(23.09.2017) [Suhrkamp Verlag Berlin 2012; 639 Seiten] Von Sloterdijk kannte ich bisher nur einige Aufsätze aus der Sammlung "Was geschah im 20. Jahrhundert?", die mich allerdings nicht besonders beeindruckt haben. Auf den Notizenband "Zeilen und Tage" bin ich eher zufällig irgendwann im August gestoßen, habe mich aber sehr schnell festgelesen und den Band fast jeden Tag zur Hand genommen. Dank der teilweise sehr kurzen Notate (manche bestehen nur aus einem Satz, andere gehen über mehrere Seiten) kann man praktisch immer eine (gerne auch kurze) Lektüre einschieben.
Die Lektüre hat Spaß gemacht! Sloterdijk befasst sich mit einem großen Themenspektrum, von der akademischen Philosophie bis hin zu Anmerkungen zu Fernsehsendungen oder Fußballspielen. Und fast immer hat er eine eigenständige Meinung zu dem Beschriebenen, die interessant zu lesen ist, auch wenn man seine Meinung nicht immer teilen möchte. Und er hat seine Notate sicherlich nicht nur transkripiert, sondern auch stilistisch aufgepeppt, was dem Lesevergnügen natürlich sehr entgegenkommt.
Sein Alltag ist der eines Jet-Setters. Ständig ist er unterwegs, wobei er sich - ausser an seiner Hauptwirkungsstätte Karlsruhe - am häufigsten in Wien, Berlin, Paris oder auf Korsika aufhält. Natürlich kennt er Gott und die Welt und hat persönliche Termine bei bekannten Künstlern, Schriftstellern und Spitzenpolitikern. Vorträge, Tagungen, Workshops wechseln sich ab, daneben arbeitet er ständig an neuen Büchern. Zur Vorbereitung längerer Texte oder Vorträge zieht er sich gerne in ein Hotel auf Korsika zurück. Über seine Arbeit als Dozent und Rektor an der Karlsruher HfG spricht er eher wenig.
Belustigend ist seine Kritik und Ablehnung dicker Leute, obwohl man ihn auf Fotos selbst als dick wahrnimmt. Erfreulich ist seine Bewegungslust und seine Lust am Fahrradfahren - "Velomane" nennt er sich. Dass er immer mal wieder sich an schönen Frauen erfreut / erfreuen kann macht ihn sympathisch.
Mein Fazit: Ein absolut lesenswertes Buch.
Ich habe eine Unmasse an Stellen für eine zweite Lektüre oder zum Abtippen angestrichen, hier eine Auswahl daraus, zitiert nach der gebundenen Suhrkamp-Ausgabe.
Richtig heimisch scheint er sich in Karlsruhe nicht zu fühlen, denn:
Das intellektuelle Überleben in dieser Stadt hängt zu wesentlichen Teilen von den Tischgesprächen mit den Freunden ab. Fehlt auch nur einer über längere Zeit, spürt man den Entzug. [S.13]
Der Kollege Bazon Brock kokettiert anscheinend gerne mit dem Spruch
"Lerne zu leiden, ohne zu klagen - und lerne zu klagen, ohne zu leiden!"[S.13]
Populär gemacht hat diesen Spruch allerdings zwei Jahrzehnte vorher Rüdiger Nehberg, der den ersten Teil als Wahlspruch der Bundeswehr-Kampfschwimmer kennenlernt und den zweiten Teil dazu erfindet.[Nehberg, "Die Autobiographie" von 2007, S.125ff].
Zum Thema Schmutz und Eigentum eine schöne Beobachtung:
"Wo Eigentum auftaucht, fängt die Reinigung an. Wer hat, der hegt und pflegt. Sobald ein Eigentümer fehlt, türmt sich der Müll."[S.20f]
Interessant (wenn auch nicht ganz überzeugend), was er als Aufgabe und Sinn eines Mythos sieht:
Der Mythos enthält ja die Antwort des Zeitgeists auf die Fragen: Wie erklären wir den Unglücklichen ihre Lage? Und wie bringen wir die Frauen dazu, ruhigzuhalten?
Anläßlich einer kurzen Lektüre zur lichttherapeutischen Behandlung von Winterdepressionen, für die man die Bezeichnung "Seasonal Affective Disorders (SAD)" eingeführt hat, kritisiert er die Pathologisierung von Alltagsphänomenen:
Solche Ausdrücke zeigen die Pathologisierung, Professionalisierung und Merkantilisierung des Umgangs mit normalen Phänomenen an.[S.37]
Anläßlich von Heinrich Heines "Geständnissen" merkt er an, dass es Götterdämmerungen in der ersten Person gibt.[S.41]
Mit Genugtuung merkt er an (und lese ich...), dass nach Traumatisierungen das Schweigen oft die bessere Therapie ist:
Zum Beispiel verarbeiteten die Schweiger den 11.September schneller und waren danach weniger krank als die Trauma-Opfer, denen man Gesprächstherapien angeboten hatte.[S.49]
Die französische Revolution wird immer wieder mal thematisiert, ist aber nie positiv gezeichnet; im Gegenteil:
Der erste Schurkenstaat der Moderne, das revolutionäre Frankreich (...)[S.53]
Ein hübsches Kompliment:
Maria in Blassblau, so charmant, daß man in ihrer Nähe besser Handschellen trüge(...)[S.55]
Hotelstimmung in Sils-Maria:
(...) viele Zimmer werden vom FC Basel okkupiert, der seine Fußballer zum Höhentraining über die Berge scheucht, junge semi-depressive Proleten, die mit den zerknitterten Bildungsbürgern bei Tisch seltsam kontrastieren.[S.58]
Sloterdijk kann ganz gut austeilen:
Wen man ihn [Solschenizyn] sieht, kann man sich ein gutes Bild davon machen, wie der alte Tolstoj auftrat, ein vormals großer Künstler, in einen doktrinären Griesgram verwandelt, ständig mit der Verkündigung irgendwelcher Eseleien beschäftigt.[S.69]
Kurz und gekonnt mal die Brücke von der Architektur zur Ideologie geschlagen:
Plessner schreibt 1924 "Von Überwölbungen ist nichts zu erwarten, außer daß sie einstürzen." Die modernen Dome sind Phrasengebäude, die neuen Imperien sind Ideologien mit Garnisonen.[S.93]
Auf das Wetter kann er sehr empfindlich reagieren:
Das Wetter ist pure Fremdenfeindlichkeit. Die Häßlichkeit der Stadt Mérida, die durch Relikte eines römischen Theaters Aufmerksamkeit erregt, schlägt so aufs Gemüt, daß der Reisende das innere und äußere Notizenmachen aufgibt.[S.94]
Unter dem grauen Himmel kann sich der Reisende die eigene Anwesenheit nicht erklären. Die Absurdität des Tourismus liegt offen: Man schleußt Biomasse durch Kulturmasse hindurch in der Erwartug, die erstere möge dabei etwas "erleben". Aber die Biomasse wird traurig und fällt sich selber zur Last. Tonnenschwer ist der Tourist, der im Regen durch eine spanische Provinzstadtgasse läuft(...)[S.94]
Spanische Betonköpfe können erheitern (mich jedenfalls):
Isidoro erzählt von seinem Vater, einem Caballero alter Schule, der davon überzeugt war, Fremdsprachenkenntnisse seien ausschließlich den Sekretärinnen, den Bediensteten und dem internationalen Gelichter vorbehalten. Er hielt an der Auffassung fest, niemals werde sich die Zunge eines spanischen Kavaliers dazu herablassen, die zur korrekten Aussprache einer fremden Sprache erforderlichen lächerlichen Laute hervorzubringen.[S.95]
Der einfache Blick in den Spiegel kann das Ungenügen der guten alten Psychoanalyse aufdecken:
Anstelle der mißratenen Narzißmustheorie wäre eine Begriffsreihe zu entwickeln, in der die durchlöcherte Landschaft der affektiven Selbstverhältnisse besser abgebildet werden kann als in der Sprache der späteren Wiener Psychoanalyse. Darin würden Termini wie Selbstzufälligkeit, Selbstauffälligkeit, Selbstgefälligkeit eine Rolle spielen - ebenso am dunkleren Pol: Selbstvermeidung, Selbstlästigkeit, Selbstverwerfung, am helleren: Selbsterwartung, Selbstentwurf, Selbstanhänglichkeit, Autotoleranz. Narziß ist bei alledem kaum zu sehen. Nur in Grenzfällen taucht ein Individuum auf, das sich an seinem Selbstbild närrisch liebend festklammert. Das normale Subjekt hängt bestenfalls mit einer grauen Zuneigung voller Skepsis an sich selbst.[S.98ff]
Je mehr man sich mit anderen vergleicht, um so unglücklicher wird man, und die Möglichkeiten dazu sind heute besser denn je:
Seit jeher war der soziale Vergleich eine unfehlbare Anleitung zum Unglücklichsein, und seit sich die Populationen der heutigen Nationalstaaten auf eine gefährliche Ausdehnung der Vergleichszone eingelassen haben, erfahren sie täglich mehr Reibung, Provokation und diffuse Kränkung. Immer größere Zahlen an Menschen vergleichen sich heute distanzlos mit den Erfolgreichsten, wobei sie ihre Abstände zu den vermeintlichen und wirklichen Spitzen viel schärfer als früher spüren(...) Soziologen nennen die Vergiftung großer Bevölkerungsschichten durch Prominenz-gossip den "Hello-Magazine-Effekt". Es scheint die Mission von Krähen wie Victoria Beckham zu sein, Millionen von Frauen unglücklicher zu machen, als sie es wären, wenn sie von ihr und ihresgleichen nie gehört hätten.[S.104ff]
Über Afrikas Probleme:
Das afrikanische Elend ist älter als der Kolonialismus, und die Korruption der lokalen Machthaber reicht tiefer, als die gängigen Theorien der Entfremdung durch äußere Eroberung erfassen.[S.108]
Eine Beobachtung zur Kunstrezeption, die ich auch schon gemacht habe:
Eine Statistik hält fest, der Besucher einer Kunstausstellung brauche im Schnitt 45 Minuten, um an 300 Exponaten vorbeizugehen, woraus sich eine Verweildauer von 13 Sekunden pro Kunstwerk ergibt.[S.111]
Allerdings sollte man ergänzen, dass für viele sogenannte Kunstwerke auch diese 13 Sekunden ein gutmütiges Zugeständnis sind. Ich habe in manchen Ausstellungen bestimmt deutlich kürzere "Vorbeigehzeiten" gehabt, also gar nicht erst "verweilt". Die genannte durchschnittliche Verweilzeit kann gegen das Publikum, genau so gut aber auch gegen die gezeigte Kunst sprechen.
Der Bestsellerautor Nassim Taleb bekommt auch sein Fett ab:
Ein deutscher Mathematiker nennt den flotten Libanesen Taleb die Paris Hilton unter den Analysten, ein epistemologisches Partygirl, das mit der richtigen, wenn auch dürftigen Botschaft auftritt, man dürfe von Induktionsschlüssen nicht zu viel erwarten.[S.116]
Ein etwas böser Satz über die Studenten:
Unsere Studenten sind wie kostbare Ming-Vasen, ein kritisches Wort, und sie haben einen Sprung. Sie wollen vorsichtig transportiert werden, um ohne Schütteltrauma durch die formativen Jahre zu kommen.[S.135]
Dass der sogenannte "Ödipus-Komplex" totaler Bullshit ist, wird auf den Seiten 136-137 gut begründet (mit dem "Westermarck-Effekt": "Frühe häusliche Vertrautheit zwischen Personen blockiert erotisches Begehren.")
Wer hat nicht oft das Gefühl von Schauspielerei und Übertreibung, wenn jemand von "Betroffenheit", "Traumatisierung", "tiefer Trauer" fabuliert und dabei ganz cool daherkommt. Sloterdijk hat so jemanden beobachtet:
Eine afrikanische Lady sang einen harmlos klingenden Song aus der Zeit der britischen Kolonien, worin im zeitüblichen Ton von den kleinen Negern die Rede war. Nun gab sie mit strahlender Miene vor, vom Text des Liedes von Kindheit an tief traumatisiert zu sein - wobei evident war, daß sie die Nummer vor chronisch schuldübernahmebereitem Publikum schon öfter vorgeführt hatte.]S.199]
Hat Kunst etwas mit Können zu tun? Ein Rätsel: Was meint Sloterdijk?
An der HfG gab es, wie ich durch telefonischen Bericht erfahre, gestern abend eine lebhafte Debatte zwischen Boris Groys und Jonathan Meese, bei welcher letzterer unsere jungen Leute mit der These begeisterte, Kunst heute sei so wunderbar, weil man bei ihr endlich gar nichts mehr können müsse.[S.210]
Dieser Satz könnte von mir sein:
Wie es kommt, daß ich Gleichaltrige zumeist für Angehörige einer älteren Generation halte?[S.233]
Bereichert der Glaube das Leben? Sloterdijk zweifelt:
Aber nichts ist weniger bewiesen als die Vorstellung vom Glauben als Bereicherung der Gläubigen - er könnte genausogut die schlimmste Entfremdung und die Kolonisierung der Psyche durch das Absurde bedeuten. Tatsächlich liefert Kolakowskis These einen Beleg für die melancholische Position der Modernen. Deren erste und letzte Evidenz beim Blick nach innen ergibt den Befund, daß sie von nichts ganz überzeugt sind. Ihr Leben vergeht in "innerer Zerflossenheit", um mit Fichte zu reden. Im wesentlichen bleibt es für sie bei einem Halbleben, unterbegeistert, untermotiviert, unterüberzeugt. (...) Ich bin da, und mit mir ist nichts los. In dieser Lage glaube ich gern, daß der Glaube, wenn ich ihn hätte, mich bereichern würde. (...) Wer an die Bereicherung durch den Glauben glaubt, verrät, daß er ein Zaungast bei den Begeisterungen der anderen geblieben ist.[S.243]
Als Rektor einer Hochschule "darf" er die Bewerbungen um eine frei werdende Dozentenstelle lesen...:
Nach dieser Übung will man sich eine schwarze Wolldecke über den Kopf ziehen und von Geisteswissenschaften nie mehr etwas hören.[S.307]
Allzu optimistisch schaut er nicht in die Zukunft:
Letzte Bilder: Das Schwarze Quadrat und die nackte Frau.
Der letzte Satz: Gemurmel, postsyntaktisch, ohne Zähne.
Letzte Kunst: Biennale der Neo-Fatigués.[S.330]
Hannah Arendt ist immer mal wieder Thema, Beispiel:
Im übrigen erteilt auch Arendt dem kontemplativen Ideal eine Absage, indem sie die Lebensgrundlagen des beschaulichen Daseins in Parasitentum und Tyrannei erkennen möchte - zu diesem Thema hat man schon weniger Grobes gehört.[S.341]
Was nicht heißt, dass Sloterdijk es anders sieht...
Manchmal trifft er Frauen,...
... zu deren Beschreibung man nur vom Aussterben bedrohte Wörter wie "Liebreiz" verwenden kann, auf die Gefahr hin, in die Klasse der unbrauchbaren Alten versetzt zu werden.[S.363]
Gekonnte Kollegenschelte:
Unsere Freunde Negri, Zizek, Badiou et alii verhalten sich auf intellektuellem Gebiet, als hätten sie die Regel der Kinderbuchautorin Enid Blyton verinnerlicht: "Kritik von Leuten über zwölf interessiert mich nicht."[S.374]
Sloterdijk ist oft unterwegs, oft auf Reisen, kommt also nicht umhin, Mitreisende zu beobachten:
Reisen macht traurig, sobald man unvorsichtig genug ist, die Mitreisenden anzusehen. Welke Berufstouristinnen in ihren Fünfzigern mit den Stränden von gestern in den Augen. Müde Mittelschichtmänner am letzten Rand des Seitensprungalters, die täglich ihr Vitamin E zu sich nehmen, die Mühen der postvirilen Ebene vor sich sehend.
Man wird die grauen Nomaden früher oder später stoppen müssen. Die Rentner der Ersten Welt sind die Heuschrecken unserer Zeit.[S.471]
Talent reicht nicht:
Talent gibt es auf fast allen Gebieten reichlich, doch den Ton setzen in einer Generation auf einem Feld immer nur ein oder zwei Leute, von einer Passion Getriebene.[S.569]
Was gibt es zu "verbeamtet" und "pensionsberechtigt" zu sagen...?
Beim Blättern im Netz fällt auf, dass das Wort "verbeamtet" immer häufiger als Schimpfwort verwendet wird, üblicherweise in den Kommentaren von verbitterten Freiberuflern und von Transfergeldempfängern, die sich sozialkritisch Luft machen. Auch das Wort "pensionsberechtigt" wird wie ein giftgrüner Farbbeutel befüllt, um die Vertreter unwillkommener Meinungen in Professorenstellung damit zu bewerfen.[S.616]
Der Gott des Alten Testaments war mir als Kind schon sehr unsympathisch, das Beiwort "lieber" klang wie Hohn. Hier eine schöne Charakterisierung von Sloterdijk:
Was die Mesopotamier mit den Juden gemeinsam haben, ist das Gefühl, mit frustrierten Göttern konfrontiert zu sein, denen man es nie recht machen kann.[S.624]
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