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Jakov Lind - "Selbstporträt"

(7./8.11.2016) Jakov Lind ist 1927 in Wien geboren, wurde aber schon 1938, mit 11 Jahren, aufgrund der Judenverfolgungen von den Eltern nach Holland geschickt, wo er bei Pflegeeltern oder in Flüchtlingsheimen die nächsten Jahre lebte. Ich habe nicht verstanden, warum er nicht bei der Familie bleiben konnte, die erfolgreich nach Palästina emigrierte und zu der er nach dem Krieg für einige Jahre stieß.

Jakov Lind, Selbstporträt

In Holland war Lind auf sich allein gestellt, für sich allein verantwortlich, hat es dennoch (oder deswegen?) geschafft, den Krieg zu überstehen und die Judenverfolgungen der Nazis und ihrer holländischen Anhänger zu überleben, mit Verstecken und gefälschten Papieren, zuletzt als Gehilfe auf Lastkähnen und als Privatbote irgendeiner undurchsichtigen Nazi-Größe.

Vielleicht wegen dieser frühen Trennung von der Familie, überhaupt von jeglicher Art von Geborgenheit, ist er total sexbesessen, dauernd hinter Mädchen und Frauen her, dabei eine unangenehme "Loch-ist-Loch"-Mentalität an den Tag legend, weswegen man ihn fast schon den Tripper gönnt, den er sich als Siebzehnjähriger bei einer alten Prostituierten holt.

Die Schilderung, wie er zum Schreiben kommt, wie er sich als Schriftsteller entdeckt, ist wenig lebendig, kaum nachvollziehbar. Vielleicht kam das ("ich schreibe") bei manchen Frauen gut an.

Am interessantesten fand ich die Schilderung seiner Jahre nach dem Krieg in Israel, wo er fünf Jahre in verschiedenen Kibbuzim unterkommt, nie zufrieden ist, immer etwas anderes macht. Die Beschreibung des Kibbuz-Alltags, der Art von Menschen dort, der Probleme - das habe ich sonst noch nie so gut beschrieben gefunden.

Nach fünf Jahren verlässt Lind Israel wieder und geht nach England. Er drückt es so aus:

"...konnte ich mich wieder unter die Ratten dieses pestverseuchten Erdteils wagen."(S.158)

Seltsam! Warum will er denn dann hin? Vielleicht hatte er zu viel Mühe damit, die jüdischen Siedlermädchen flach zu legen...

Das Buch kommt etwas humorlos daher, was nicht nur an der geschilderten Zeit liegt. Mindestens in Israel hätte er vielleicht auch mal lachen können. Die Übersetzung aus dem Englischen ("Auf Deutsch konnte ich das Buch nicht schreiben...") scheint gelungen, wirkt aber auch etwas trocken, fast staubig. Mir hat die Lektüre keine Lust auf "mehr" von Jakov Lind gemacht.

Einige Zitate:

"Der Dachboden meiner im neunzehnten Jahrhunder beheimateten Seele ist angefüllt mit wunderbaren Besessenheiten. Zukunft, Vergangenheit, Hoffnung, Gerechtigkeit, Sozialismus, um nur einige wenige zu nennen."(S.12)

Zwischen geflickter und gebrauchter Kleidung einen Unterschied zu machen ist mir neu: Bei uns daheim hatten wir beides. Nicht so im Wien Linds:

"Und während man sich geflickter Sachen nicht zu schämen brauchte, waren Sachen aus zweiter Hand doch ganz was anderes. Solche blieben Landstreichern vorbehalten und den wirklich Armen."(S.23)

Auf den Seiten 23-25 schildert er die Menschenpyramide: Wer ist mehr wert, wer weniger, was ist ein Mitmensch, was ein Untermensch, wer gehört zu den Viechern, wer zum Ungeziefer, wer gehört zum Dreck, wer zum Gesindel, und wer sind die Schweine? Die zwei interessanten Seiten sind aber zu lang zum Abtippen..

Einen Aspekt seines Vaters beschreibt Lind so:

"Freunde hatte er wohl, aber keinen Freund, ..."(S.26)

Die (Wiener) Gymnasien seiner Zeit kommen bei Lind nicht gut weg:

"Nach acht Jahren Sprachpolitur und Befestigung jeglichen Aberglaubens entläßt das Gymnasium einen angeblich verbesserten Menschen. Man lernt dort den Kniff aller Kniffe: die Akkumulierung von Tatsachen und halben Tatsachen, kurz Wissen. (...) Kenntnisse in latein, Griechisch, Mathematik, Geometrie und Geschichte gelten als nützlich. Ich habe fast zwanzig Jahre gebraucht, um mich von dieser blödsinnigen Annahme frei zu machen, zwanzig Jahre, um meinen eigenen Wert im Vergleich zu dem Wert "wirklich gebildeter Menschen" festzusetzen, ..."(S.33)

Sofort nach dem Einmarsch der Deutschen beginnt der Krieg gegen die Juden(S.41), aber Wien selbst nimmt daran Schaden:

"Die Juden verschwanden, die meisten wanderten aus, doch Wien starb, als es seinen Lebensgeist in einem Akt des Autokannibalismus zerstörte. Juden und Verjudete hatten die Türen der deutsch-österreichischen Kultur für andere Sprachen, andere Denkweisen und Neigungen offengehalten. Die Massen hassten jene, die sie in ihrer Lethargie störten. Die nationalsozialistische Revolution war die Revolution gegen alles Kosmopolitische."(S.43)

Das Niveau der Jugendlichen in Holland ist für Lind erschreckend:

"Ich konnte mit niemandem sprechen, mich niemanden anvertrauen. Worüber wir redeten? Über unterschiedliche Schokoladensorten, über Zigaretten, über einen Film, den man gesehen hatte. In meinen Augen banales, stumpfsinniges Geschwätz. Nicht ernst zu nehmen. In Wien pflegten wir uns beim geringsten Anlaß über Gott und die Welt und über die letztendliche Bestimmung des Menschen zu unterhalten."(S.48)

In einem jüdischen Jugendlager in Holland fühlt Lind sich sehr unwohl:

"Zwischen Deutschen und orthodoxen Juden, zwischen Intoleranz und engstirniger Rassenidiotie war schwer zu wählen. Wer Gott nichts zu sagen hat, den soll man um Gottes Willen in Frieden onanieren lassen!"(S.56)

Wie kann man mit Linds Einstellung irgendwo glücklich werden:

"Ich fing an, die Juden zu hassen. Nicht nur die Orthodoxen, sondern alle. Ich hasste ihre Namen, ihre Gesichter, ihre Art zu reden, ihren Humor, ihren nervösen Eifer. Sie waren durch und durch verottet, man musste sich von ihnen befreien. Nicht weil es die Deutschen sagten, sondern die Deutschen sagten es, weil es so ist. Die Orthodoxen waren unduldsames, heuchlerisches Gesuindel, die Assimilierten ein bigottes, geldgieriges Kleinbürgerpack, die Reichen waren Lichtjahre entfernt von mir, die Intellektuellen verabscheute ich, da ich vermutlich selber einer war, aber nichts mit ihnen gemein haben wollte. Und die Zionisten? Nach Gouda [wo er in einem Jugendlager war] schien mir das Pionierwesen ein kollektives Onanieren in schlecht möblierten Dachkammern. Die deutschen Juden widerten mich an, weil sie Deutsche waren, die Holländer, die uns hassten, hasste ich wieder, und die Ausländer, meist polnischer oder ungarischer Abkunft, waren ein Sumpf voll gefillte Fische, schlau und gerissen und arrogant, wie nur Polen und Ungarn sind."(S.59)

Puh, was für eine Suada...

Auf den Seiten 67/68 beschreibt er sein "erstes mal" mit einer Frau - wie nicht anders zu erwarten ein beliebiges weibliches Wesen (oder sagen wir so: Eine Frau, die Mann/Junge sich gegenseitig empfahl, weil sie mit Jedem ins Bett ging)

Interessant die Beschreibung des letzten Abtransports der Juden. Im Nachhinein wirkt das naiv, aber man muss die Leute verstehen - das, was ihnen blühte, KONNTE niemand wissen, und so wirkte die Drohung, in ein Straflager zu kommen, wenn man nicht freiwillig zum Abtransport kommt, für viele erschreckend genug.(S.69-71)

Einmal bekommt Lind Probleme als Hilfsarbeiter auf einem Lastkahn, weil er seinen Vorgesetzten "Lecken Sie mich am Arsch" zuruft. Er läßt sich dann in einer lesenswerten Micro-Abhandlung über fucking, ficken, anal und so weiter aus:

"Anders als die übrige Welt haben die Deutschen kein Gegenstück zu dem vielfältig verwendbaren Wort "fucking". Das entsprechende Wort, ficken, kann nur benutzt werden zur Beschreibung eben dieses Vorgangs. Was die Angelsachsen als schmutzig und daher als beleidigend empfinden, bedeutet den Deutschen nichts. Für die Deutschen bedeutet Schmutz nur, was mit den faeces und den Anus zu tun hat. Daher gelten Wörter wie Arsch, Scheiße, Arschloch und Leck mich am Arsch für "wirkliche und schwere Beleidigungen, und sie dürfen nur von Vorgesetzten gegenüber Untergebenen nach Herzenslust gebraucht werden."(S.93)

Eine ziemlich giftige Bemerkung über die deutschen Hausfrauen, auch gegen die heutigen:

"Für die Hausfrauen wurden ausreichend Lebensmittel in den besetzten Gebieten zusammengestohlen, und sie konnten aus einer Armee von Fremdarbeitern ihre Dienstmägde wählen. Sie murrten, aber nicht zu laut, sie sahen erbärmlich aus, aber nicht erbärmlicher als heutzutage, ..."(S.98)

Über die heilsame Wirkung des alliierten Bombardements:

"Die Bomben der Alliierten waren Friedenstauben. Einzig Bomben konnten die Arroganz jener Bürger brechen, die schon viel zu lange geglaubt hatten, sie könnten ungestraft morden. Nichts in der neueren Geschichte Deutschlands reicht an diese Katharsis aus dem Himmel heran, sie hat Westdeutschland demokratischer gemacht, als es je gewesen ist, und so friedliebend wie nie."(S.102)

Seinen deutschen Schreibstil von 1945 beschreibt Lind als "nietzscheanisches Nibelungendeutsch" - ein toller Ausdruck(S.117).

Seine persönliche Inventur nach dem Krieg sieht trostlos aus:

"Bei der Überprüfung meiner Habe stellte ich fest, daß sie aus nichts als der bloßen Haut bestand. Alles übrige war dahin, Zionismus, Idealismus, Liebe, Haß und Sprache. Das Schlimmste - keine Sprache."(S.129)

Bei der Ankunft in Israel mit dem Schiff erleben die Ankommenden einen Gefühlsausbruch:

"Wie skeptisch ich jetzt auch bin, wie abwehrend ich auch jetzt reagiere, da ich in normalen Zeiten in London wohne und oft umherreise, nichts kann jenem sonderbaren Glücksgefühl Abbruch tun, das ich am 25.Juli 1945 empfand. Haifa und die Küste vom Deck der Askania sehen hieß das Unvorstellbare sehen. (...) Jeder, buchstäblich jeder, lachte oder weinte, schrie oder redete so laut, als wäre das gesamte Schiff unter dem Einfluß einer Droge. Alle an Bord hatten das gleiche mystische Empfinden, das niemand definieren konnte und keiner analysieren wollte."(S.139)

Lind wäre nicht Lind, wenn er nicht so reagieren würde:

"Ich tat, als ginge mich das nichts an, ich tat, als könne nichts mich zu Tränen rühren, ich verkniff mir das Weinen und zuckte mit keiner Wimper.(S.139)

Wie lebt es sich in einem Kibbuz, wie empfindet es Lind?

"Man arbeitet von sechs Uhr früh bis drei Uhr nachmittags. Danach duscht man, ruht, spielt mit den Kindern, die tagsüber in anderen Häusern wohnen, wo sie auch übernachten können. Der Kibbuznil geht gemächlich, arbeitet schwer, ißt wenig. Fast alle stammen aus Europa. Aus Polen, der Tschechei, aus Rußland, Österreich, Deutschland. Wie ertragen sie die Hitze, die ewige Mühle von Arbeit, Schlaf, Essen und wieder Arbeit? Gelegentlich gehen sie aus, allein oder zu mehreren, um Verwandte zu besuchen oder einen anderen Kibbuz. Ihr Taschengeld beträgt zwei Pfund im Jahr. Jawohl, im Jahr. Sie sind Chaluzim. Der Chaluz singt bei der Arbeit, hinterher tanzt er die Horrah. Hier wird aber weder getanzt noch gesungen, außer an Feiertagen. Meist sind alle todmüde und blicken ernst drein."(S.142)

Lind fühlt sich nicht zugehörig und will schreiben:

"Nur ans Schreiben dachte ich. Doch wann sollte ich schreiben, was und wie? Ich war sehr müde, ich brauchte Ruhe. Ich wußte nicht wohin, wäre überall, wo man mich schlafen lassen würde, hingegangen. In Israel schlafen wollen, ist, als wolle man in einem Ameisenhaufen schlafen. Es gab einfach keinen Platz zum Schlafen, wenn man keine Verwandten hatte, die diesen Luxus unterstützten."(S.144)

Er versucht, in anderen Kibbuzim sein Glück, findet es aber nicht, schließlich emfindet er nur noch Abneigung gegen das Land:

"Was ist das überhaupt für ein Land? Die Hitze passte mir nicht, und die Bewohner gefielen mir nicht. Der Chaluz ist geizig, stur, dickschädelig wie alle Farmer. Und die Städter? In Europa gehörten die Juden zu den netten, gutartigen, generösen, toleranten Leuten. Die groben, rohen, gemeinen und widerlichen Menschen waren Gojim. Nun aber sieht man überhaupt nichts anderes mehr als Gojim, wo man geht und steht."(S.146)

Der Schluß ist etwas versöhnlich. Er lernt doch noch interessante Menschen kennen, findet schließlich zum Schreiben und schreibt diese schöne Passage:

"Auch ich fand unentwickelte Bilder in mir, die einer chemischen Umwandlung bedurften, auf dass das Unsichtbare wirklich werde. Das Schreiben, so wurde mir plötzlich klar, ist ein photochemischer Prozeß. Überzeugende Resultate kommen nur unter bestimmten Voraussetzungen zustande"(S.156)

Und bald macht sich Lind auf, um sich wieder "unter die Ratten dieses pestversuchten Erdteils [zu] wagen."(S.158)