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Zum Lektüre-Tagebuch 2004

Kultur-Tagebuch 2003

11.12.2003
Seit einigen Tagen zum drittenmal an der Lektüre von Libuse Moníková "Die Fassade". Auch bei wiederholter Lektüre bleibt der Eindruck, ein ganz großes Buch vor sich zu haben. Schade, dass Libuse Moníková so früh verstorben ist.
Daneben immer weiter mit den Hebbel-Tagebüchern.

03.12.2003
London, Tate Modern, Installation "The Weather Project" von Olafur Eliasson. Mein erster Besuch in der Tate Modern, und was für ein Einstieg! "The Weather Project" von Olafur Eliasson nimmt die ganze Turbinenhalle der Tate ein, ein Ausstellungsraum, dessen Länge von 120 Metern und Höhe von fast 40 Metern wohl nur noch von Kirchen übertroffen wird. Der Raum ohne Schmuck und Abdeckungen, das Glasdach von Spiegeln verdeckt, an der Schmalseite des Raums ein riesiger leuchtender Halbkreis, der von den Deckenspiegeln zum Vollkreis und damit zur Sonne vervollständigt wird. Der ganze Riesenraum getaucht in warmes gelbes Licht, die Luft dunsterfüllt und leicht neblig, ein tiefes nicht unangenehmes Brummen - kein Wunder, dass diese Installation in den Wintermonaten 2003/2004 zum Publikumsrenner wurde und von über zwei Millionen Menschen besucht wurde. Auch ich setzte und legte mich wie so viele für eine halbe Stunde auf den Boden, ließ die Stimmung auf mich wirken, beobachtete die Figuren, die manche Besuchergruppen auf dem Boden formten, um sich in den Deckenspiegeln zu bewundern (viele machten Schwimmbewegungen), schmunzelte über eine Stillgruppe, die sich neben mir niederließ, und war gelöst und entspannt. Eine beeindruckende Rauminstallation des 1967 in Kopenhagen und heute in Berlin lebenden Künstlers. Eine knappe Einführung in die Installation findet man auf der Webseite der Tate Modern.

Olafur Eliasson, Weather Project

Olafur Eliasson, "The Weather Project" (London, Tate Modern, 2003/2004)

Olafur Eliasson, Weather Project   Edgar Degas, petite danseuse de quatorze ans

Links nochmal das Weather Project, Blick empor zur Spiegeldecke (eingekringelt: ich). Rechts die Tänzerin von Degas.

London, Tate Modern, Edgar Degas: "la petite danseuse de quatorze ans". Der Rest der Tate Modern (wie das klingt!) ließ mich vergleichsweise kalt, mit Ausnahme der kleinen "Tänzerin von 14 Jahren" (la petite danseuse de quatorze ans) von Edgar Degas, eine Plastik, die mich schon als Abbildung in einem Art-Magazin vor einigen Jahren packte. Bei ihrer ersten Ausstellung 1881 führte die Plastik zu heftigen Diskussionen, und niemand bestellte einen Bronzeabguß der originalen Wachsplastik. Die kleinen Balletmädchen, die aus der Ferne so grazil und feenhaft aussehen, entpuppen sich aus der Nähe eben als das, was sie sind: Ausgemergelte und ausgebeutete Kinder, die in den Aufführungen und in den Proben verschlissen werden - und im Alltag mißbraucht, was dem Gesicht dieser beeindruckenden Plastik anzusehen ist. Nicht allein mußten die jungen Tänzerinnen mit dem kargen Verdienst als "petit rats" zum Lebensunterhalt ihrer Familien beitragen, sie mußten auch noch nackt für Künstler und Möchtegern-Künstler Modell stehen und wurden von ihren Eltern - oder wie im Fall von Marie von ihrer Mutter - zur Prostitution mit Besuchern der Oper angehalten. Die Figur hält dem bigotten Publikum damals (und heute?) einen Spiegel vor...
Informationen zur Plastik findet man auf der Webseite der Tate Modern und zum dargestellten Modell Marie van Goethem etwas knäpplich in der Wikipedia. Ein sehr guter Artikel von Mary Louise Schumacher bietet für meinen Geschmack die beste Zusammenfassung zum Thema. Etwas mehr Zeithintergrund beschreibt Paul Trachtman. Marie von Goethem und ihr Schicksal ist auch Thema eines Jugendbuches von Carolyn Meyer: "Marie, Dancing". Ein kleiner Ausschnitt aus dem Buch findet sich ebenda. Offenbar ist Marie posthum eine Art Star geworden.
Meine oben gezeigte Aufnahme ist nicht von der Plastik in der Tate Modern, sondern vom Exemplar im Musée d'Orsay in Paris (da hatte ich den besseren Fotoapparat dabei). Das Original Wachsmodell befindet sich in in der National Gallery of Art in Washington, D.C.

01.12.2003
Johann Heinrich Tischbein d.Ä.: Detail aus Herkules und Omphale Spätbarock und Klassizismus. Bestandskatalog der Gemälde in den Staatlichen Museen Kassel, bearbeitet von Stefanie Heraeus. Der fest gebundene Band ist ein vollkommenes Gegenstück zum Taschen-Band "Malerei der Welt" (siehe unter dem 07.11.2003): Ein ausgezeichneter Text, gründliche Recherchen zu jedem Bild mit ausführlichen Literaturangaben, exzellent fotografierte Gemälde, bei denen keinerlei Reflexe zu sehen sind, wunderbare Reproduktionen in einer Top-Qualität. Obwohl Spätbarock und Klassizismus nicht "meine" Zeiten sind und ich nur einigen privaten Forschungen zur Tischbein-Familie u.a. nachgehe, habe ich mich doch oft ertappt, den Band langsam und genüßlich durchzuschauen. Sogar manche eher langweilige Gemälde sind derart gut präsentiert, dass es reizt, auch sie genauer anzuschauen und den Katalogtext zu lesen. Fazit: Einer der bestgemachten Kunstbände, die mir je untergekommen sind - und das waren viele. Es ist mir selten passiert, dass ich ein ausgeliehenes Buch so ungern wieder abgegeben habe. Der Schwerpunkt des Bandes liegt auf den ausser Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (dem "Goethe-Tischbein") wichtigsten Vertretern der Malerfamilie Tischbein: auf Johann Heinrich Tischbein d.Ä. und auf Johann Friedrich August Tischbein ("Leipziger Tischbein"). Als Appetizer ein Ausschnitt aus dem Gemälde "Herkules und Omphale" (1754) von Johann Heinrich Tischbein d.Ä.

23.11.2003
Marcel Reich-Ranicki. Sein Leben in Bildern. Warum dieser großformatige und dicke Bildband drei Jahre nach Erscheinen schon für wenige Euro verhökert wird (werden muß? werden kann?), muß man nicht verstehen. Der von Frank Schirrmacher herausgegebene Band zeichnet anhand von hunderten von Fotos den Lebensweg Reich-Ranickis nach. Beim Anschauen der eindrucksvollen Bilder tat es mir schon etwas leid, Reich-Ranicki bisher nur gelesen und im Radio gehört zu haben (ob ich ihn einmal bei einem der Frankfurter Römerberg-Gespräche in natura gesehen habe, weiß ich selber nicht mehr; wenn, dann ist das schon über zwanzig Jahre her). Aber da ich keinen Fernseher habe, bin ich leider um den Aspekt "Medienstar" bei Reich Ranicki gekommen. Natürlich ist Reich-Ranicki auf unzähligen Fotos mit irgendwelchen mehr oder weniger berühmten (oder schon wieder vergessenen) Schrifstellern zu sehen, natürlich fehlen auch die theatralischen Gesten beim Reden, Zuhören, Kritisieren nicht, am meisten haben mich aber eher harmlose Aufnahmen beeindruckt: MRR als Sechzehnjähriger in einem jüdischen Ferienlager in Swinemünde, als einziger ernst dreinschauend zwischen lauter lachenden jüdischen Jugendlichen, die sicherlich alle in den nächsten Jahren emordet worden sind (während der ernste Jugendliche überlebt); eine eindrucksvolle Aufnahme der bildschönen jüdischen Schriftstellerin Gustawa Jarecka, die wie MRR im Judenrat in Warschau mitarbeitete und 1943 im Waggon nach Treblinka umkam; MRR mit dem kleinen, verwachsenen Max Brod in dessen Wohnung in Tel Aviv - Max Brod schon sehr greisenhaft, die Tischkante geht ihm fast bis zum Hals; MRR auf drei Aufnahmen mit Ulrike Meinhof, der "erste(n) Person in der Bundesrepublik..., die aufrichtig und ernsthaft wünschte, über meine Erlebnisse im Ghetto informiert zu werden"; ein Gruppenbild, "Kardinäle der deutschen Literaturkritik mit ihrem Papst", unter ihnen der allen Arno-Schmidt-Lesern bekannte Jörg Drews; oder der Endsiebziger MRR bei der Arbeit zuhause am PC: Berührungsängste kennt er nicht. Ein eindrucksvolles und empfehlenswertes Buch, das Lust auf MRRs Biografie macht.

15.11.2003
Seneca. De brevitate vitae. Von der Kürze des Lebens. Ein schmales zweisprachiges Reclam-Bändchen, der reine (deutsche) Seneca-Text kaum 30 Seiten lang - und doch habe ich fast ein Jahr lang daran gelesen. Meist habe ich nur einige Seiten gelesen und bin dann ins Grübeln gekommen. Bei der nächsten Lektüre fast alles nochmal gelesen und nur wenig neues dazu. Und so immer weiter. Dann dauert es eben lange, aber der Test verdient es. Zu Seneca braucht man nichts zu sagen: einer der mächtigsten und reichsten Männer des Römischen Reiches, Lehrer und Berater von Nero, Konsul, schließlich zur Selbsttötung gezwungen, die er - entsprechend seiner Philosophie - mit stoischer Gelassenheit vollzog. Der Text ist heute so aktuell wie vor zweitausend Jahren - ein wahrer Klassiker. Der zentrale Gedanke ist, dass das Leben gar nicht kurz ist, sondern durch falsche Beschäftigung, falsche Ziele vergeudet wird, kurz gemacht wird. Nur Philosophen genießen das wahre Leben. Die Kritik am falschen Leben hat mir besser gefallen, traf einen Nerv, die Lobpreisung der Philosophie und der Philosophen hat mich dagegen nicht recht überzeugt. Das, was diese Lebensform ausmacht, bleibt auch überraschend blaß im Vergleich zu den Schilderungen, was man alles falsch machen kann im Leben.

08.11.2003
Kafkas letzter Freund. Der Nachlaß Robert Klopstock (1899-1972). Mit kommentierter Erstveröffentlichung von 38 teils ungedruckten Briefen Franz Kafkas. Inlibris, Wien 2003. Die Herausgabe dieser Briefe innerhalb des Nachlasses von Robert Klopstock haben im Sommer etwas Wirbel gemacht, was aber zur Hauptsache an der exorbitant hohen Summe lag, die das Antiquariat für die Originale forderte. Auch dieses Band selber ist für das gebotene zu teuer. Für den halben Umfang eines typischen Bandes der Kritischen Kafka-Briefausgabe einen höheren Preis zu verlangen - da wollte ich nicht mitmachen und lieh mir den Band lieber nur aus. Sicher: er ist schön gemacht, die Kafka-Briefe sind ausführlich dokumentiert, jede Menge Faksimiles lassen sich bewundern, und wenn man Lust hat kann man auch zu Robert und Giselle Klopstock etwas lesen, aber bei genauerer Betrachtung sind diese Kafka-Briefe und Karten nicht die Offenbarung, als die sie hingestellt werden, mit den Briefen an Felice und Milena lassen sie sich bei weitem nicht vergleichen. Und vom Umfang her gesehen ist es auch keine Wucht: Betrachtet man nur die Kafka-Briefe (ohne Anmerkungen), dann schätze ich den Umfang auf ca 35 Seiten. Und das ist schon großzügig gerechnet. Dass Kafka die "Fackel" von Karl Kraus gelesen hat ist ja wohl auch nicht die Sensation, zu der sie gemacht wird.

07.11.2003
Es war wirklich eine gute Idee, sich an Kafkas Buchempfehlungen zu orientieren: Hebbels Tagebücher, von Kafka sehr geschätzt, sind seit mehreren Wochen zur festen Einrichtung in meiner Lektüre geworden, fast jeden Tag lese ich einige Seiten daraus. Zuviel verträgt man nicht, zu stark kommt man ins Grübeln und Nachdenken. Sätze wie:
"Wirf weg, damit Du nicht verlierst!" ist die beste Lebensregel. (S.62)
mögen abgegriffen klingen, aber manchmal ist man in ebender Stimmung, ist man ebender Meinung, und dann ist sowas doch sehr kräftigend.

Malerei der Welt
Große Bilder, leider ganz klein
Malerei der Welt. Eine Kunstgeschichte in 900 Bildanalysen. Herausgegeben von Ingo F. Walter. Taschen Verlag 2003.
Eines dieser Geschenke, bei denen man nicht weiß, ob man sich freuen oder ob man sich ärgern soll. In den letzten Tagen häufig drin rumgeblättert und einige der sogenannten Bildanalysen angelesen, um mir einen Eindruck zu verschaffen. 900 Bilder und 900 "Bildanalysen" enthält der Band, das ganze auf 760 Seiten im Format 20,5cmx26cm. Es ist klar, dass die Abbildungen dabei winzig ausfallen müssen und die "Analysen" kurz und oberflächlich. Es ist schon witzig, den "Garten der Lüste" von Hieronymus Bosch 17cm breit und 9,8cm hoch zu beschauen, bei einer durchschnittlichen Figurengröße von 15mm im Vordergrund, 6mm im Mittelgrund und 2-3mm im Hintergrund. Raffaels acht Meter breite "Schule von Athen" gerade mal in 11 cm Breite zu zeigen - das ist schon gewagt. Beim dreimaligen Durchblättern erwischt man sich immer wieder, dass man einfach immer nur weiterblättert, das Auge keine Lust hat, sich mit diesen winzigen Dingern länger zu beschäftigen. Von den meisten Malern wird nur ein Bild gezeigt, aber soweit ich das beurteilen kann ist die Auswahl in Ordnung: von Otto Mueller mein Lieblingsbild "Liebespaar" (wenn auch der Verweis auf "Ravensburg, Privatbesitz" schon seit Jahren nicht mehr stimmt), von Dalí zwei(!) Bilder, darunter die "Brennende Giraffe", von Velázquez zum Glück nicht nur die üblichen adligen Verdächtigen, sondern auch "Venus und Cupido". Keine Ahnung, was man mit so einem Buch macht: Zum Bilderanschauen sind die Bilder zu klein, für ein Nachschlagewerk sind die knappen Künstlerbiographien zu ungleich und mit zu vielen Fehlern behaftet, zum Kennenlernen eines Bildes reichen die "Analysen" bei weitem nicht aus. Ein typisches Buch für die Mentalität "ich will alles", Qualität egal, denn "ich brauch's aber gar nicht". Dass die Malerei der "Welt" zu 95 Prozent eine Malerei Europas ist, und dass die Geschichte der Malerei offenbar für weite Kreise erst mit der Gotik beginnt - an solche Sachen ist man ja gewöhnt.

31.10.2003
Jakob Christoph Bischoff, Castel in Neapel
Jakob Christoph Bischoff "Castel dell'Ovo in Neapel" (1817)
Bleistift, wenig Feder, Aquarell; 12,2x19cm
Facetten der Romantik. Aquarelle und Zeichnungen aus der Stiftung für Kunst des 19. Jahrhunderts. Kunstmuseum Olten, 1999.
Es ist immer wieder überraschend, wieviel neues Material sich auch aus Epochen findet, die gemeinhin als abgegrast gelten. Wenn zum schmalen Oeuvre von Franz Pforr einige neue Einträge addiert werden können, so ist das immerhin für ein halbes Dutzend Leute weltweit von Interesse... Schon 1985 wurde die sich auf Nazarener konzentrierende Sammlung von Heinrich Thommen im Kunstmuseum Olten deponiert, fünf Jahre dauerte es, bis sich die Stiftung konstituiert hatte, und 1999 konnten endlich die Exponate in einer Ausstellung gezeigt werden. Der schön gemachte Katalog prunkt nicht mit Dickleibigkeit und Dutzenden von Aufsätzen, sondern kommt gleich zur Sache, der Vorstellung der 100 Exponate, kombiniert mit kurzen, aber sehr gut recherchierten Künstlerbiografien, die - soweit ich das beurteilen kann - auch die neueste Literatur auswerten, was keine Selbstverständlichkeit ist. Eine Entdeckung für mich sind die wunderschönen Italien-Aquarelle aus den Jahren 1815 bis 1817 des schon im Alter von 32 Jahren ertrunkenen Jakob Christoph Bischoff (1793-1825). Einen Schwerpunkt des Katalogs bilden die Zeichnungen und Aquarelle von Jakob Christoph Miville, die nicht nur Italien, sondern so ungewöhnliche Schauplätze wie Nordskandinavien, Rußland, Sibirien usw zum Gegenstand haben. Der für mich interessante zweite Schwerpunkt besteht in den bisher unveröffentlichte Pferdezeichnungen von Franz Pforr, in Verbindung mit ausführlich zitierten Originaltexten von Pforr.

30.10.2003
Hebbel, Peter Pan, Carl Einstein, Winnetou und so weiter: Heute mit der zweiten Lektüre von Loisels bisher fünfbändigem "Peter Pan" fertiggeworden, genauer gesagt mit Band 5 "Der Haken", der - wie die anderen Alben - auch beim zweiten Lesen immer noch ungemein spannend ist und immer neue Details inhaltlicher und formaler Art zeigt. Man hätte es sich nicht träumen lassen, wie erotisch und aufregend Feen und Nixen dargestellt werden können.
Bei dem gegenwärtigen Durcheinander in meinem Lektürestapel geschmunzelt und an Carl Einstein gedacht, seine "Kleine Autobiografie" von 1930 nochmal vorgenommen (in: "Carl Einstein. Prophet der Avantgarde." Berlin 1991, S.12ff) und mit Vergnügen u.a. den folgenden Satz gelesen: "Das entscheidende Erlebnis war natürlich Karl May, und der Tod Winnetous war mir erheblich wichtiger als der des Achill und ist es mir geblieben." Einer meiner Lieblinsmaler (Rudolf Schlichter) nannte seine Malergruppe sogar "Rih", und jeder, der einmal Karl May gelesen hat, weiß was das ist.
So wie Loisel die Insel mit Piraten, Indianern, Elfen, Zentauren usw besiedelt, so gleichberechtigt leben diese Gestalten auch in der Phantasie von Erwachsenen weiter. Ich kann dieses muffige Kontrastieren von ernster Literatur zu populärer Literatur oder die Geringschätzung von populärer Musik im Vergleich zur sogenannten klassischen Musik (einige hundert Jahre alte populäre Musik) nicht so ganz nachvollziehen, es ist aber leider so auch in einigen mailinglisten zu beobachten. Wenn ich mir allerdings vorstelle, was ein begnadeter Zeichner wie Loisel (oder Manara) aus Goethes Klassischer Walpurgisnacht machen könnte, oder was Kafka gelesen hat und was für absurd komische Sachen sich in seinem Nachlass finden - dann liest man weiterhin mit gutem Gewissen Hebbels Tagebücher (täglich zwanzig Seiten) neben Peter Pan und Corto Maltese.

29.10.2003
Christoph Heinrich Kniep
Zwei Porträts von Christoph Heinrich Kniep:
links ein Selbstporträt, rechts ein Porträt von J.H.W.Tischbein
Georg Striehl - Der Zeichner Christoph Heinrich Kniep (1755-1825). Landschaftsauffassung und Antikenrezeption (Georg Olms Verlag, Hildesheim, Zürich, New York 1998). Wer Goethes Italienische Reise gelesen hat, der möchte sich vielleicht auch mal mit dem Zeichner Kniep beschäftigen, den Goethe quasi als angestellten Landschaftszeichner nach Sizilien mitgenommen hat. Seit langer Zeit hatte ich schon vor, die Arbeit von Hanno-Walter Kruft, "Goethe und Kniep in Sizilien" (1970) deswegen durchzuarbeiten, aber mit Georg Striehls Bestandsaufnahme ist seit einigen Jahren eine erheblich umfassendere und aktuellere Darstellung verfügbar. Die annähernd 380 Seiten und fast 400 Abbildungen brauchen schon einige Tage Lektüre, aber nun habe ich mich endlich einmal durchgebissen (vgl. auch meine Lektürenotizen zum Band). Striehl sagt es selber: Ohne Goethe wäre Kniep heute vergessen. Zu begrenzt im Technischen (nur Zeichner), im Künstlerischen, im Motivischen (einige Jahre lang Porträtzeichner, dann nur noch Landschaftszeichnungen), im Intellektuellen (antike Figuren oder Szenen sind nur Versatzstücke, eigene Deutungen kommen nicht vor) - damit wird man nicht "unsterblich". Wenn dazu auch noch eine etwas langsame weil zu akkurate Arbeitsweise kommt, verbunden mit einem Schuss "laissez-faire" bzw "manana" - dann ist ein kärgliches Dasein vorprogrammiert. Schon Ludwig Richter konnte zu der Zeit seines Italienaufenthalts von Kniep in Neapel nur als von dem "alten, vergessenen Männlein" spotten. Mit Mühe und Not kann man drei Abbildungen identifizieren, die sich zum Scannen lohnen.
Vergleicht man die Zeichnungen von Kniep mit denen von Goethe (beide haben ja in Sizilien annähernd gleichviel, aber ganz unterschiedlich gezeichnet), dann muß ich sagen, dass der Dilettant Goethe die bessere Figur macht.
Damit der Preis des Bandes noch einigermaßen im Rahmen bleibt, ist die Qualität der Abbildungen bewußt sehr dürftig gehalten und oft nur noch dazu ausreichend, die abgebildeten Szenen identifizieren zu können. Es handelt sich eben um keinen Bildband zum Durchblättern, sondern um eine Bestandsaufnahme. Und stilistische Untersuchungen haben sowieso am Original zu geschehen.

25.10.2003
Hugo Pratt "Die Kelten". Zu den gesuchtesten weil seltensten Comic-Alben von Hugo Pratt gehört der Band "Die Kelten". Lange nicht neu aufgelegt erreichte dieses Album in den letzten Monaten auf online-Auktionen Preise bis zu 70 Euro. Ich selber habe eine englische Version im originalen Schwarz-Weiß, die ich recht günstig in einem australischen Antiquariat übers Internet erstand. Nun hat der Kult-Verlag eine Hardcover-Ausgabe der von Patrizia Zanotti kolorierten Version herausgegeben, und als langjähriger Corto-Maltese-Fan machte ich mich also auf in den hiesigen Comic-Laden. Ich habe lange den Band durchgeblättert und viele Passagen angelesen, aber der Funken wollte nicht so recht überspringen: Die Zeichnungen wirken koloriert schwächer als in reinem Schwarz-Weiß, das feste Hochglanzpapier wirkt abweisend und macht die schmutzig wirkenden Farben zu knallig, die Druckfarbe - besonders in der Einleitung - fehlt manchmal, die Übersetzung ist nicht gerade knackig. Aber am schlimmsten finde ich, dass der Band - ohne dass darauf hingewiesen wird - nur vier der in meiner Ausgabe enthaltenen sechs Geschichten enthält. Und eine der weggelassenen Geschichten ist gerade eine der stärksten dieses Bandes. Schon beim vorangehenden Band "Inseln der Illusion" des Kult-Verlags fiel sehr unangenehm auf, dass die Anzahl der Geschichten im Vergleich zu den alten Bänden der Carlsen-Reihe stark reduziert ist. Hoffentlich macht der Kult-Verlag daraus nicht eine Methode. Jedenfalls habe ich diesen leider vergeblichen Gang - der Band war mir das Geld nicht wert - zum Anlaß genommen, wieder in "The Celts" hineinzuschauen und mich an Esther Melchisédech zu erfreuen - die in "Die Kelten" nicht vorkommt.

Zum Ausgleich für das enttäuschende Erlebnis mit dem Corto-Maltese-Band habe ich aber die mir noch fehlenden Bände von "Peter Pan" (Régis Loisel) mitgenommen. Loisel ist ein exzellenter Comic-Zeichner und -Maler, den ich seit den achtziger Jahren, seit der Reihe "Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit" besonders hochschätze. Die "Peter-Pan-Bände" habe ich dann den Rest des Tages über genüßlich verschlungen. Die inzwischen fünf Bände dieser Serie illustrieren weit mehr als das typische Peter-Pan-Motiv: Sie setzen die kindliche Welt, die sich nicht nur aus der Realität, sondern gleichberechtigt auch aus mythischen und märchenhaften Elementen zusammensetzt (daher die Elfen, die Indianer, die Gestalten der griechischen Götter- und Heldenwelt) in Kontrast zur verrotteten Erwachsenenwelt aus Alkohol, verkommenen Sex, Geldgeilheit usw. Das alles aber zum Glück nicht moralisch, sondern teils humorvoll, teils sentimental, und teils haarsträubend. So bekommt der Leser eine Vorstellung, warum manch einer Peter Pan bleiben will. Dafür werden dann schon mal Episoden geschildert, die man im ersten Moment nicht als jugendfrei bezeichnen würde, bis man sich dann aber klarmacht, dass die kindliche Welt eben nicht nur aus Ringelreihen besteht. Oder wie Loisel seine Absicht in einem Interview beschreibt: "Parce que je voulais vraiment raconter le monde de l'enfance, et ce monde-là n'est pas forcément peuplé de petits oiseaux, d'oeufs de Pâque et du Père Noel." Und: "Il y a des enfants qui vivent des enfers."
Und der Leser bekommt eine Vorstellung, welche graphischen Qualitäten heutzutage im Comic-Bereich geboten werden - ein Standard, den mancher bekannte Altmeister der Kunstgeschichte nicht zu bieten hat.

19.10.2003
Ingeborg Bachmann. Bilder aus ihrem Leben (Mit Texten aus ihrem Werk. Herausgegeben von Andreas Hapkemeyer. München 1983). Diesen schön aufgemachten Bild- und Textband habe ich zwar schon im Januar 2003 gekauft, bisher aber nur passagenweise gelesen - letzte Woche also gründlich gelesen und die Bilder wo nötig auch mit Lupe angeschaut. Man kann es nicht abstreiten, dass ein Teil des Ruhms von Ingeborg Bachmann sicher damit zusammenhängt, dass es sich um eine attraktive Frau handelte. Auch die Biographie mit dem Wechsel von der Philosophie zur Literatur, mit den vielen Umzügen, dem Leben in Österreich, Deutschland, Italien usw hat etwas faszinierendes. Was nun in diesem Bildband leider - wenn auch verständlicherweise - zu kurz kommt ist das Leben der Bachmann als "sexuelles Wesen": Fast könnte man zum Schluß kommen, das Leben der Bachmann sei asexuell verlaufen. Keine Anspielung auf ihr Verhältnis mit Max Frisch, dessen Verletzungen sie wohl nie überwand. Kein Wort zu ihrer Liaison mit Adolf Opel und der gemeinsamen Reise nach Ägypten und in den Sudan. Vielleicht ist es auch besser so, hatte Ingeborg Bachmann doch selber eine Hochachtung von Schriftstellern, die alles persönliche sehr diskret behandelten und ihr Privatleben nicht an die Öffentlichkeit brachten. Was sie sagen wollte, sagte sie in ihren Büchern, und dieser künstlerisch verarbeitete Subtext in ihren Gedichten, Erzählungen, Romanen und Fragmenten ist es eigentlich, den diese Frau ihren eigentlichen Ruhm verdankt. Man ahnt, dass da mehr ist, als diese Fotos aus Alltagsleben und Empfängen vermuten lassen, aber es steckt in den Texten. Der Band enthät selbstverständlich auch Bachmanns Lieblingsgedicht "Böhmen liegt am Meer", welches auch eines meiner Lieblinggedichte ist - man kann es immer wieder lesen.

11.10.2003
Fred Wander, "Hotel Baalbek". Wie schon Wanders "Das gute Leben" ein packendes und aufwühlendes Buch, das mich zum Teil sehr deprimierte (der Inhalt ist einfach furchtbar), zum Teil aber auch aufbaute. Die Haltung, mit der Wander diese ganzen Katastrophen ertragen hat - sogar die Zeit als Lagerinsasse in Auschwitz -, seine nicht unterzukriegende Fähigkeit, dennoch auch das schöne und gute im Leben und an den Menschen zu sehen: Das ist selten so eindrücklich zu finden.

Zum Inhalt: Im Hotel "Baalbek" in Marseille sammeln sich Flüchtlinge, Verzweifelte, Versprengte, einfache Menschen und ehemalige Professoren, auf der Flucht vor der anrollenden deutschen Kriegsmaschine ("Und nie werde ich diesen Hauch von Schwefelgeruch in der Luft vergessen, dieses Nervengift von Haß und Vernichtung, das den deutschen Truppen vorauseilte und die Menschen zu ersticken drohte"). Die Gerüchteküche brodelt, aber auch die schlimmsten Schwarzseher sind nicht in der Lage, das wahre Ausmaß der Verbrechen auch nur zu ahnen. Die wenigsten haben das Glück und die Mittel, weiterflüchten zu können, eines der begehrten, aber sündhaft teuren (Gebühren und Bestechungsgelder!) Visa in ein sicheres Land zu bekommen. Wissentlich haben die europäischen Nachbarländer und auch Amerika die Flüchtlinge auflaufen lassen, oder, wie es Wander auf seiner weiteren Flucht in die Schweiz passierte, grob behandelt und zurücktransportiert, damit ihrem Schicksal ausgeliefert. Auch der Großteil der Hotelgäste landet in Zügen nach Auschwitz.

Wander erzählt in Vor- und in Rückblenden, und da er in dieser Zeit trotz allem ein junger Mann Mitte zwanzig ist, auch mit Liebesglück und Liebeselend. Einige Personen werden sehr plastisch herausgearbeitet, andere bleiben Staffage, bilden das Kolorit - nicht aus schriftstellerischem Unvermögen heraus, denn Wander ist ein Meister der Menschenbeobachtung (was ihm das Überleben im Lager nach eigener Aussage erst möglich machte) und der Menschenzeichnung mit wenigen Sätzen.
Gerne hätte ich z.B. mehr von Sascha Cohn-Jannowitz, einer ganz besonders interessanten Gestalt, erfahren. Sascha gehört zu einer Reihe von wenigen Überlebenden, mit denen sich Wander in den folgenden Jahrzehnten regelmäßig in Paris trifft - ohne in ihren Gesprächen das Geschehen verstehen zu können: sie sind ihr Leben lang mit der Verarbeitung beschäftigt.

Fred Wander, geboren 1917 in Wien, lebt seit 1984 wieder in Wien. Sein fast dreißigjähriger Aufenthalt in der DDR (und dass er mit Maxie Wander verheiratet war) hat ihm in den "neuen Bundesländern" eine Art Kultstatus eingebracht, in den alten Bundesländern wird er dagegen erst allmählich als wichtiger Autor wahrgenommen. Die Rezeption in Österreich ist schon weiter entwickelt, obwohl Wander - trotzdem er Wiener ist - nicht eigentlich als österreichischer Autor einzuordnen ist.

05.10.2003
Bernward Vesper, "Die Reise". Bei einer kleinen sechstägigen Norddeutschland-Tour Ende September war auch ein Lokaltermin in Triangel bei Gifhorn angesagt, der Heimat von Bernward Vesper. Mancher, der Ende der siebziger Jahre oder Anfang der achtziger Jahre, "Die Reise" gelesen hat, wird wohl noch speziell den selbstquälerischen Bericht aus Vespers Kindheit und Jugend in Erinnerung haben. Die Lektüre (vor zwanzig Jahren...) fand ich über lange Strecken anstrengend, teils auch langweilig, sogar ärgerlich, es gab aber viele packende Passagen, die mich bei der Stange hielten. Ich glaube kaum, dass ich dieses 700-Seiten-Buch noch einmal lesen werde, aber die Eindrücke der Lokalitäten, die Gespräche mit dem Gutsverwalter Herrn v.d.S., der den ganzen Lebensweg von Bernward Vesper verfolgt hat und einen Gedenkstein in dem kleinen Privatfriedhof der Familien Rimpau, Vesper und v.d.S. aufstellen ließ und noch heute mit großer Hochachtung von Vespers Verlobten Gudrun Ensslin (die er mit Johanna von Orléans vergleicht) spricht - das alles brachte mich doch dazu, wieder etwas in dem dicken Band zu blättern und Passagen anzulesen. Wer in der Zeit der langen Haare aufgewachsen ist und lange Haare immer noch mit "Freiheit" assoziiert, wird sich über dieses Zitat freuen: "Wer Haare abschneiden will, will im Grunde Köpfe abschneiden."(S.70). Exakt dieses Wissen habe ich schon als Jugendlicher Mitte und Ende der sechziger Jahre gehabt, als ich mir die Haare wachsen lassen wollte, und mit extremen Aggressionen der "Erwachsenen" konfrontiert war ("Arbeitslager", "Rübe ab", "unterm Adolf..." usw.)
Hier noch einige Bilder vom "Lokaltermin":

Bernward Vesper, Wohnhaus
Wohnhaus (Will Vespers Gutshaus) von Bernward Vesper, von vorne und von hinten.

Bernward Vesper, Gedenkstein

Links: Ortsschild von Triangel; Mitte: Eingang zum Privatfriedhof der Familien Rimpau, Vesper und von der S.; Rechts: Gedenkstein für Bernward Vesper

Einen ausführlichen Bericht von einem Lokaltermin in Triangel hat Frank Keil am 27.04.2001 in der Frankfurter Rundschau veröffentlicht. Sehr lesenswert!

04.10.2003
Carl J. Burckhardt - "Briefe aus den letzten Jahren". Burckhardt ist eine durchaus problematische Gestalt, seine Rolle als Diplomat in den dreissiger und vierziger Jahren trotz all der üblichen Schönfärbereien, die "Verblichenen" angedeiht, nur noch sehr kritisch zu beurteilen (der "Nationalsozialismus als kleineres Übel im Kampf gegen den Kommunismus"...). Dennoch habe ich mehrfach mit großen Gewinn eine Briefsammlung gelesen, die ich mir noch in den siebziger Jahren kaufte, und diesen aktuellen Zufallsfund nun, ein schmales Bändchen von gerade mal 72 Seiten, auch gleich verschlungen. Die erste Assoziation, die man beim Lesen hat, ist immer "Kultur": diese Höflichkeit beim Verfassen eines Briefes, diese sehr überlegten und sehr gut formulierten Ausführungen, bei denen das Gegenüber wirklich sehr ernst genommen wird - das ist einfach wohltuend. Das Großbürgertum hat auch seine guten Seiten. Unter den vielen nachdenkenswerten Passagen nur diese hier, in der der langjährige Diplomat die übertriebene Wertschätzung von Original-Dokumenten (Briefe, Tagebücher, ...) für die Beurteilung historischer oder persönlicher Umstände zurechtrückt:

Im gleichen Antiquariat ein Glücksfund: "Hebbels Tagebücher in drei Bänden" in der dreibändigen von Gerhard Fricke herausgegebenen Ausgabe. Da Kafka, dessen Buchempfehlungen ich im letzten Jahr etwas gefolgt bin, von Hebbels Tagebüchern begeistert war und sie häufig Freunden zur Lektüre empfahl, war ich schon einige Monate auf der Suche nach einer günstigen Ausgabe. Fünf Euro - das ist geschenkt. Natürlich noch am Abend auch hier reingelesen. Interessant, wie früh Hebbel schon von seiner Größe überzeugt war und wußte (nicht nur ahnte!), dass er künftige Biographen haben werde und sein Tagebuch ("Notenbuch meines Herzens") diesen zu Gefallen schrieb.

02.10.2003
Nach der Lektüre des Originaltextes nun mit dem dicken Reclam-Heft "Erläuterungen und Dokumente: Franz Grillparzer. Der arme Spielmann" (über 160 Seiten) angefangen. Ein gewisses Unbehagen bleibt: Ist ein Werk erstmal zum Klassiker geworden, dann läuft die Interpretationsmaschine irgendwann von alleine, und jedes Wort wird Anlaß zu langen Ausführungen. So nehmen die Wort- und Sacherklärungen alleine 86 Seiten ein und sind damit wesentlich umfangreicher als der Originaltext selbst. Ich frage mich da nur, ob man nicht ein beliebiges Kinderbuch, in dem ein gutwilliger Leser auch vieles an Anspielungen, viele unbekannte Namen finden kann, mit einem ebensolchen aufgeblähten Kommentar in kosmische Zusammenhänge hieven kann. Dennoch ist die Fülle des Materials natürlich mit Gewinn zu lesen, wenn auch vieles eigentlich für erwachsene Leser Allgemeinwissen sein sollte, was hier lang und breit (wohl für Schüler) erklärt wird - aber ob ein Schüler sich durch dies alles durchwühlen wird?

30.09.2003
Franz Grillparzer: "Der arme Spielmann". Von Kafka hochgelobt und mit Begeisterung seiner Schwester Ottla vorgelesen. Meine letzte Lektüre ist über 30 Jahre her, Anlaß genug also, die kurze Geschichte nochmal vorzunehmen. Leider kann ich das Loblied nicht mitsingen: Weder kann mich die Geschichte vom formalen Standpunkt aus vom Hocker reißen, noch ist der Inhalt packend. Viele Unwahrscheinlichkeiten lassen das Einfühlen schwer fallen (kann man wirklich so trottelig wie dieser Spielmann sein??), und der immer wieder aus dem Text herausgelesene Antagonismus zwischen Kunst und Leben kommt mir auch etwas überinterpretiert vor: Der Spielmann ist definitiv kein Künstler, sondern höchstens ein Interpret. Und als Interpret ist er ein Versager. Der ganze Kerl ist eine Jammergestalt, und Barbara, die Tochter des Grieslers, kann von Glück sagen, dem Kerl entkommen zu sein.

29.09.2003
Max Pechstein, "Erinnerungen". Der Expressionismus ist nicht so ganz meine Sache, weder in der Malerei noch in der Literatur. Andererseits lese ich gerne Lebenserinnerungen, und dieser Bericht eines der wichtigeren Protagonisten des Expressionismus hat 'was. Es ist immer wieder erstaunlich, wie es ein Mensch aus ärmlichsten Verhältnissen schafft, sich darüber zu erheben und berühmt zu werden. Was mußte Pechstein sich in seiner langen Lehrzeit zusammenreißen, wie lange mußte er von der Hand in den Mund leben, wie oft hat er alles oder fast alles durch die Kriege verloren.
Wie sah Pechsteins Lehrzeit aus?
"Nach wie vor mußte mein Vater für den gesamten Lebensunterhalt, für Kleidung, Arbeitsgerät und Schulbedarf sorgen. Drei Jahre hatte ich sonntags die Gewerbeschule und im Winter zweimal wöchentlich die Innungsschule zu besuchen. Im vierten Lehrjahr sollte ich 50 Pfennige Lohn die Woche erhalten.
Am Osterdienstag, morgens halb acht Uhr, trat ich meine Lehre an. Nun hieß es täglich von halb sieben in der Frühe bis halb acht Uhr abends gehorchen. Im Sommer dauerte die Werkzeit von sechs bis in die Dunkelheit."
Brrr... Selbstverständlich wurde der junge Pechstein nicht ausgebildet, sondern wie die anderen Lehrlinge als billige Arbeitskraft verheizt. Dass er sich in der fast nicht vorhandenen Freizeit versuchte weiterzubilden und nicht unterkriegen zu lassen - Hochachtung! Im vierten Lehrjahr hatte er freie Sonntage - das muß ein Aufatmen gewesen sein. Nach der Lehre die Kunstgewerbeschule in Dresden 1900-1902 (mit exzellenten Zeugnissen und Preisen), dabei hungernd. Und endlich an die Kunstakademie 1902-1906, direkt als Meisterschüler von Professor Gußmann. Bekanntschaft mit Heckel, Mitbegründer der "Brücke". Romaufenthalt 1907, anschließend (Ende 1907) nach Paris. Im Sommer 1908 nach Berlin und 1909 erstmals ausgestellt bei der Berliner Sezession. In diesem Jahr auch erstmals nach Nidden an die Kurische Nehrung. 1910 Abgewiesener bei der Berliner Sezession, deswegen Mitbegründer der neuen Sezession. 1914 dann in die Südsee bis zum Kriegsbeginn, und auf abenteuerlichen Wegen zurück nach Deutschland (Spätsommer 1915). Westfront. Nach dem Krieg Anerkennung als Künstler und häufige Auslandsaufenthalte.

Steinhuder Meer 26.09.2003
Steinhuder Meer, Festung Wilhelmstein mit Museum. Die Festung wurde laut Inschrift 1765-67 erbaut auf einer 1761-65 aufgeschütteten künstlichen Insel. Die Festung dient heute als Museum, dessen Besichtigung flott geht, aber dennoch lohnend ist. Benannt ist sie nach ihrem Erbauer, dem Grafen Wilhelm zu Schaumburg-Lippe (1724-1777), der die Insel zunächst als Militärschule nutzte. Berühmtester Schüler war Scharnhorst. Später - von der Zeit Napoleons bis 1867 - war die Festung das Schaumburg-Lippische Staatsgefängnis.
Bei einem ersten Aufenthalt am Steinhuder Meer einige Jahre zuvor war die Insel nicht erreichbar, weil der See zugefroren war. Für mich als Arno-Schmidt-Fan war der Besuch der Insel ein Pflichtbesuch, weil sie das Ziel der Helden von Schmidts letztem Typoskript "Julia" war. Leider starb Schmidt während der Arbeit am Text, und die Helden kamen nicht an. Auf dem linken Teil der Abbildung sieht man die Insel von oben, rechts bei unserer Abfahrt.

Chinese Sitting 25.09.2003
Kestner-Museum, Foto-Ausstellung von Michael Wolf: "Chinese Sitting" ("Sitzen in China", 5.9.-16.11.2003). Toll. Eine unglaubliche Vielzahl von improvisierten Sitzgelegeheiten, einige auch im Original in der Ausstellung vorhanden (natürlich nur die kleineren). Auf der Aufnahme rechts sitzt Elke aber auf einem normalen Museumsstuhl.
Michael Wolf hat am California College of Arts and Crafts und an der Folkwang Schule in Essen Fotografie studiert. Wolf lebt seit 1995 in Hong Kong und ist dort als Fotograf für das Magazin "Stern" in der asiatischen Pazifik-Region tätig. "Sitzen in China" ist eines seiner freien Projekte. Hier eine Besprechung des zugehörigen Fotobuches. Homepage von Michael Wolf: http://photomichaelwolf.com/intro/index.html

Passend zu dieser Fotoausstellung in einem anderen Stockwerk eine zweite Ausstellung über das Sitzen: "Setz Dich - Sit Down. Eine Ausstellung über Stühle, Stile und das Sitzen." (14.8.-16.11.2003). Ungemein interessant, wie kompliziert die Herstellung eines einfach aussehenden Konferenzstuhles sein kann. Und wie riesig die Unterschiede beim Probesitzen ausfallen. Ebenfalls eine lohnende Ausstellung, nahezu alle Sitzgelegenheiten probierten wir durch. Einen Stuhl gab es, in dem wir uns beide wie zuhause fühlten. Aus dem Infotext zu dieser Ausstellung:

Balkenhol und Schwitters Sprengel-Museum Hannover, Ausstellung: Stephan Balkenhol "Skulpturen, Fotografien, Zeichnungen und Material". Sehenswert im Sprengel-Museum fand ich nur diese Ausstellung des 1957 geborenen Stephan Balkenhol (Ausstellungsdauer 10.09.-23.11.2003). Genauer gesagt: nur die Holzskulpturen waren interessant. Die Zeichnungen waren dilettantisch und die Fotos nur guter Durchschnitt. Die Holzskulpturen allerdings waren klasse. Die meisten Figürchen sind höchstens 40 cm hoch (wobei aber der zugehörige Sockel nicht mitgerechnet ist). Abweichungen nach oben hin können beträchtlich sein. Der hier gezeigte "Elefantenmensch" ist von 2003.

Die Schwitters-Ausstellung im Sprengel-Museum hat mich zwar überhaupt nicht angesprochen, aber im Zusammenhang mit dieser Ausstellung wurde auch der berüchtigte Merzbau rekonstruiert, in dem man nicht fotografieren durfte, der aber einen schönen Hintergrund für Personen-Fotos abgibt, wie man rechts außen sieht.

06.09.2003
Theodor Storm "Ein grünes Blatt": Ein problematisches Stück Literatur. Die martialische Rahmenhandlung (zwei Freunde sind mit ihrer Kompagnie auf Vorposten gewesen und haben dabei auch nächtliche Gefechte mitgemacht, nun ist die Kompagnie wieder in ihrer Hütte, und der Erzähler liest das Tagebuch seines Freundes) kontrastiert mit einer extremen Sommeridylle, die ins traumhaft-märchenhafte geht. Ein junger Mann in Uniform ist auf dem Weg zu seiner Einheit und kommt über eine weite, in der Sommerhitze flirrende Heide. Kurz vor einer kleinen Hütte legt er sich ins Gras und schläft ein, nur um nach einiger Zeit von einem jungen Mädchen geweckt zu werden, welches sich zutraulich zum wildfremden Mann ins Gras gesetzt hat und ihn weckt, als sie sich über ihn neigt und eine Haarflechte auf seine Wange schlägt. Die erste Anrede, die dem Soldaten einfällt, ist "Prinzessin" - und letztlich ist sie auch tatsächlich so etwas wie eine Waldkönigin. Sie lebt allein mit ihrem Großvater ("eigentlich mein Urgroßvater, ..., er ist schon undenkbar alt"), der von einer Bienenzucht lebt, "fast eine Stunde weit" vom nächsten Dorf entfernt. Liebe Leute, ohne Zweifel, das Mädchen kennt sich im Wald aus wie in ihrer Hosen- pardon: Schürzentasche, kann nachts, als sie den jungen Mann auf einer Abkürzung durch den Wald führt, barfuß mit einem zahmen Reh um die Wette laufen, ohne irgendwo anzuecken, während der arme junge Mann natürlich ständig gegen Äste läuft. Natürlich heißt das Mädchen "Regine" (ist also explizit als Königin benannt). Beim Abendessen unterhalten sich fast nur die Männer, Regine besorgt die Wirtschaft oder ist im Garten. Eine rührende Szene:
Der Alte hatte seine Brille aufgesetzt; er nahm mit der Messerspitze ein kleines Nachtgeziefer aus seiner Milch und legte es sorgfältig auf den Tisch. "Es wird noch wieder fliegen", sagte er, "man muß der Kreatur in ihren Nöten beistehen."
Am Ende, vor der Trennung, soll er ihr sagen, warum er in den Krieg zieht, warum überhaupt Krieg ist. Seine Antwort ist denkbar dumm: Während er gleichzeitig ein Blatt ("Ein grünes Blatt"...) von einem Baum bricht sagt er folgende denkwürdige Sätze: "Es ist für diese Erde, für dich, für diesen Wald - - - damit hier nichts Fremdes wandle, ..." usw usf.
Der Schluß nimmt die Rahmenhandlung wieder auf, mit einer leider sehr unklaren Aussage. Theodor Fontane hat in einer Korrespondenz mit Storm mehrfach gerade diesen Schluß bemängelt. Allerdings hat Storm nichts mehr korrigieren wollen, obwohl er mit diese Novelle nicht so viel Glück hatte wie mit anderen Produkten, und das Mißbehagen offenbar viele Leser teilten und teilen. Die Lektüre der Korrespondenz ist lesenswert. Man findet sie in der ausgezeichneten Storm-Ausgabe der "Bibliothek Deutscher Klassiker", Band 1, S.1041ff, hrsg. von Dieter Lohmeier. Diese Ausgabe ist natürlich ein Traum (zu einem Traumpreis), ich habe sie ausgeliehen, um parallel zur Lektüre meiner nicht-kommentierten Storm-Ausgabe einen guten Kommentarteil zur Hand zu haben.

04.09.2003
Theodor Storm "Immensee": Ein Verkaufsschlager mit schon zu Lebzeiten Storms Dutzenden von Auflagen. Resignative Grundstimmung: ein alter Mann erinnert mehrere Episoden aus einer unglücklich verlaufenen Liebe. Als Kinder waren Reinhard und Elisabeth unzertrennlich, aber beginnend mit Reinhards Studium in einer entfernten Stadt entfernten sich die beiden voneinander, wobei Reinhard trotz seines Schweigens (er schreibt jahrelang keine Briefe) und eines angedeutet "untreuen" Lebenswandels in seiner Studienzeit immer davon ausgeht, dass Elisabeth einmal seine Frau wird. Hinweise, dass er bei einem Heimatbesuch als verändert, kälter, böser empfunden wird, ignoriert er. Dass er nicht in der Lage ist, ein klares Heiratsversprechen abzugeben, wird ihm nur dunkel bewußt. Ein Freund (Erich) von ihm wirbt in der zweijährigen Abwesenheit Reinhards um Elisabeth und bekommt nach einigen Absagen schließlich deren Jawort. Dass ihre Mutter hier etwas mitgeholfen hat, ist zu erwarten, handelt es sich bei Erich doch um einen reichen Erben - und er ist gleichzeitig ein guter Mensch (anders kann man's nicht sagen). Allerdings liebt Elisabeth ihm nicht und die Ehe bleibt kinderlos.
Immensee handelt also von der geläufigen Zwickmühle Liebesheirat contra Versorgungsehe, enthält aber auch leise Anspielungen auf die in der Literatur des 19.Jahrhunderts weniger häufig beschriebene Spannung zwischen dem Wunsch nach leidenschaftlicher Sexualität und dem Wunsch nach einem Seelenbund. Für das erstere steht in Immensee ein sogenanntes "Zithermädchen", eine fahrende Musikantin mit "zigeunerhaften Zügen", deren "schöne sündhafte Augen" es Reinhard angetan haben. Dieser Zwiespalt ist in einer ersten Fassung des Textes deutlicher ausgeführt (wo das Zithermädchen auch noch einen Namen hat: "Lore"), fiel aber der Umarbeitung zu einem "lyrischeren" Text zum Opfer. Der Text als Kunstwerk hat dabei wohl gewonnen, die Figuren sind dabei aber immer mehr ihrer Persönlichkeit beraubt worden und bestehen nur noch aus Andeutungen.
Spannend ist die Ursachenforschung: Warum kommen die beiden nicht zueinander? Nach zweimaligen Lesen ist für mich Reinhard der Verantwortliche, wiewohl Elisabeth halt auch etwas zu passiv ist.
Die in der Literatur angesprochene Thematik Künstlertum - Bürgertum (wobei Reinhard für den freien Künstler steht und Erich für das vernünftige Bürgertum) kommt mir nicht so sinnig vor: Reinhard scheint eher ein künstlerischer Dilettant zu sein (schon die fünfjährige Elisabeth wirft ihm vor: "Ach, das weiß ich auswendig; du mußt auch nicht immer dasselbe erzählen"), was er beruflich macht, kommt gar nicht raus.

Wertvoll war die parallele Lektüre des Reclam-Bandes "Erläuterungen und Dokumente. Theodor Storm. Immensee" von Frederick Betz. Einzige Kritikpunkte: Die erste Textfassung ist anhand der gegebenen Abweichungen zwar zu rekonstruieren, aber nur schwer. Und wenn man schon schreibt (S.29), dass das Volkslied "Ich stand auf hohen Bergen" von Storm als bekannt vorausgesetzt wird, dann gehört es auch abgedruckt: heute kann man dieses Lied nicht mehr als bekannt voraussetzen.

Wertvoll besonders zur Klärung von Reinhards Versagen fand ich auch Sandra Klischats Aufsatz "Ausgewählte Aspekte einer Interpretation von Storms Immensee".

Rolf Dieter Brinkmann hat die untergründige Erotik in Storms Texten herausgespürt. Am 4.6.1972 schreibt er in einem Brief an Ulf Miehe (der gerade an einer Storm-Verfilmung arbeitete) einige Eindrücke aus Husum und folgende Erinnerung zu "Immensee":
"Nach der Geschichte von Immensee oder bei der Lektüre von Immensee habe ich früher mal onaniert. Das hing mit den Liebesszenen zusammen, an die ich überhaupt gar keine Erinnerungen mehr habe. Gibt es bei Storm Liebesszenen?"
(aus: Rowohlt LiteraturMagazin 36, Sonderheft, hrsg. von Maleen Brinkmann, Hamburg 1995, S.104)

31.08.2003
Theodor Storm "Posthuma": nicht mal eine Lesebuchgeschichte. Kitschig und sentimental, Liebe zu einer Verstorbenen, die zu Lebzeiten nicht geliebt wurde.

30.08.2003
Die Webseite der Literaturzeitung Volltext gehört zu den Seiten, die ich täglich aufsuche: hier werden wichtige Besprechungen und Nachrichten zur Literatur aus deutschsprachigen Zeitungen übersichtlich zusammengefasst und verlinkt. Natürlich ist Volltext auch als Zeitung lesenswert. Bei einer längeren Zugfahrt war heute die Ausgabe 4/2003 meine Begleiterin und als lesenswert empfand ich den Bericht und das Interview mit T.C.Boyle und die Erzählung "Serial" von Georg Klein. Der lange Auszug aus dem noch nicht erschienenen Roman der diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Inka Parei hat mich dagegen etwas enttäuscht.

Theodor Storm "Im Saal": Als bekennend "sinnliche Natur" hat Theodor Storm in seiner Jugend und noch als Mann in den Zwanzigern einiges private Durcheinander durchlebt. Darüber muß man froh sein, sind doch daraus seine schönsten Geschichten entstanden. Bei "Im Saal" wird seine immer vorhandene Neigung zu jungen Mädchen (fast noch Kindern) vollständig in einer nicht anders als "duftig" zu bezeichnenden kleinen Erzählung sublimiert: Bei einer Kindstaufe erinnert sich die Großmutter des Kindsvaters und Urgroßmutter des getauften Kindes an ihre Jugend und wie sie als achtjähriges Mädchen ihren späteren Mann kennenlernte, der damals schon erwachsen war. Wie anders und wirr dagegen Storms tatsächliche Liebe zu Bertha von Buchan, die bei Beginn der Bekanntschaft gerade einmal zehn Jahre alt war. Anspielungen auf den Wandel der politischen Verhältnisse (naheliegend, wenn eine um mehrere Generationen ältere Person erzählt) oder die revolutionären Zeitumstände sind wie üblich vage und für heutige Leser (jedenfalls für mich) nurmehr von akademischen Interesse.

28.08.2003
Die von Hans-Gerd Koch herausgegebene und auf fünf Bände angelegte kommentierte Edition der Briefe Kafkas ist mit dem zweiten Band erst im März 1914 angelangt. Wer sich heute schon einen vollständigeren Überblick über Kafkas Korrespondenz verschaffen will, ist darauf angewiesen, sich briefpartnerweise die einzelnen Sammlungen zu beschaffen. Heute war bei mir im Briefkasten "Franz Kafka. Briefe an die Eltern aus den Jahren 1922-1924". Das Konvolut bestehend aus 9 Briefen, 22 Postkarten und 1 Ansichtskarte wurde erst 1986 einem Prager Antiquariat angeboten, weswegen sich die Texte nicht mehr in der 1974 von Hartmut Binder und Klaus Wagenbach herausgegebenen Sammlung "Briefe an Ottla und die Familie" finden. Einleitung, Anmerkungen und Editorische Nachbemerkung lassen die vom Umfang her gerade 54 Seiten beanspruchenden Originaltexte auf immerhin 143 Buchseiten anwachsen. Die editorische Nachbemerkung relativiert die in der Einleitung vom selben Herausgeber behauptete Bedeutung der neuen Texte für Datierungsfragen, indem zugegeben werden muß, dass vom ganzen Material nur zwei Briefe von Kafka datiert worden sind und die Datierung der Hauptmasse fast ausschließlich durch andere veröffentlichte Texte oder durch Indizien zu geschehen hatte. Irgendwo schon ein Münchhausen-Effekt: etwas soll der Datierung des vorhandenen Materials dienen, was erst anhand des vorhandenen Materials datiert werden kann.
Trotz dieser kleinen Unkereien ist das Büchlein lesenswert: Am kleinsten Text von Kafka spürt man seinen Sprachwitz, seinen Humor. Wer das goutieren kann, dem gefällt auch dieser schmale Briefband. Inhaltlich bringen diese Briefe nicht sonderlich viel: Sie liefern einige Details zu den Lebensumständen von Kafka und Dora Diamant in Berlin, sie lassen die erbärmlichen Lebensumstände der beiden erahnen, aber viel mehr darf man nicht erwarten. Kaum ein Wort über seine Arbeit: Da waren die Eltern offenbar keine Ansprechpartner. Auch nur wenige Erwähnungen Doras - anscheindend auch kein Gesprächsthema mit den Eltern.
Traurig, wenn jemand erst im letzten Jahr seines Lebens wieder Lust am Leben hat und seine Krankheit bekämpfen will. Tragisch, wenn es dann zu spät ist. Schade, dass Kafka Dora nicht einige Jahre früher kennengelernt hat.
Eine Anmerkung noch zu einem nahezu unverständlichen Satz des Herausgebers: Er schreibt, dass die Hauptmasse der Familienkorrespondenz 1974 "im Ausland" herausgegeben worden ist! Solch eine Formulierung in einem als wissenschaftlich gedachten Text? Was ist das "Ausland"? Meint er damit die in Deutschland von Binder und Wagenbach herausgegebene Ausgabe? Ein böser Lapsus, der normalerweise von einem Lektor hätte abgefangen werden müssen.

Theodor Storm war einmal aus ganz literaturfremden Gründen einer meiner Lieblingsautoren, heute ist er für mich immer noch ein wichtiger Autor, allerdings in anderen Kategorien. 1974/75 habe ich einmal sein Gesamtwerk komplett durchgelesen und lebte so richtig in seiner Welt, nun reizt es mich, das ganze nochmal zu wiederholen und zu schauen, was die Texte mir heute sagen.
"Marthe und ihre Uhr" ist eine bessere Lesebuchgeschichte. Leise Kritik an dem weiblichen Rollenbild "sich für die Eltern aufopfernde Tochter" und eine ebenso leise Anspielung auf die Sinnlosigkeit eines abseits von sozialen Zusammenhängen in Literatur sich tröstenden Lebens sind zu vage, um Spannung (oder neudeutsch "Betroffenheit") zu erzeugen. Diese an sich erschreckend traurige Geschichte kommt in einem vollkommen weichspülerischen und folglich idyllisierenden Ton daher und ist deutlich ein Frühwerk.

24.08.2003
Benn (siehe unter dem 23.08.) war ein Liebhaber des Kitschigen und Sentimentalen, auch von Krimis, sicherlich hätte er Verständnis gehabt für den folgenden Sprung weg von seiner Großhirninde hinein ins Abenteuer. Nicht nur in alten Texten lebt der Sound des Abenteuers:
   Uns ist in alten Mæren wunders vil geseit
   von Helden lobebæren, von grôzer arebeit,
   von freuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen,
   von küener recken strîten muget ír nu wunder hœren sagen.

Der Sound ist zeitlos...
Mukden in der Mandschurei Wir befinden uns im Jahr 1904, mitten im Russisch-Japanischen Krieg, Schauplatz ist Mukden in der Mandschurei. Jack London, von dem sich mehr als zwanzig Bücher in meinen Regalen angesammelt haben, ist inmitten einer wenig motivierten Horde von weiteren meist amerikanischen Kriegsberichterstattern anwesend, um heimischen Lesern einen wohl dosierten und damit angenehmen Kitzel beim Lesen der neuesten Frontberichte zu verschaffen. Hugo Pratt erzählt in "Corto Maltese. Abenteuer einer Jugend", wie dieser kettenrauchende Amerikaner eine denkbar schlechte Figur unter den japanischen Offizieren abgibt. In beklemmend eintönigen quadratischen Bildern (immer drei Panels in vier Reihen, bis auf den Anfang - ein Doppelpanel a là "incipit tragoedia" -, und den Ausgang - Corto und Rasputin verlassen Port Arthur) vermittelt Hugo Pratt, dieser Meister der graphischen Novelle, auch formal, in welch aberwitzigen Fesseln sich dieses politische Leben abspielt, wie der einzelne Mensch, der einzelne Soldat nur eine Schachfigur für irgendwelche Machtspiele darstellt, ein Aussteigen gleichbedeutend mit Desertion und damit der Todesstrafe ist. Und dieser lächerlich-kettenrauchende, vergeblich coolness-darstellen-wollende Jack London ist keinen Deut besser, ist Teil des Problems. Nur ein junger Mann steht über den Dingen: Corto Maltese. Corto hält sich meist bei den einheimischen Chinesen auf, die auf verschiedene Art und Weise über die Runden kommen, oder überhaupt das beste aus der Situation machen. Ihm hat es aus Zufall hierher verschlagen, und er nützt die Gelegenheit, eine Ausbildung in traditionellen chinesischen Kampfsporttechniken zu absolvieren, die ihn später im Leben so manche Situation haben überleben lassen. Daneben vernachlässigt er nicht andere wichtige Lebensbereiche: Geht zum Beispiel mit IHR, von der in Pratts "In Sibirien" als SIE gesprochen wird, also mit der Nichte von Mou Lou Sung (auch Mou Lau Sung genannt) aus, einem Sproß ebender Familie, die Corto und Rasputin die Abfahrt ermöglicht (und in "Mu" wird Corto den sterbenden Sung nochmal begegenen...).
Dieses Jahr habe ich meine Sammlung von "Corto Maltese"-Bänden komplettiert. Hugo Pratt hat mit dieser Figur nicht nur einen Mythos für die Welt der graphischen Novelle geschaffen, inzwischen wurde ein Abenteuer auch verfilmt. Dass Hugo Pratt aus Venedig kommt, in Äthiopien und Südamerika aufwuchs, jüdische Wurzeln hat, und (angeblich) jeden Band seiner mehrere zehntausend Bände umfassenden Bibliothek gelesen hat, das alles ist unmerklich in den Texten und den Handlungsabläufen zu spüren. Man muß - ganz unüblich für das Metier der graphischen Novelle - nicht nur Bilder entziffern können, sondern auch zwischen den Zeilen der notwendigerweise knappen Texte zu lesen verstehen.
In Mukden lernt Corto Rasputin kennen, einen russischen Soldaten, der beschlossen hat, den Krieg auf seine Art weiterzuführen, und seine Desertion dank der Unterstützung von Jack London und Corto Maltese überlebt. Eine seltsame Freundschaft wird diese beiden Gestalten bis zum zeitlich letzten Band der Reihe ("Mu") verbinden. Corto als der zugleich kämpferische und romantische Träumer und Anarchist, Rasputin als eiskalter und kaltblütiger Killer, auf Geld, Gold und Frauen aus. Die Szene, in der sich Corto und Rasputin zuerst begegnen und sich schließlich stumm betrachten, ist ein Meisterstück versteckter Psychologie (mit schelmischen Details im Hintergrund, vgl. die beiden Abbildungen rechts, oder auch das phallische Nachfüllventil der Petroleumlampe, das Rasputins' immerwährendes Werben um die Freundschaft von Corto mehr als deutlich versinnbildlicht, gleichzeitig aber wie eine Waffe aussieht und damit auch einen Aspekt dieser Freundschaft darstellt):

Corto Maltese und Rasputin Der Stern, unter dem Corto Maltese und Rasputin stehen...

Hugo Pratt wäre nicht Hugo Pratt, wenn die Handlung nicht auf andere Abenteurer oder andere Autoren anspielt. "Sie" von Henry Rider Haggard geistert zwar etwas am Handlungshorizont herum, aber nur sehr im Ungefähren - erst in "Corto Maltese. In Sibirien" wird sie bzw "Sie" zu einer bestimmenden Gestalt. Dafür ist aber Haggards meistgelesener Roman "König Salomons Schatzkammer" in "Abenteuer einer Jugend" von einer gewissen Schlüsselstellung: immerhin nimmt Corto diesen Roman für bare Münze (weil er es will!) und will sich - natürlich versehen mit zusätzlichen Informationen - auf die Suche nach diesen Schätzen machen. Und dabei wird ihn Rasputin begleiten. Dass alles anders kommt als geplant sei einmal dahingestellt.

Nun - diese Abhängigkeit Pratts von Henry Rider Haggard war für mich jedenfalls genug Anlaß zur heutigen Lektüre von "König Salomons Schatzkammer": nach exakt 25 Jahren (nach der durch C.G.Jung angestiftenen Lektüre von "Sie") erst der zweite Roman, den ich von ihm gelesen habe.
Natürlich ist alles beliebig unwahrscheinlich, natürlich steckt eine ordentliche Portion Sexismus und Rassismus darin, natürlich ist der ganze Plot des 340-Seiten-Buches nach nur 50 Seiten zu erahnen, aber natürlich (möchte man sagen) schafft es dieser Meister von Abenteuerromanen dennoch spielend, einen ans Buch zu fesseln und es innerhalb eines halben Tages auslesen zu lassen. Man muß schon einiges schlucken: Schlachten zwischen Eingeborenen mit zehntausenden von Toten, das selbstverständliche Abschiessen von Elefanten und Giraffen und Löwen usw unter dem Deckmantel von Jagdsport und Männervergnügungen, als handelte es sich um Tiere auf der Stufe von lästigen Fliegen, die man einfach erschlägt (ich habe mich nie in Jäger eindenken können), Unwahrscheinlichkeiten ohne Ende... Aber dennoch, auch wenn es schwerfällt zu sagen: ein spannend und interessant zu lesendes Buch, das - mit der richtigen Einstellung gelesen - einen durchaus nach Afrika locken kann... Da kann man Corto Maltese schon verstehen.

23.08.2003
Ein Hinweis in unsrem Lokalblatt, der Rhein-Neckar-Zeitung vom 23.08.2003, verschaffte mir einige aufregende Stunden: In der FAZ vom Vortag war demnach ein wiedergefundener Text von Gottfried Benn abgedruckt (FAZ 22.08.03, S.31, "Unter der Großhirnrinde"). Für jemanden, der seit nun schon über 31 Jahren seinen Benn als Hausgott hätschelt, stand der weitere Verlauf des Samstags unter dem Gesetz der Pflicht: Dieser Text mußte beschafft oder zumindest gelesen werden. Der naheliegende Versuch, den Text online zu bekommen, scheiterte kläglich: Jede Menge Berichte über den Text, aber nicht der Text (natürlich, die FAZ bietet ihn online an, aber für 1,50 Euro!! Wer schenkt ihn mir??). Deswegen blieb nur noch der Besuch der Heidelberger Stadtbücherei übrig (die sowieso alle ein oder zwei Wochen besucht wird).
Was soll man sagen? Auch Hausgötter fangen leider mal klein an, und dieser fingierte Brief ist eine rechte Enttäuschung. Kein Wunder, dass Benn dieses epigonenhafte Stück Anfängerliteratur, zwischen dessen Zeilen Hofmannsthals "Chandos"-Brief herausgrüßt, nicht in seine Werkliste mit aufnahm und lieber weiter den Mythos nährte, mit einem Donnerschlag, seinen Morgue-Gedichten, in den Ring gesprungen zu sein. Es wird viel gejammert, unter besagter Großhirnrinde, viel larmoyantes Selbstmitleid wird mit typisch jahrhundertwendhaftem Ton über die Seiten ergossen, unausgegorene Erkentnistheorien werden mit müder Geste zum Besten gegeben, und jemand, der mit eiserner Disziplin ein verschultes Medizinstudium absolviert, schreibt abends im Kämmerlein "Ich bin etwas Mürbes, Verteiltes, Zusammenhangloses.". Pienz, pienz. Aber was soll man auch herzerfrischendes sagen, wenn man zu folgendem Schluß kommt: "Nichts Großes kümmert sich mehr um uns.". Zum Glück ist der alte Benn von anderem Schrot und Korn. Doch dieser ganz junge Benn hat entschieden zu viel Schrott auf Lager.

Der Ausstellungskatalog "Franz Kafka 1883 - 1924. Manuskripte. Erstdrucke. Dokumente. Photographien" der Berliner Akademie der Künste anläßlich des Kafka-Colloquiums vom 17.-19.02.1966 ist wenig mehr als ein Bildband mit Photographien, einer vierseitigen Zusammenstellung von Lebensdaten und einer vergleichsweise umfangreichen Bibliographie, stellt aber die Keimzelle von Klaus Wagenbachs "Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben" dar und enthält einige Abbildungen, die in diesem Band nicht enthalten sind bzw manche Abbildungen in besserer Qualität - von daher kann es nicht schaden, den Band in eine private Kafka-Sammlung aufzunehmen. Über ebay recht günstig ersteigert und heute gekommen - und natürlich heute durchgearbeitet. Drei Abbildungen: die Titelseite; Kafka mit Otto Brod in Riva, Italien; und das Schloss in Wossek, eine der vermuteten Keimzellen für Kafkas "Das Schloss".

Drei Abbildungen zu Kafka

Vom Februar bis August ist eine lange Zeit, und natürlich habe ich in dieser Zeit Bücher gelesen - viele Bücher -, und natürlich Bücher gekauft - viele, viele Bücher. Da ich nur für mich ein Lektüretagebuch schreiben wollte, muß ich mich wegen der langen Pause bei niemandem rechtfertigen, aber etwas ärgern tue ich mich doch - über mich. Schauen wir also, ob der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist, oder ob ich mal wieder regelmäßig das Gelesene Revue passieren lasse.
Gelesen habe ich in diesen Monaten u.a.:

03.02.2003
Seit 09.01.2003 an der Lektüre von Max Brod, "Streitbares Leben" - eine zähe Sache. Bin schon etwas enttäuscht: hier schreibt ein älterer Mann einen Lebensrückblick, und da liest sich doch vieles etwas anders, als wenn unmittelbares Erleben wie in den (Reise-)Tagebüchern beschrieben wird. Ein Großteil des Buches handelt von Begegnungen mit Geistesgrößen der Zeit und der (guten) Figur, die Max Brod dabei meist macht. Über weite Strecken ist die Biographie eine abstrakte Geistesgeschichte: Studien, Literatur, Projekte, Bücher, ...
Mag ja alles richtig und/oder interessant sein, aber etwas mehr zum Privatleben, zur Ehe, vielleicht sogar Hinweise auf seine Affären und dem ganzen Durcheinander, in dem er wegen seines intensiven Sexuallebens oft landet, wie seine Frau dazu stand(...), oder wie er nun im Alter über seinen früheren Frauenverschleiß denkt, über Bordellbesuche etc - das wäre schon interessant geworden.
Interessant allenfalls seine Entwicklung hin zum Zionismus, obwohl auch hier: die Gründe bleiben seltsam diffus. Und wo bleiben die Gegenstimmen, wo bleibt eine verständnisvolle Schilderung ambivbalenter Haltungen dazu? Der von Brod nahezu zum jüdischen Heiligen stilisierte Kafka ist in seinen eigenen Texten nicht als der bekennende Zionist zu erkennen, zu den ihn Brod gerne machen würde.
Brod glättet viele Brüche im eigenen Leben - das mag persönlich verständlich sein, schmälert aber den Wert der Biographie als Zeitdokument.
Frauen kommen über weite Strecken nicht vor - wie anders ist hier Kafka. Man meint, Stimmen aus zwei verschiedenen Generationen zu hören, wobei Brod sehr deutlich in eine doch deutlich fern gerückte Epoche gehört.

Parallel dazu habe ich angefangen, das "Todesarten-Projekt" von Ingeborg Bachmann zu lesen. Eine Lektüre, die viel Zeit zum Nachdenken, zum Einfühlen einfordert. Die Kassette mit fünf Bänden war für spottbillige 42,50 Euro in meinem Lieblings-Antiquariat zu haben. Der Umfang (mehrere tausend Seiten) ist etwas einschüchternd...

Ebenfalls parallel noch an Fritz J. Raddatz "Gottfried Benn. Leben - Niederer Wahn". Mit Benn hat vor über dreissig Jahren sozusagen mein Einstieg in die "hohe Literatur" begonnen, und so gehören neue Bücher von (neue Briefbände zum Beispiel) oder über ihn immer noch zur Pflichtlektüre. Auch wenn ich erst ein Viertel gelesen habe - mein Eindruck verfestigt sich immer mehr, dass dies ein recht unnötiges Buch ist. Für eine Biographie, die Daten darstellen und einigermaßen vorsichtig deuten soll, ist zuviel sprunghaftes, zuviel urteilendes, zuviel tendenziöses drin. Sicherlich ist Benn keine sonderlich angenehme Erscheinung, sicherlich sind viele seiner Texte nahezu ungenießbar geworden - aber wenn man schon über so einen Menschen schreibt, dann doch nicht aus einer solch besserwisserischen Perspektive im Plauderton. Gerade dieser Ton von Raddatz mag gar nicht zu Benn passen.
Das ausgebreitete Material bringt bisher wenig neues. Die sorgfältigen Arbeiten von Werner Rübe oder auch Holthusen bleiben unverzichtbar, und ohne den wunderbaren Ausstellungskatalog "Gottfried Benn 1886 - 1956" des Deutschen Literaturarchivs Marbach von 1987 kommt man auch nicht aus - und den scheint Raddatz vieles zu verdanken. Nun ja - vielleicht kommen doch noch prickelnde Passagen beim Raddatz.

07.01.2003
Gelesen von Katja Lange-Müller "Verfrühte Tierliebe", zwei Geschichten ("Käfer" und "Servus"). Haben mir beide gut gefallen. In der ersten Geschichte ist die Erzählerin eine pubertierende Schülerin, die sich in ihrem Wirrkopf auf eine Sonntags-Exkursion mit einem Biologen einlässt, der aber nichts von ihr will und sie (weil sie sich als Wissenschaftlerin nicht "bewährt") nach Hause schickt und nie wieder sehen will, Die Käfersammlung dieses Bisalzki erbt sie aber überraschend nach seinem baldigen Tod und macht damit solchen Unsinn, dass sie von der Schule fliegt. In der zweiten Geschichte wird sie bei einem Kaufhausdiebstahl ertappt und vom Kaufhausdetektiv, der diesen Job als eine Art Bewährung sehr ernst nimmt, in den Keller gesperrt. Da nur weibliche Personen eine Leibesvisitation durchführen dürfen oder auch nur die Wäsche einer Frau durchsuchen können, läßt der Detektiv die Erzählerin in einer Toilette sich nackt ausziehen, alle Habseligkeiten in einen Müllsack packen und macht sich dann auf zu einer Frau - kommt aber nicht mehr zurück. Nachdem sie die Gelegenheit verstreichen ließ, einen kurzzeitig auftauchenden Elektriker, der sich in einem Nachbarklo einen runterholt, auf sich aufmerksam zu machen (na ja - sie ist schließlich nackt), macht sie schließlich die Putzfrauen auf sich aufmerksam, landet bei der Polizei und verliert ihren Job.
Sehr spannend erzählt, gute treffende Sprache.
Bedrückend die geschilderten Machtstrukturen in der Ex-DDR, die en passent beschrieben werden: der autokratische Schuldirektor, der Umgangston der Lehrer mit den Schülern, das knapp geschilderte Schicksal des Kaufhausdetektivs, der in den Strukturen der Armee offenbar durch die Netze gefallen ist, die Bestrafung auffälliger Arbeitnehmer (oder Staats-Sklaven) durch Versetzung an primitive und unbeliebte Arbeitsplätze - brrr.
Katja Lange-Müller hat bisher den Ingeborg-Bachmann- und den Alfred-Döblin-Preis erhalten.

06.01.2003
Kafkas Tagebücher "1914 - 1923" zum zweitenmal ausgelesen (begonnen 25.12.2002).

05.01.2003
Angefangen, Hebbels "Nibelungen" zu lesen, dann aber nicht mehr losgekommen und in einem Rutsch "Der gehörnte Siegfried", "Siegfrieds Tod" und "Kriemhilds Rache" gelesen. Schaurige Geschichte, aber in einer umwerfenden Sprache geschrieben. Kafka war großer Hebbel-Verehrer, deswegen wollte ich mal reinlesen. Dass es mich so packt, hätte ich nicht erwartet. Und das alles sogar am Bildschirm gelesen, da ich von Hebbel bisher noch nichts als Buch habe. Aber wenn man die CD "Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka (Studienbibliothek)" hat, kann man sich eben schon mal spontan irgendwo reinlesen. Und ganz flott einige kernige Zitate ausschneiden.

zum Literatur-Tagebuch 2002


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