peter, noch mit Großvater, während der Flucht

Etwas überraschend, wie wenig Empathie für Verwandte aufgebracht wird: Unmittelbar vor der Flucht wird der Vater von Eva vor ihren Augen verhaftet, und alles spricht dafür, dass er hingerichtet wird. Aber kein Wort der Hoffnung, der Trauer von Eva oder ihrem Großvater: Das Schicksal des Vaters ist kein Thema. Auch das der Eltern oder der Verwandten von Peter in Breslau nicht. Peter weiß, dass Breslau heftig bomardiert wurde, aber das beunruhigt ihn nicht.

Vom Höhlenleben der beiden Kinder ist in den auf YouTube vorhandenen drei Episoden leider nichts zu finden. In der Episode 9 verirrt sich zwar ein deutscher Soldat zu ihnen, aber damit ist dann wohl schon vieles anders. Auch erfahren sie in dieser Episode, dass der Krieg vorüber ist und rüsten sich zur Rückkehr. Beide Kinder erscheinen übrigens auch hier in der neunten Episode wie aus dem Ei gepellt, man könnte geradezu einen Friseur oben im "Heimlichen Grund" vermuten...

Herzig die Kinder-Schauspieler, besonders Claudia Podehl als Eva. Sie kommt richtig sympathisch rüber.

Was soll man sagen... Wären auf YouTube alle Episoden vorhanden, hätte ich auch alle geschaut. Aber um die Serie ein einziges Mal anzuschauen, dafür ist mir die DVD dann doch zu teuer.

Haruki Murakami - "Wilde Schafsjagd"

(16.01.2021) Nach "Mister Aufziehvogel" und "1Q84" ist "Wilde Schafsjagd" der dritte Roman von Haruki Murakami, den ich lese - den autobiografischen Bericht "What I Talk About When I Talk About Running" zähle ich hier nicht mit. Und wieder folgt meine Lektüre dem gleichen Muster: Der Roman ist so spannend, dass ich kaum unterbrechen mag, und in kurzer Zeit bin ich durch (na ja, hier, bei 300 Seiten, waren es immerhin zwei Tage; die 1000 Seiten von 1Q84 Band 1 und 2 habe ich in drei Tagen gelesen, die 560 Seiten von 1Q84 Band 3 in zwei Tagen, den Aufziehvogel mit 765 Seiten auch in drei Tagen). Und dann kommen die Fragen... Hier, bei der "Wilden Schafsjagd" zum Beispiel diese hier:

Und so weiter. Ich habe also nach der Erstlektüre (Anfang Januar) das Buch noch einmal relativ langsam gelesen, bin Querverweisen nachgegangen, habe vor allem versucht, die Handlung (auch in ihrer zeitlichen Abfolge) zu verstehen. Und muss gestehen, dass trotzdem vieles dunkel geblieben ist - was nicht unbedingt schlecht sein muss.

Haruki Murakami, Wilde Schafsjagd
Haruki Murakami, "Wilde Schafsjagd", Köln 2005.
Aus dem Japanischen von Annelie Ortmanns.

Einiges mag der Arbeitsweise von Murakami geschuldet sein: Gerade bei "Wilde Schafsjagd" hat er, wie er in einem Gespräch mit dem Guardian erzählte, ohne Plan gearbeitet:

"It's kind of a free improvisation," he says of the method that still serves him well. "I never plan. I never know what the next page is going to be. Many people don't believe me. But that's the fun of writing a novel or a story, because I don't know what's going to happen next. I'm searching for melody after melody. Sometimes once I start, I can't stop. It's just like spring water. It comes out so naturally, so easily." The spontaneity and the "searching for melody" appear to relate to his interest in jazz; to him, this shows itself most clearly in the rhythms of his prose.

Daraus erklären sich zwanglos Passagen im Roman, die im Nirgendwo enden. Manche Fäden werden einfach liegen gelassen und nicht wieder aufgenommen, zum Beispiel die Geschichte von dem namenlosen Mädchen namens "Es war einmal ein Mädchen, das mit jedem schlief"[S.9].

Anderes gehört zu den immer wiederkehrenden Motiven bei Murakami, wobei diese Motive so auffallend sind, dass Grant Snyder für die New York Times sogar ein "Murakami-Bingo" gestaltet hat. Dann denkt man sich halt: OK, ohne dass x-mal im Buch gekocht ("Cooking") wird geht es halt nicht, genau so wie es ohne seltsame Frauen ("Mysterious Woman") oder irgendwas mit Ohren ("Ear Fetish") oder auch übernatürlichen Kram ("Supernatural Powers") nicht geht. So amüsant das klingt, so wahr scheint es zu sein.

Der "Held" des Romans kommt nicht sympathisch rüber. Er weiß ganz offenbar nicht, was er will, sein Leben läuft in einer Reihe von Zufällen ab, nur selten trifft er mal Entscheidungen. Ansonsten ist es ein Langweiler, der sich gefühlt auf jeder Seite eine Zigarette ansteckt oder eine Bierdose reinkippt. Trinkt er mal kein Bier sondern Kaffee, wird immer angemerkt, dass der nicht schmeckt (aber getrunken wird er trotzdem).

Klar, dass auch seine Beziehungen sehr oberflächlicher Art sind: Mit dem namenlosen Mädchen mit dem gemeinen (Spitz-)Namen hatte er eine Zeitlang eine Beziehung, das ging vorbei, und als er nach einigen Jahren von ihrem Tod erfährt, weiß er nicht einmal ihren Namen, geht aber zum Begräbnis. Danach betrinkt er sich und kommt erst nachts nach Hause, wo ihm seine Frau eröffnet, dass sie sich (nach vier Jahren Ehe) von ihm trennt. Er nimmt das natürlich hin wie alles, trinkt und raucht. So ähnlich scheint er sich in der Arbeitswelt eingerichtet zu haben, ohne Herzblut, ohne großes Engagement, aber immerhin halbwegs erfolgreich.

Am 24.7.1978 (einiges ist exakt datiert) sieht er nach vollzogener Scheidung seine Frau das letzte Mal, schon wenige Wochen später hat er eine neue Freundin, eine junge Frau mit besonders schönen und hinreißenden Ohren, die hellseherische Fähigkeiten hat.

Zwischendurch schließt er mit einigen Kapiteln in seinem Leben ab, seiner Heimatstadt zum Beispiel, die er nie wieder sehen will:

Danach gab es für mich keine "Heimatstadt" mehr. Bei dem Gedanken, dass nirgendwo mehr ein Ort existierte, an den ich zurückkehren muss, fiel mir ein Stein vom Herzen. Niemand will mich mehr treffen. Niemand verlangt mehr nach mir, und niemand wünscht sich mehr, dass ich nach ihm verlange.[S.82]
[...]
Alles, was ich besaß, war wertlos, alles, was ich getan hatte, sinnlos. Langeweile war das Einzige, was ich gewonnen hatte.[S82]

Und er bekommt zweimal Briefe von einem Studienfreund, die er aber eher desinteressiert - wie auch anders - zur Kenntnis nimmt. Aber letztlich kommt damit endlich Schwung in die Handlung.

In einem Brief liegt ein Foto von Schafen dabei, das er wunschgemäß bei einer Gelegenheit veröffentlicht (er ist beruflich mit der Herstellung von Werbemagazinen beschäftigt). Eines der Schafe ist etwas besonderes und ruft einen seltsamen Besucher auf den Plan (eine typisch murakamische Gestalt übrigens). Er bekommt den Auftrag, dieses Schaf zu finden, unter Androhung reichlich existenzbedrohender Konsequenzen. Immer noch schlaff macht er sich nicht ohne von seiner Freundin überredet zu werden mit ihr auf den Weg, die Spur führt nach Hokkaido, und dort in eine einsam gelegene Gegend. "Der Winter naht", seltsame Leute werden kennengelernt, die Gegend, wo die Schafsaufnahme gemacht wurde, wird gefunden, eine ganz skurrile Gestalt vertreibt die schöne Freundin, und aus ist's mit dem "Geschlechtsverkehr", der vorher alle paar Seiten genau so, als "Geschlechtsverkehr", immer brav protokolliert wurde, der Held ist nun allein, und es schneit immer mal wieder. Und endlich besucht ihn im Dunkeln der alte Freund und Briefschreiber, der allerdings eine Woche vor Ankunft des Helden Suizid machte, um die endgültige Übernahme durch das Schaf in sich (!) zu verhindern. Die murakamische Gestalt taucht auf, aber als letzten Liebesdienst für den sich aufgeopferten Freund hat unser Hampelmann eine Uhr aktiviert, über die gesteuert dann das Anwesen in die Luft gesprengt wird, als dieser Bursche dort ankommt, und sich dem Schaf anbiedern, das Schaf in sich aufnehmen will (dies angedeutet auf Seite 118).

Wie nicht anders zu erwarten bei diesem Kuddelmuddel: Als der Held zurück ist in der Zivilisation, hat er keine Frau, keine Freundin, keinen Freund, keinen Job, eigentlich nichts. Er heult zwei Stunden "wie ich noch nie in meinem Leben geweint hatte [S.297]" und läuft dann irgendwohin. Und ich hoffe inbrünstig für ihn, dass er als naheliegendste Lösung nicht nur wieder raucht und Bier trinkt.

Aber ach je: Es ist trotzdem so ein tolles und spannendes Buch. Sogar eine dritte Lektüre könnte ich mir vorstellen. Vorerst habe ich das Gefühl, für einige meiner offensichtlichsten Fragen annehmbare Antworten gefunden zu haben, vielleicht überstehen diese auch eine dritte Lektüre, vielleicht aber auch nicht. Tolle, lege! Amen.

Yuval Noah Harari, Daniel Casanave - "Sapiens. Der Aufstieg"

(12.01.2021) Mit "Eine kurze Geschichte der Menschheit" ist Yuval Noah Harari ein Weltbestseller mit über 10 Millionen verkauften Exemplaren geglückt. Das Buch wurde in rund 50 Sprachen übersetzt und von einer ganzen Reihe von berühmten Lesern zur Lektüre empfohlen. Und es ist wirklich gut! Die Folgebände von Harari ("Homo Deus", "21 Lektionen für das 21. Jahrhundert") erreichten zwar nicht diese Auflage, aber auch sie wurden in Millionen von Exemplaren verkauft und in Dutzende von Sprachen übersetzt. Harari ist damit zu einer intellektuellen Institution geworden und wird deswegen gerne interviewt oder zu Diskussionen eingeladen und zur "Lage der Welt" befragt. Es lag nahe, die mit dem ganzen Rummel verbundenen Aktivitäten über eine Organisation zu bündeln und zu betreuen, und deswegen ist Harari dem Vorschlag seines Ehemannes Itzik Yahav gefolgt und hat mit ihm zusammen "Sapienship" gegründet. Die Erleichterungen, die er durch die Unterstützung des 15-köpfigen Teams erfährt, hat er in einem lesenswerten Gespräch mit Tim Ferriss anschaulich geschildert.

Harari, Casanave, Sapiens Aufstieg

Es lag nahe, den Inhalt von "Eine kurze Geschichte der Menschheit" - obwohl einfach zu lesen - auch für andere Leserschichten zu erschließen. Das Ergebnis liegt seit einigen Monaten vor, es ist der erste Band einer auf vier Bände angelegten Comic-Adaption. Allein schon dieser erste Band kommt auf fast 250 Seiten, das Unternehmen wird also etwas dauern (und in der Summe dem Leser wohl 100 Euro kosten). Der Zeichner Daniel Casanave ist kein Unbekannter, ich habe von ihm die dreibändige Comic-Adaption von Franz Kafkas "L'Amérique", der Mann hat also einen ausgewiesen langen Atem. Bei der Adaption des Textes für den Comic hat David Vanderbeulen unterstützt, die Zeichnungen Casanaves wurden durch Claire Champion koloriert. Das Ergebnis kann sich inhaltlich und äußerlich sehen lassen.

Inhaltlich orientiert sich "Sapiens" eng an der Textausgabe, und zwar am Teil 1 "Die kognitive Revolution". Die dort genannten Kapitel

  1. Ein ziemlich unauffälliges Tier
  2. Der Baum der Erkenntnis
  3. Ein Tag im Leben von Adam und Eva
  4. Die Sintflut

haben im Comic nun die Überschriften

  1. Rebellen der Savanne
  2. Meister der Fiktion
  3. Sex, Lügen und Höhlenmalereien
  4. Interkontinentale Serienmörder.

Natürlich wäre eine gleichförmige Bilderzählung zu langweilig geworden, deswegen wird bei der Erzählung mit verschiedenen Inszenierungen gearbeitet, mit Interviews, mit Vorträgen, als Film und so weiter. Stilistisch wird die Haupterzählung aufgelockert mit einer Art Vintage-Helden-Comic, mit Zitaten bekannter Gemälde (Alex Colville, Arnold Böcklin und anderen), mit einer Art Filmerzählung, mit Ausschnitten aus Filmen.

Harari, Casanave, Sapiens Aufstieg

Die Protagonisten sind nicht die üblichen männlichen weißen Wissenschaftler, die alles wissen und alles erklären, sondern es wird auf Geschlechtergerechtigkeit und Rassengerechtigkeit geachtet (eine Hauptrolle hier im ersten Band spielt zum Beispiel die Biologin Arya Saraswati, daneben der sympathische Weintrinker Robin Durham, ein Kommunikationsforscher, der während eines Gesprächs mehr als eine halbe Flasche Wein trinkt, die Anthropologin Franziska Duarte dos Santos aus Brasilien und weitere teils bunte Figuren. Die Hauptperson Yuval Noah Harari (vegan, homosexuell, mit einem Mann verheiratet) ist auch wohltuend anders als der typische weiße Wissenschaftler.

Der Inhalt ist sorgfältig und spannend dargestellt, ganz deutlich ist, dass die Wissensvermittlung ein hohes Ziel ist. Schon der schiere Umfang des Comics zeigt ja, dass er keinesfalls als Kurzfassung oder als "management summary" zu betrachten ist. Auch die Übersetzung ist sorgfältig und gelungen. Das Buch ist also für nahezu jeden Leser mit Genuß und Gewinn zu lesen, auch für diejenigen, die schon das dicke Buch gelesen haben.

Walter Kempowski - "Tadellöser & Wolff" und Lars Bardram - "Stellenkommentare zu Tadellöser & Wolff"

(04.01.2021) Kempowski habe ich erst 2019 für mich entdeckt (als ich "Aus großer Zeit" gelesen habe). Eine gewisse Arroganz hielt mich vorher davon ab, diesen "Bestsellerschreiber" zu lesen. Im "offenen Bücherregal" unseres Stadtteils fand ich im Herbst 2020 dann Kempowskis wohl bekanntesten Roman, den "Tadellöser & Wolff", und habe ihn gleich gelesen. Im November begann ich die zweite Lektüre, diesmal parallell mit dem auf der Webseite des Kempowski-Archivs verfügbaren Stellenkommentar von Lars Bardram. Dieser erstmals 2016 veröffentlichte Stellenkommentar (mit inzwischen 272 Seiten) ist "work in progress", ich benutzte die Ausgabe von Mai 2020, inzwischen gibt es eine wiederum erweiterte Fassung vom Januar 2021, in der glücklicherweise die Ergänzungen zur vorherigen Ausgabe mit Sternchen markiert und deswegen leicht aufzufinden sind. Nach der Erfahrung mit der parallelen Lektüre kann ich Bardrams Kommentar nur wärmstens empfehlen.

Kempowski, Tadellöser & Wolff

"Tadellöser & Wolff" ist ein gleichermaßen tolles und bedrückendes Buch. In kurzen Textblöcken wird quasi wie in einem Fotoalbum ein Blick auf Ereignisse, Personen oder Gedanken geworfen und alles montiert zu einer lebendigen und letztlich auch spannenden Zeitgeschichte. Diese Geschichte von unten, aus dem Blickwinkel eines Jugendlichen, ist weit entfernt von der typischen Geschichtsschreibung mit Königen, Kaisern und Politikern, zeigt aber sehr genau, was "unten" ankommt. Und das ist bedrückend: Unaufhaltsam wird hier eine Gesellschaft immer weiter ihrer Rechte beraubt, der einzelne immer weiter in Pflichten eingebunden, der Widerstand immer schwieriger und letztlich lebensgefährlich. Und das alles gesteuert von einer gar nicht mal so großen Clique skrupelloser Politiker, skrupelloser Armeeführer, skrupelloser Wirtschaftsbosse und skrupelloser Schreibtischtäter. Und von einer großen Meute genauso skrupelloser und beflissener Mitläufer mitgetragen und verstärkt. Dass auch die (bürgerlichen) Opfer dieser Politik keine Unschuldsengel sind, steht auf einem anderen Blatt, bestes Beispiel die in ihrer extremen politischen Naivität auf ihre Art genau so skrupellose und mitleidslose und gleichermaßen selbstgerechte Mutter Kempowski. Automatisch steht natürlich die Frage im Raum: Wer hätte das alles auf welche Weise verhindern können? Ein individueller Widerstand erscheint im Kontext dieser politischen Maschinerie von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Das ganze Buch schildert also nicht nur, es ruft auch dazu auf, drohenden Entwicklungen frühzeitig zu begegnen, politisch wach zu sein. Es macht auf eine dringliche Art sehr nachdenklich.

Dass Kempowski hier auch eine Familiengeschichte schreibt, ist zweitrangig. Er ist die Hauptperson dieses von März 1938 bis zum 1.5.1945 (die Russen dringen in Rostock ein) reichenden paradigmatischen Zeitgemäldes, es könnte aber auch jeder andere bürgerliche Jugendliche in anderen deutschen Städten sein.

Ich kann mir inzwischen gut vorstellen, die komplette "Deutsche Chronik" von Kempowski zu lesen. Ein toller Schriftsteller, und überraschend humorvoll.

Carmen Rohrbach - "Jakobsweg. Wandern auf dem Himmelspfad"

(03.01.2021) Ich habe dieses Buch über den Jakobsweg gelesen, weil mir der Busen der Autorin so gut gefallen hat (auf einer alten Aufnahme und auch nur im Bikini). Dieses Geständnis ist nicht political correct, das gebe ich gerne zu, allerdings ist es auch nur die halbe Wahrheit: Eine sehr gute Freundin macht seit fast zwei Jahrzehnten jedes Jahr eine zweiwöchige Wanderung auf einer der vielen Etappen des Jakobsweges, es lag also nahe, einmal einen Reisebericht über so eine Wanderung zu lesen. Wie ich auf Carmen Rohrbach gekommen bin, das weiß ich nicht mehr, dass ich letztlich ihr Buch gewählt habe, lag aber am Busen...

Carmen Rohrbach, Jakobsweg

Carmen Rohrbach war im Frühsommer 1991 unterwegs. Schaut man sich die Statistiken zum Jakobsweg an, so kamen Anfang der neunziger Jahre jährlich gerade einmal rund 10000 Pilger (nennen wir sie mal so) in Santiago de Compostela an. Inzwischen (und nicht wegen Harpe Kerkeling, der nur die deutschen Pilger beeinflusste, die aber nur einen kleinen Teil der Wanderer ausmachen) liegen die Zahlen deutlich über 300000, dem 30-fachen, und nur COVID hat 2020 für einen Einbruch bei den Zahlen gesorgt. Die Wanderung wie von Carmen Rohrbach geschildert wird man also so nicht mehr nachvollziehen können, sie ist ein Massenphänomen geworden. Das ganze Übernachtungs- und Bewirtungswesen und der Kontakt mit den Einheimischen in den ländlichen Gegenden hat einen anderen Charakter angenommen.

Carmen Rohrbach, und das macht ihre Wanderung für mich interessant, ist nicht aus religiösen Motiven unterwegs. Sie übernachtet auch sehr oft im Freien (was mir früher auch gut gefiel), und sie will tagsüber alleine gehen, Begleitung lehnt sie ab. Ihre fehlende Religiosität hält sie aber nicht davon ab, für viele kleine romanische Kirchen oder Klöster teils weite Umwege zu machen und mit viel Verständnis die Architektur und deren Wirkung zu beschreiben. Natürlich sind solche Beschreibungen und die Schilderung geschichtlicher Zusammenhänge eher Sache eines normalen Reiseführers, aber Carmen Rohrbach hat einen durchaus eigenständigen Blick. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die Naturbeschreibungen, wobei Vögel für die promovierte Biologin ein besonderes Steckenpferd zu sein scheinen.

Ihre Begründung für diese Wanderung, für dieses Ziel, fällt etwas dünn aus, sie schreibt selber, dass sie auch andere Ziele hätte angehen können, aber der Camino sollte es sein. Warum? Das wird nicht ganz klar.

Doch was mag mich in heutiger Zeit dazu bewegen, eine Fußwanderung zum heiligen Jakobus zu unternehmen? Ausgerechnet ich, die niemals beten gelernt hat, nicht mal getauft ist und Kirchen nur betritt, um sie zu besichtigen oder gegebenenfalls darin zu übernachten? Noch weiß ich es nicht. Während der Wanderung hoffe ich mehr Klarheit zu bekommen. Ich bin aufgebrochen, um Antworten zu finden, Auskünfte über mich selbst. Was ich bin, was ich soll, wie ich weiter leben kann. Aber warum ausgerechnet eine Pilgerreise? Wenn ich Zeit zum Überlegen nötig hätte - und beim Gehen denkt es sich am besten -, könnte ich doch auch das Nordkap oder die südlichste Spitze von Europa zum Ziel wählen. Aber als ich von Santiago de Compostela hörte, stand für mich fest, das solltest du tun, da mußt du hin. Ich bin ziemlich Hals über Kopf aufgebrochen, es war schon eher eine Flucht. Am Morgen, als ich aufwachte, es war der 18. Mai, wußte ich noch nicht, daß ich gerade an diesem Tag losgehen würde.[S.8]

Bei dieser wachsweichen Begründung ist es kein Wunder, dass der Zielort Santiago de Compostela nicht als wirkliches Ziel empfunden wird und die Autorin weiterwandert nach Finisterre (das klingt ja auch so schön), aber ist das wirklich ein befriedigender Abschluss einer doch recht strapaziösen und langen Wanderung über 1000 Kilometer?

Von Santiago de Compostela hatte ich Abschied genommen. Eine wichtige Erfahrung für mich, doch konnte sie nicht der Abschluß meiner Pilgerreise sein. Ich glaube, erst wenn ich das »Ende der Welt«, Finisterre, erreiche, wird sich mein Unterwegssein wirklich mit Sinn erfüllen. Ich denke darüber nach, was die Bezeichnung »Ende der Welt« für mich bedeutet. Es klingt nach absolutem Ende: Ende der Welt - Ende des Lebens. Das ist aber für mich keine schreckliche Vorstellung. Nicht mehr als Lebewesen existent zu sein, ist für mich ein befreiender Gedanke. Die Auflösung ist eine Erlösung von der Verantwortung als Individuum. Meine Substanz als Einzelwesen kann sich dann überallhin verteilen, in alles einfließen, wieder dem Gesamten angehören. Aber solange ich lebe, will ich so individuell sein, wie es nur mir allein möglich ist. Ich will meinen Weg gehen, der mein ist und nur der meine sein kann. Unterwegs auf meinem Lebensweg möchte ich Menschen begegnen, aber ich kann niemandem folgen und will keinem erlauben, mir zu folgen. Vor meiner Pilgerschaft hatte ich mich noch gegen diese Bestimmung gesträubt. Ich bin mir unterwegs immer sicherer geworden, daß ich allein leben muß und will.

Muss man für diese und die folgenden "Erkenntnisse" so weit gehen?

Es ist immer nur ein einziges Lebenskonzept, das ich mir ausmale. Meine Vorstellung sträubt sich gegen eine seßhafte Lebensweise, gegen Dauer und Beständigkeit.

Aber natürlich hat Carmen Rohrbach einen festen Wohnsitz in sehr attraktiver Lage bei München, von da aus macht sie ihre Reisen - ist das nicht etwa doch zur Hauptsache "seßhaft"? Nebulös auch dieses Résumé:

Realität und Traum. Wirklichkeit und Wunschvorstellung. Ich könnte nicht leben ohne das eine und das andere. Ich brauche die Welt, wie sie wirklich ist und wie ich sie mir ausdenke. Ich muß unterwegs sein, nicht um anzukommen, sondern um immer wieder neu mich selbst zu finden und zu erfinden.

Dann lobt man sich doch lieber die etwas handfesteren Einsichten wie diese zum Verhältnis von Pilgern und Komfort:

Der Pilgerweg wird seine Wirkung verlieren, wenn tatsächlich eine Kette komfortabler Refugios aneinandergereiht werden. Es ist dann ein Fernwanderweg wie jeder andere. Pilgern bedeutet auch, Entbehrungen auf sich zu nehmen, also die Mühsale des Weges zu ertragen: Hunger, Durst, Kälte, Hitze, ein hartes Lager, Erschöpfung. Wer sich diesen Plagen stellt und sie überwindet, erfährt eine Art Läuterung und Bewußtwerdung. Selbstverständliches ist plötzlich nicht mehr selbstverständlich. Man merkt, wieviel Kraft es kostet, mit Unbequemlichkeiten fertig zu werden, aber nach der Überwindung erhält man vielfache Kraft zurück. Es sind elementare Erlebnisse, die so im Alltagsleben nicht erfahrbar sind. Deswegen ist der Pilgerzug für jeden eine seine Persönlichkeit beeinflussende Erfahrung. Darum sollten Herbergen wie in Santo Domingo eine Ausnahme bleiben.

Trotz aller Mäkelei habe ich das Buch aber gerne gelesen und kann es empfehlen.


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Erstellt von: Béla Hassforther