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Wilhelm Meisters Theatralische Sendung

ZWEITES BUCH

Erstes Kapitel

Wilhelm war nunmehr auf der Besserung, und Werner kam noch redlich jeden Abend nach vollendeten Geschäften, wie er es in den schlimmern Zeiten der Krankheit seines Freundes gewohnt worden war, um ihn mit Erzählen, Vorlesen, auch wohl oft durch die bloße Gegenwart von den heimlichen Gedanken abzubringen, in denen der Unglückliche sein Schicksal wiederzukauen und sich selbst zu verzehren eine Wollust fand. Einmal, als Wilhelm in der Abenddämmerung aus dem Schlummer erwachte und die Vorhänge seines Bettes, um aufzustehen, teilte, sah er Wernern, der, indes angekommen, sich, um ihn nicht zu stören, mit einem Buche ins Fenster gestellt hatte. "Warum lässest du nicht ein Licht kommen?" sagte der Kranke mit einem "guten Abend"; "was liesest du?" - "Ich fand einen Teil des Corneille auf dem Tische und schlug eben seine Abhandlung über die drei Einheiten auf. Ich habe so viel darüber reden hören und war begierig zu lesen, was dieser berühmte Schriftsteller darüber entscheidet." – "Entschieden hat er nun wohl nichts", versetzte Wilhelm. "Mir scheint seine Schrift mehr eine Verteidigung gegen allzu strenge Gesetzgeber als selbst ein Gesetz zu sein, wornach sich seine Nachfolger zu richten hätten." – "Ich merkte auch bald, daß ich mich geirrt hatte", sagte Werner, "da ich mir aus diesen Blättern einen Maßstab in die Seele zu befestigen dachte, wornach ich künftighin die Schauspiele beurteilen könnte." – "Wenn es auch Regeln gibt", fiel Wilhelm ein, "wornach man die Werke der Dichter richten darf, so mögen sie doch nicht so leicht anzuwenden sein als Elle und Gewicht und die vier Spezies der Rechenkunst." – "Ich verstehe das nicht", sagte der andere, "denn wenn die Vorschrift einmal richtig und festgesetzt ist, so muß man ja leicht sehen können, ob der Schriftsteller sich darnach gerichtet hat oder nicht." Wilhelm war still.

Doch ich merke, um meine Leser zu befriedigen, werde ich die Erzählung an das Ende des vorigen Buchs anknüpfen müssen.

Die Pest oder ein böses Fieber ihresgleichen rasen in einem gesunden, vollsäftigen Körper, den sie anfallen, schneller und stärker, und so war der arme Wilhelm von seinem Schicksale überwältigt, daß in einem Augenblicke sein ganzes Eingeweide brannte. Wie wenn ungefähr unter der Zurüstung ein Feuerwerk in Brand gerät, gingen in seinem Busen Glück und Hoffnung, Wollust und Freuden, Wirkliches und Geträumtes auf einmal scheiternd durcheinander. In den Augenblicken solchen wüsten Geschickes erstarrt meistens der Zuschauer, und dem, den es trifft, ist es eine Wohltat, daß ihn die Sinne verlassen.

Die Zeiten des lauten, ewig in sich wiederkehrenden, unerträglichen Schmerzens folgten darauf. Doch sind auch diese für eine Gnade der Natur zu achten. In solchen Stunden hatte Wilhelm seine Geliebte noch nicht ganz verloren, seine Schmerzen waren unermüdet erneuerte Versuche, das Glück, das ihm aus der Seele entfloh, noch festezuhalten, die Möglichkeit davon in der Vorstellung wieder zu erhaschen. Und wie man einen Körper, solange die Verwesung dauert, nicht ganz tot nennen kann, denn die Kräfte, die vergebens in alten Bestimmungen zu wirken suchen, arbeiten jetzt an der Zerstörung und nur dann, wenn sich auch diese aufgerieben haben, wenn das Ganze in gleichgültigen Staub und Gebeine zerlegt ist, dann entstehet das erbärmlich leere Totengefühl, nur durch den Atem des Ewiglebenden zu erquicken.

In so einer neuen, ganz lieblichen Seele war viel zu ertöten, zu zerreißen, zu zerstören, und die schnellheilende Kraft, die in der Jugend ist, gab selbst der Gewalt des Schmerzens neue Nahrung und Heftigkeit. Der Streich war zu treffend tödlich. Werner, nun aus Not sein Vertrauter, griff voll Eifer zu Feuer und Schwert, um der gehaßten Leidenschaft, dem Ungeheuer, aufs innerste Leben zu gehen. Die Gelegenheit war so glücklich, die Zeugnisse so bei der Hand, er trieb’s mit solcher Heftigkeit und Grausamkeit Schritt vor Schritt, ließ dem Freunde nicht das mindeste Labsal des mindesten augenblicklichen Betruges und vertrat ihm jeden Schlupfwinkel, daß die Natur, die doch ihren Liebling nicht wollte zugrunde gehen lassen, ihn mit Krankheit anfiel, um ihm von der andern Seite Luft zu machen.

Ein lebhaftes Fieber mit seinen Folgen, den Arzneien und der Mattigkeit, die Bemühungen der Seinen ums Bette, die Nähe und Liebe der Mitgebornen, die durch Mangel und Bedürfnis erst recht fühlbar wird, waren so viele Zerstreuungen eines veränderten Zustandes und eine kümmerliche Unterhaltung. Erst wie er wieder besser wurde, das heißt, wie seine Kräfte erschöpft waren, sah er mit Entsetzen in den qualvollen Abgrund eines dürren Elendes hinab, eine Empfindung, als wenn man in den ausgebrannten, hohlen Becher eines Volkans hinuntersieht. Nunmehr machte er sich selbst die bittersten Vorwürfe, daß er, nach erlittenem so großem Verlust, noch einen schmerzlosen, ruhigen, gleichgültigen Augenblick haben könnte. Er verachtete sein eigen Herz und sehnte sich nach dem Labsal der Tränen und des Jammers. Um diese wieder in sich zu erwecken, brachte er vor sein Andenken alle Szenen des vergangenen Glückes. Mit der größten Lebhaftigkeit malte er sie sich aus, strebte er wieder in sie hinein, und wenn er sich zur möglichsten Höhe hinaufgearbeitet hatte, wenn ihm der Sonnenschein voriger Tage wieder die Glieder zu beleben und den Busen zu heben schien, sah er rückwärts auf den erschröcklichen Abgrund, labte sein Aug an dem Sturze, warf sich hinunter und erzwang von der Natur die bittersten Schmerzen. Und so wiederholt zerriß er sich selbst. Denn die Jugend, die so reich an eingewickelten Kräften ist, weiß nicht, was sie verschleudert, wenn sie dem Schmerz, den ein Verlust erregt, noch so viele erzwungene Leiden gleichsam nachwirft, als wolle sie Verlornem dadurch noch erst einen rechten Wert geben.

Er war so überzeugt, daß dieser Verlust der einzige, der erste und letzte sei, den er in seinem Leben machen könne, daß er jeden Trost verabscheute, der ihm diese Leiden als endlich vorstellen wollte. Jede freudige, sonst teilnehmende Ader haßt’ er an sich und nährte dagegen jene stillstehende, schleichende, in sich gekehrte Empfindung, die heimlich den Kern des Lebens aushöhlt. Leise, fieberhafte Bewegungen, Nachhälle seiner Krankheit, schlichen in seinem innersten Bau und wurden durch eine falsche Diät Leibes und der Seele unterhalten. Er floh die Menschen, enthielt sich in seiner Stube und konnte es nie warm genug darin haben. Der Kaffee, den er bisher noch gar nicht gekannt, schlich sich als Arznei bei ihm ein, dann wurde dieser Lieblingstrank erst einmal des Tages, darauf zweimal genommen und bald unentbehrlich. Dieser leidige und allgemein verbreitete Gift des Körpers und des Beutels wirkte bei ihm auf das gefährlichste. Seine Vorstellung wurde mit schwarzen, leicht beweglichen Bildern erfüllt, mit welchen seine Imagination ein rastloses Drama, das die Hölle des Dante zum würdigen Schauplatz erwählet hätte, aufzuführen sich gewöhnte. Die vorübergehende falsche Stimmung, die dieser verräterische Saft dem Geiste gibt, ist zu reizend, als daß man sie, einmal empfunden, entbehren möchte, die Abspannung und Nüchternheit, die darauf folget, zu öde, als daß man nicht den vorigen Zustand durch neuen Genuß wieder heraufholen sollte.

Der Tee, ein würdiger, obgleich weitläufiger Anverwandter der verderblichen Bohne, ward als ein guter Gesellschafter, die häusliche Langeweile zu ergötzen, auch abends gewöhnlich aufgefordert; und da dann gleichfalls der Wein nicht immer mäßig genommen wurde, wenn gute Freunde zu Tische waren und die Lebhaftigkeit des Gespräches sich in einem solchen Vehikel am besten ausbreitete, so entstand daraus und aus andern Verknüpfungen ein widriges Unbehagen in seinem ganzen Wesen. Er ward von falschen Launen gepeitscht, seine Begriffe waren verworren und übertrieben, man erkannte ihn fast nicht mehr gegen die vorigen Zeiten.

Leider wird dieser fast so unbeschreiblich- als unerträgliche Zustand von vielen wohl verstanden werden, die, wie unser Freund, sich für außerordentliche physische und moralische Phänomene ansehen und jene Bewegungen, die sie zerreißend beunruhigen, der Gewalt ihres Herzens, der Kraft ihres Geistes zuschreiben; da sie doch mit etwas mehr Ordnung in ihrer Diät, mit etwas mehr Natur in ihrem Genusse zu ihrer eigenen und zu der Ihrigen Zufriedenheit recht ordentliche und recht natürliche Menschen werden würden. Ja, erlaubt mir, meine Freunde, daß ich euch sage: Ihr erscheint mir oft wie kleine, sachte Bäche, worein die Knaben Steine tragen, um sie rauschen zu machen.

Die Reste jener ersten Krankheit stockten noch in Wilhelms Gefäßen. Durch seine Lebensart konnte die Natur nicht wieder in ihre gleiche Wege geleitet werden. Er verabscheute jede Zerstreuung und Bewegung. Im Schlafrocke, Pantoffeln und der Nachtmütze fand er seine Beruhigung und zuletzt gar in einer Pfeife Tobak sein Glück. Es fehlte nun fast nichts mehr, ihn, den Wohlgebildeten, Reinlichen, Freien, in den Zustand jener Menschen zu versetzen, die oft ohne Geist und innern Beruf über mißverstandenen Büchern wie Schuster auf dem Schemel verkümmern.

Und er wäre auch untergegangen, hätte ihn nicht die Kraft seiner Natur, die wieder zum Geraden und Reinen strebte, gerettet. Je enger jene körperliche Fesseln zusammengezogen wurden, desto mehr sträubte sich die innere Gewalt, brach bei der ersten Gelegenheit los und durchwühlte das ganze Gebäude. Vergebens, daß man sie zu besänftigen hoffte. Mit der Weisheit einer verständigen Zuchtmeisterin griff sie durch, faßte jedes Übel in der Wurzel, kehrte das Oberste zuunterst, warf aus, was zu grob war, verzehrte das Feinere, und unbarmherzig in ihren unaufhaltsamen Wirkungen brachte sie unsern Freund etliche Male an die Pforten des Todes. Aber auch ihre Kur war aus dem Grunde; alles Fremde und Falsche ward vertrieben und der wohlgebaute Körper zu seinem künftigen Glücke in seinen innersten Verhältnissen wiederhergestellt. Freilich nahmen die Kräfte alsdann so langsam zu, daß man oft glauben konnte, sie schwänden wieder. In den gefährlichsten Augenblicken hatte er rein allem Leben entsagt, das hinter ihm zu liegen schien; er war los geworden von der Welt, und die Ruhe, die aus diesem Gefühl kam, war wie ein freundliches Klima, aus dem der Genesende gelinde Lebenssäfte zog. Dankbar nahm er nunmehro von der Quelle des Lebens das wieder an, was er in der Wut seines Zustandes verschleudert und mit Füßen getreten hatte; und so ward er wie ein Kind zum zweitenmal wieder ins Leben zurückgeführt, und wie ein Kind fiel er bei der ersten anwandelnden Munterkeit wieder über die vorigen Spielsachen her.

Was ihm zunächst lag, waren Theaterbücher. Er las mit vielem Vergnügen die besten Stücke wieder nacheinander, die ihm doch hier und da anders als sonst vorkamen.

Einen solchen Band hatte Werner während der Mittagsruhe seines Freundes aufgeblättert, wie wir zu Anfange dieses Kapitels gesehen haben.

Zweites Kapitel

Werner konnte nie recht leiden, daß Wilhelm ein Gespräch fallenließ und eine Weile in sich selbst gekehrt blieb. Er fühlte, da es nie als Verachtung auszulegen war, daß seines Freundes Herz sich bei solchen Anlässen sachte zuschloß, daß die lebhafte Seele sich in Reiche begab, wohin sie keinen bedächtig gesinnten Begleiter mitnehmen wollte. Werner hielt dafür, ein freundschaftlicher Umgang sei, um sich wechselseitig zu unterrichten, sich seine Zweifel mitzuteilen und, einer von dem andern überführt, sich zu vergleichen.

Wilhelm schien dagegen hier und da bemerkt zu haben, daß der Geist des Menschen ein eignes Ganzes ausmache, das sich mit einem andern nie vereinigen, wohl aber an mehr- oder wenigern Punkten sich berühren könnte. Er mußte bald zu dieser Erfahrung gelangen; denn ein Geschöpf, das im Werden ist, hat mit den entwickelten, auch denen von eigner Art, wenig gemein. Und was ihm als Wahrheit vorschwebte, hing an so vielen Fäden, war so gedrängt, so voller Aussichten, so leise nur zu fühlen, daß er fast nie imstande war, in einem Gespräche vorwärtszukommen und hübsch rund und deutlich zu sagen, was er wollte.

Als Knabe hatte er zu großen, prächtigen Worten und Sprüchen eine außerordentliche Liebe, er schmückte seine Seele damit aus wie mit einem köstlichen Kleide und freute sich darüber, als wenn sie zu ihm selbst gehörten, kindisch über diesen äußern Schmuck. In der Folge, als der Jüngling sich von innen heraus fühlte, seine Seele in Arbeit und Bewegung kam, verschmähte er die Worte, weil er das für unaussprechlich hielt, was in ihm aufquoll. Ihm war es auch nicht in Worte zu fassen, es dehnte sich alles zu weit auseinander, daß er es mit den engen, ängstlichen Banden des bestimmten Ausdruckes nicht umgrenzen konnte, besonders wenn ihm jemand widersprach; denn das, wovon seine Seele voll war, einem willigen Zuhörer aneinanderhängend mitzuteilen, machte ihm das größte Vergnügen, wie wir davon Beispiele gesehen haben und noch sehen werden. Zum Dialog hingegen war er gar nicht eingerichtet; ihm war nicht leicht gegeben, sich in die Gesinnungen der andern zu versetzen, und wenn der Faden seiner Ideen durch die Eingriffe des Streitenden oft zerrissen wurde, brachte er, um mehrerer Deutlichkeit willen, Sachen, Gleichnisse, Geschichten, Stellen herbei, die ganz und gar mit dem Gegenstande, wovon man sprach, keinen erscheinenden Zusammenhang hatten. Der Gegenteil behielt also immer recht, und wenn er sich sonst mit aller Lebhaftigkeit verteidigt hatte und sich zuletzt, um fertig zu werden, mit Paradoxen und Berufung an Himmel und Erde zu helfen suchte, wurde er meist überstimmt und ausgelacht. Dadurch hatte er sich nach und nach angewöhnt, in der Stille der Sonne entgegenzustreben, die seine Flügel zeitigen und ausspannen sollte. Besonders neuerdings, da ihm der große Knoten, an den er alles anknüpfte, abgerissen war, wußte er sich meist in nichts zu finden. –

Werner versuchte, das entschlürfte Gespräch sachte wieder einzufädeln. "Wenn dir es nicht zuwider ist und ich dir nicht etwas vorlesen soll, so erkläre mir doch einigermaßen, wie es mit den drei Einheiten steht und was man davon halten darf." – "Mein Kopf ist nicht ganz frei", sagte Wilhelm, "sonst wollte ich gerne dein Verlangen erfüllen. Zwar gestehe ich dir, je mehr ich es überlege, desto mehr überzeuge ich mich, daß es gefährlich ist, seinen Weg von dieser Seite in das dramatische Land zu nehmen."

"Gib mir doch einen Begriff", sagte Werner, "verwirfst du denn diese Regeln und diese drei Einheiten ganz?"

"Wenn du nur wüßtest", sagte Wilhelm, "was du in diesen Worten für Begriffe verwirrst. Ich entziehe mich keiner Regel, welche aus der Beobachtung der Natur und aus der Eigenschaft eines Dinges genommen ist; ich verachte auch diese sogenannten Einheiten nicht, weil sie teils zum Notwendigen eines Stückes, teils zu seiner Zierde gehören; ich halte nur die Methode für ungeschickt, womit man uns diese sonst ganz guten und nützlichen Lehren vorträgt, weil sie unsere Gedanken fesselt und uns verhindert, die wahren Verhältnisse zu erkennen. Wenn einer den Menschen einteilte in Seele, Leib, Haare und Kleider, so würde dir die Albernheit einer solchen Lehrart bald auffallen, ob du gleich nicht leugnen könntest, daß sich an dir alle diese Teile befinden. Nicht viel besser und fast ebenso unphilosophisch ist jene, wenn man sie näher beleuchtet. Ein Kerbholz, wo Dinge von ganz ungleichem Werte in einer Reihe eingeschnitten sind.

Die Einheit der Handlung im höheren Sinne genommen macht nicht allein den Ruhm des Dramas, sondern eines jeden Gedichtes, und diese, dünkt mich, ist indispensable. Nach ihr, wieviel wichtige Dinge sind nicht abzuhandeln, eh wir an Ort und Zeit kommen, worüber so viel zu sagen ist und wegen welcher man fast allen Schriftstellern oft durch die Finger hat sehen müssen. Ja, wenn denn am Ende Einheiten sein sollen, warum nur drei und nicht ein Dutzend? Die Einheit der Sitten, des Tons, der Sprache, des Charakters in sich, der Kleider, der Dekoration und der Erleuchtung, wenn du willst. Denn was heißt Einheit, wenn es doch etwas bedeuten soll, anders als innere Ganzheit, Übereinstimmung mit sich selbst, Schicklichkeit und Wahrscheinlichkeit?

Wieviel anders hat man bisher dieses Wort als Kunstwort gebraucht! Bei jeder der sogenannten drei Einheiten bedeutet es etwas anders. Einheit der Handlung heißt teils Einfachheit der Handlung, teils geschickte und innige Verbindung mehrerer. Einheit des Ortes heißt Einerleiheit, Unveränderlichkeit oder Einschränkung des Platzes. Einheit der Zeit sodann heißt kurzes, faßliches, einigermaßen wahrscheinliches Maß derselben. Du wirst also mit mir übereinkommen, daß man diese Dinge nicht hätte so nebeneinander und hintereinander rangieren sollen. Ich habe mir also diese alte Formeln bei meiner Untersuchung über das Drama ganz aus dem Sinne geschlagen, um einen natürlichern und richtigern Weg zu finden; dabei bin ich sorgfältiger als jemals, aufzusuchen, was nachdenkende Menschen darüber geschrieben haben. Sogar habe ich neulich eine Übersetzung von des Aristoteles ,Poetik’ gelesen." – "Teile mir doch etwas davon mit", versetzte Werner. "Aus dem Ganzen", sagte Wilhelm, "weiß ich wirklich noch nichts zu machen; man müßte wohl mehrere von seinen Schriften gelesen haben, um mit seiner Art etwas bekannter zu werden, auch überhaupt von dem Altertum unterrichteter sein, als ich es bin. Unterdessen hab ich mir vortreffliche Stellen daraus gemerkt und sie nach meiner Art zusammengesetzt, ausgelegt und kommentiert."

"Ich kann den Wunsch unmöglich aufgehen", versetzte Werner, "einen ausführlichen und bestimmten Maßstab zu haben, wornach ich die Güte eines Stückes beurteilen könne."

"Du irrst darinne", versetzte Wilhelm, "wenn du glaubst, es könne einer dem andern dieses Maß sogleich in die Hand geben. Man muß sich lange mit einer Sache beschäftigen und sie durchaus kennenlernen, alsdann versteht man erst recht, was verständige und gelehrte Leute darüber für Meinung hegen. Und wie der Dichter eher ist als der Kritiker, so müssen wir auch vieles sehen, lesen und hören, ehe wir uns einfallen lassen wollen zu urteilen. Nicht gerechnet, daß einer, der nicht vom Handwerke ist, am besten tut, er überläßt sich seinem natürlichen Gefühle und grübelt nicht lange, wenn ihn der Dichter oder Schauspieler ergötzt." – "So habe ich es auch immer gehalten", sagte Werner, "bis man mir neuerdings gar zuviel vorgeschwätzt und mich irregemacht hat. Denn so kam ich zum Exempel mit großem Vergnügen aus dem ,Lustigen Schuster oder der Teufel ist los’ und hatte gesehen, daß sich die ganze Welt recht sehr daran ergötzt hatte; das nahmen mir gewisse Personen sehr übel, die man für Kenner hält, spotteten über meinen schlechten Geschmack und bewiesen mir ihr Recht der Länge nach. Man will doch auch nicht dastehen, als wenn man aufs Maul geschlagen wäre, besonders wenn man doch ein paar Augen im Kopfe hat wie ein anderer."

Wilhelm versetzte: "Es ist schwerer, als man denkt, gerecht zu sein. Wie ich meine Untersuchungen anstelle, will ich dir sagen; ich sehe, daß man auf keine andere Weise herauskommt. Ich suche nun schon lange Zeit und besonders, seitdem mir meine Krankheit zum Lesen Raum läßt, zu finden, was zum Wesen des Schauspieles gehört und was nur zufällig dran ist; freilich sollte mehr Studium dazu, als ich habe machen können, denn man müßte die Geschichte des Schauspiels von seinem ersten Ursprunge, die Theater aller Nationen und den größten Teil ihrer Stücke kennen, man müßte untersuchen, worin sie miteinander übereinkommen müssen, um gute Stücke zu sein, und worin sie voneinander abweichen können; auf diese Gedanken hat mich der brave Legationsrat R. gebracht, der dir auch so wohl gefiel. Ich sehe aber, es ist keine Sache für mich. Ich habe mit dem französischen Theater anfangen wollen. Ich nahm den Corneille vor, und kaum hatte ich einige Stücke gelesen, als eine solche Gärung in meinem Kopfe war und ein unwiderstehlich Verlangen in mir entstand, gleich eins in dieser Art zu komponieren." – "Du wirst es doch aufgeschrieben haben", sagte Werner, "laß mich doch auch was sehen. Du bist immer so geheimnisvoll damit; wenn mir es meine Frau nicht verraten hätte, so wüßte ich gar nicht, daß du so vielerlei geschrieben hast." – "Vielleicht finde ich einmal eine Stunde", sagte Wilhelm, "wo ich leichtsinnig genug bin, dir von der Kindheit meiner Bemühungen Rechenschaft zu geben. Ich bin überzeugt, daß es tausend Schriftstellern und andern, die sich um Talente und Künste bemühten, gegangen ist wie mir. Ein Trieb jugendlicher Nachahmung führt den verwandten Geist auf gebahnte Wege, die großen Muster reizen uns an, die Anfänge sind leicht, wir lassen uns tändelnd auf einen Pfad ein, dessen Beschwerden und Länge wir dann erst bemerken, wenn schon ein Teil zurückgelegt ist. Gewohnheit, Neigung heißen uns darauf beharren, meist mit innerm Unwillen und mit dem ängstlichen Gefühl, daß wir hinter jenen, denen wir vorzulaufen gedachten, weit zurückblieben. Gib lieber den Corneille her, den Teil, wo ,Cinna’ drinne steht, und lies mir daraus einige Szenen vor."

Werner tat es, und da er die französische Verse nicht gut deklamierte, so ergriff Wilhelm endlich selbst das Buch und las mit vielem Feuer und Erhebung der Seele, so daß Werner zuletzt ausrief: "Herrlich und außerordentlich!"

"Sage mir", fuhr Wilhelm auf, "ist dir nicht auch so, müssen nicht diese Situationen jede Menschenseele gewaltig angreifen? Im ganzen so sonderbar, so einfach und schön! Es ist so groß und scheint so natürlich, man nimmt den innigsten Teil und wagt doch nicht, sich selbst in die Lage zu denken, man ist und bleibt Zuschauer und erwartet von den höhern Wesen, wie sie sich benehmen werden. Ja wenn der Autor Kraft und Saft hat, fähig ist, was wir uns allenfalls nur denken und vorstellen, lebendig hervorzuführen, wenn wir unsere Halbgötter jeden wichtigen Schritt gesetzt und fest tun sehen und eines jeden Betragen kernhaft und ganz ist in der schröcklichen Lage, wie befriedigt werden wir und wie dankbar vergnügt kehren wir zurück, wenn uns die Verlegenheiten, die geteilten Gefühle so liebreich ängstlich, so wohl zu dem Schröcklichen stimmend in unser Herz gelegt werden. Es mag nur einer nach etwas Neuem und Fremdem schnappen, oder er mag seine Brust zum Anteile hingeben, er findet bei so einem Gegenstande immer seine Befriedigung, will mich dünken. Ich bitte dich, lies das Stück ganz! lies es ja!"

"Du hast mich sehr neugierig darauf gemacht und auf seine übrigen; sind sie diesem gleich?" – "Wie ein Mann sich nicht ganz gleich, nicht ganz ungleich sein kann." – "Seine Landsleute haben ihn den Großen genannt; einige, wenn ich mich nicht irre, haben ihm diesen Ehrennamen streitig gemacht." – "Welchen er als Dichter verdient, wage ich nicht zu entscheiden; ich bewundere, was über mir ist, ich beurteile es nicht. Soviel weiß ich, ein großes Herz hatte er gewiß. Eine tiefe innere Selbständigkeit ist der Grund aller seiner Charaktere, Stärke des Geistes in allen Situationen ist das Liebste, was er schildert. Laß auch, daß sie in seinen jüngern Stücken manchmal als Rodomontade aufschlägt und in seinem Alter zu Härte vertrocknet, so bleibt es immer eine edle Seele, deren Äußerungen uns wohltun." – "Sollte man denn aber so sicher von dem Werke auf den Verfasser schließen können? Denn es ist eben keine große Kunst, im Trauerspiel edel und großmütig zu sein, ein Königreich zu verschenken, einer Geliebten zu entsagen, das Leben dranzusetzen und de gleichen Dinge mehr, die im gemeinen Leben, ich wollte wetten, ein König so gut als ein anderer von sich ablehnet. Auf den Brettern kann ein jeder seine Prinzen nach Belieben großtun lassen." – "Wirklich großtun kann einer auf dem Theater so wenig als irgendwo, wenn er nicht eine große Ader in sich hat. Ein Schriftsteller mit einer kleinen, engen Seele wird, wenn er erhabene Gegenstände bearbeitet, das Große immer am unrechten Orte suchen, er wird gleich übertrieben und albern werden, und es wird’s ihm kein Mensch zugute halten, dagegen das wirklich Edle immer Beifall und Bewunderung abzwingt. Wie uns die grausamen Leidenschaften zum Entsetzen und traurige Schicksale zum Mitleiden hinreißen, Falschheit uns verachten heißt, übermütiger Mißbrauch der Gewalt unsern Haß aufreizt und so jede der mannigfaltigen Leidenschaften, die uns bewegen, einzeln oder verbunden! Gewiß, wer von allen diesen das hohe Menschengefühl hat, und wen die Natur zum Dichter machte, daß er diese Wirkung als lebendig hervorbringen kann, der wird durch viele Zeiten durch die menschliche Seele erschüttern und bewegen."

Werner suchte nun das Gespräch, das ihm für Wilhelms Gesundheitsumstände zu lebhaft wurde, zu verändern und gedachte noch zum Schluß etwas von den eignen Werken des jungen Dichters zu erhaschen; allein sosehr er sich auch bemühte, war es diesen Abend unmöglich, in diese Geheimnisse zu dringen. Zu voll von dem Bilde Corneillens, und wenn man will, vom Ideale Corneillens, das sich Wilhelm gebildet hatte, sah er seine Arbeiten als Sudelpapiere der Schulübung an, die, wenn sie der Knabe vollgeschrieben hat, gewöhnlich zu Wickeln verschnitten werden. Er fühlte einen Abstand, den ihm sein Gefühl zu überspringen nicht erlaubte. Ein seltner Fall bei einem Schriftsteller, ja bei einem Menschen überhaupt. Die Natur hat uns meist so glücklich mit uns selbst verwebt, daß wir nicht leicht einen andern, seine Handlungen und Besitzungen ansehen, ohne auf uns zurückzukehren, um das Unsere, wäre es auch verhältnismäßig noch so klein, mit dem angenehmsten Vorgefühl zu genießen. Gütige Mutter, wie weise und liebreich hast du die kleine, enge Haushaltung eines jeden sparsam reichlich ausgestattet!

Werner stund endlich ab, besonders da er merkte, sein Freund hatte sich in der Lebhaftigkeit des Gesprächs zu sehr angegriffen. Er versparte es auf ein andermal, wo es ihm auch gelang.

Drittes Kapitel

An einem der folgenden Tage überraschte er Wilhelmen, der beschäftigt war, eine Menge Papiere auseinanderzukramen, wovon er einen Teil bei Werners Ankunft versteckte. Es waren Briefe, Billetts von Marianen und andere Zettelchen, die sich auf sie bezogen. "Hast du etwas von deinen Schriften hier bei der Hand", sagte der Hereintretende, "so zeige mir’s." – "Wenn du es nicht Schriften nennen willst, sondern dem Kinde den rechten Namen gibst, will ich es wohl über mein Herze bringen, mich vor dir lächerlich zu machen."

Er schob indes die offen liegenden Blätter zusammen, und es war ihm lieb, sie auf eine gute Weise wegzubringen; denn es beunruhigte ihn oft der Gedanke, Werner möchte darauf bestehen, daß alles übrige Andenken Marianens vertilgt und die Reste von Briefen, die er vermuten konnte, dem Feuer aufgeopfert werden sollten. Und so ward ein Pack herbeigebracht, der, aufgebunden, in viele einzelne starke und schwache Hefte, Bogen und Blätter auseinanderfiel.

Ach, dachte Wilhelm bei sich, wie er die Schnur aufzog, so hoffte ich euch nicht wieder zu öffnen! Wie verändert ist mein Schicksal, seit ich euch zusammenband! Denn er hatte diese Sammlung mit denen übrigen Sachen, die er auf seiner Flucht mitnehmen wollte, beiseite gelegt. "Rühre mir nichts an", rief er, als der Neugierige zugreifen wollte. "bringe nichts in Unordnung. Du stellst dir wohl nicht vor, daß diese Papiere in chronologischer Reihe hintereinander liegen." – "Das ist wohlgetan, man kann desto besser sehen, wie man zunimmt."

"Ich fürchte nur, daß weder mich in der Folge noch jemanden die Schattierungen unterhalten werden. Zuvörderst muß ich dich vorbereiten, daß du viele Plane, viele einzelne Szenen, angefangene Stücke finden wirst und fast nichts geendigt." – "Wunderbar! ist es dir auch gegangen wie vielen jungen Schriftstellern, von denen ich gehört habe?" – "O daß es allen so ginge! Wir würden so viele Werkchens, die immer unfertig bleiben, wenn sie auch geendigt sind, nicht zu sehen bekommen; es würde nicht jeder, durch das kindische Beispiel gereizt, dem Gefühle, ähnliche Albernheit hervorbringen zu können, unmäßig nachhängen, und unsere Literatur würde nicht einer Schenke gleich werden, wo der Geringste mit lauter Zufriedenheit schwelgt, weil er immer seinesgleichen findet, der mit ihm anstößt. Also zuvörderst hier einige Aufzüge und Szenen im Geschmacke des Plautus." – "Des Plautus? Wie kömmst du an den?" – "Wir explizierten ihn bei dem Magister, denn ich sollte auch ein wenig Lateinisch lernen. Er war der erste Theaterdichter, den ich zu sehen bekam, und somit wurde er auf der Stelle nachgeahmt. Von unsern Puppenspielen, von unsern episch-dramatischen Impromptus, woran nichts als der Dialog fehlte, habe ich dir schon sonst erzählt." – "Lies mir etwas." – "Gott bewahre mich, es ist abscheulich. Du kannst denken: da ist ein mürrischer, geiziger Alter, der betrogen wird, ein Bedienter, der betrügt, ein verliebter junger Mensch, der sich nicht zu helfen weiß. Du kannst dir vorstellen, daß der Alte nicht alt, der Junge nicht jung, der Knecht nicht knechtisch ist, sondern daß sie ohngefähr das Gröbste von dem tun und sagen, was sie Plautus tun und sagen läßt."

Wilhelm hätte hinzusetzen können: Der Lehrling in jeder Kunst bildet im Anfange nur von dem Muster nach, was er an ihm sieht, und darin ist er um einige wenige Grade von vielen Meistern unterschieden; denn sie bilden auch nur meist ihren Vorgängern und, wenn’s hoch kommt, der Natur nach, was sie an ihr sehen. Wie selten tritt einer auf, der aus eigner innrer Kraft das Wahre verherrlicht und das Fürtreffliche hervorbringt.

"Indessen mußte ich immer", fuhr Wilhelm fort, "leiden, daß in meinem Kopfe allerlei Figuren ihr Spiel fortspielten. Denn es war gar nicht willkürlich; alles, was ich erzählt las oder erzählen hörte, ging auch gleich in mir vor, und je mehr ich in der Folge Theaterstücke verschlang, desto mehr baute, wenn ich so sagen darf, sich ein Theater in meinem Kopfe auf, in dessen Grenzen alles geschah. Hier siehst du, mein Freund, schon Musterstücke der folgenden Zeiten!"

"Wie! Was! Verse! Schäfernamen!"

"Alexandriner in aller Form und heroische Schäferspiele; dies war eine Gattung, die mich übermäßig ergötzte. Du kannst es daraus sehen, daß zwei völlig fertig sind und unvollendet eine Schar folgt." – "Du mußt mir sie zum Scherze mitgeben." – "Sehr gerne, denn du wirst über den Ernst, womit alles behandelt ist, recht herzlich lachen. Meine Hauptpersonen, aus fürstlichem Stamm geboren, durch seltsame Schicksale ihres Reiches verlustig, irrend und unbekannt, halten sich in den stillen Wohnungen gastfreier Hirten auf. Welch ein Kontrast in Leidenschaften und Charaktern! Welcher Reichtum an Bildern! Welche Abwechslungen von Erzählungen und Beschreibungen! Gewiß, diese Gattung ist recht für den Autor als Kind gemacht, der gerne alles überall anbringt. Was die Tragödie Hohes und Rührendes, was das Lustspiel Ergötzendes, was das Schäferspiel Liebliches hat, kannst du hier in einem bunt zusammenraffen." – "Sollte man denn nicht in dieser Art gute Stücke machen können?" – "Gar wohl, und man hat ihrer auch schon, nur meine waren’s nicht. Ein Knabe, der sich selbst nicht kennt, der von den Menschen nichts weiß, der von den Werken der Meister allenfalls nur sich zueignet, was ihm gefiel, was will der dichten?" – "Wo nahmst denn du nur die vielen Sachen her?" – "Woher? Aus meiner Einbildung, die wie ein lebendiges Rüsthaus von Puppen und Schattenbildern war, die sich immer durcheinander bewegten. Wie Liebhaber des Kartenspiels nicht müde werden, mit wenigen Blättern gegeneinander zu streiten, und sich an den mannigfaltigen Verbindungen ergötzen, in denen der aufgestempelte oder willkürlich angenommene Wert dieser Helden einander bald fürchterlich wird, bald wieder unter andern Umständen der Held dem Knechte zu Fuße liegt, so spielte ich auch meine wenige Figuren unaufhörlich durcheinander. Was in frühern Zeiten bloß Puppe, Theater, Maske gewesen war, wurde nun mit einem sanften Geiste angehaucht, die Gestalten wurden schöner, reizender, und du kannst denken, daß es der Geist der Liebe war, der hier auch seine belebende Kraft zeigte." – "Davon werde ich ja die Spuren in diesen Heften finden?" – "O ja, auf jeder Seite, und den Verfasser dazu. Ich fing nun an, mich selbst zu fühlen, mir Märchen über mich selbst zu erzählen, und nun ging es damit ins weite Land. Es hinderte mich nichts, so schön, so gut, so großmütig, so leidenschaftlich, so elend, so rasend zu sein, als ich wollte. Ich fädelte die Abenteuer nach Belieben ein und löste sie, wie mir gut deuchte. Und da ich mich reiner Verse befleißigte, so hatte ich ein doppelt und dreifach Vergnügen, wenn es fertig war, nur daß ich mich über der Arbeit meistens schon wieder klüger deuchte, .als ich mich hielt, wie ich den Plan machte, und so immer manches große Veränderungen erlitt und die meisten Unternehmungen gar scheiterten."

Werner hatte indes in die Stücke gesehen und einige Tiraden gelesen. "Die Verse sind nicht übel", sagte er. "Das dachte ich damals auch; da ich niemand hatte, der mir ein Wort drüber sagen konnte, so war mir Gottscheds Bühne der Maßstab, wornach ich meine Stücke maß, und mir kamen sie immer interessanter dem Inhalte nach und an Versen ebenso wohlklingend vor als jene, und damit wußte ich mir viel, weil ich in meiner Unerfahrenheit meine Muster alle für klassisch hielt." – "Hat dir niemand an diesen Versen geholfen?" – "Wer sollte? und an Versen kann man niemand helfen, das war mir das Geringste! Von Jugend auf hab ich in jedem Silbenmaße, das ich hörte oder las, gleich fortreden oder -schreiben können. Der Model war wohl in meinem Kopfe, wenn nur die Masse etwas nutze gewesen wäre, die ich hineinzugießen hatte." – "Das wird nun schon kommen, wenn du fortfährst, dich in müßigen Stunden zu üben." – "In müßigen Stunden", sagte Wilhelm und seufzte tief. "O ja", versetzte Werner, "denn du wirst immer noch Zeit finden, da du weitläufige Gesellschaften nicht liebst und nicht aufs Kaffeehaus gehst." – "Wie irre bist du, lieber Freund, wenn du glaubst, daß eine solche Arbeit, deren Vorstellung die ganze Seele füllt, könne in unterbrochnen, zusammengegeizten Stunden hervorgebracht werden. Nein, der Dichter muß ganz sich, ganz in seinem geliebten Gegenstande leben. Er, der vom Himmel inwärts auf das köstlichste begabet ist, der einen unzerstörlichen Reichtum von der Natur erhalten hat, er muß auch inwärts ungestört mit seinen Schätzen in der Glückseligkeit leben, die ein Reicher vergebens mit aufgehäuften Gütern um sich hervorzubringen sucht. Sieh die Menschen an, wie sie nach Glück und Vergnügen rennen; ihre Wünsche, ihre Mühe, Geld und Zeit jagen rastlos, und wornach? Nach dem, was der Dichter von der Natur erhalten hat, nach dem Genuß der Welt, nach dem Mitgefühl sein selbst in andern, nach einem harmonischen Zusammensein mit vielen oft unvereinbaren Dingen. Was beunruhigt die Menschen, als daß sie ihre Begriffe nicht mit den Sachen verbinden können, daß der Genuß sich ihnen unter den Händen wegstiehlt, daß das Gewünschte zu spät kommt und daß alles Erreichte auf ihr Herz nicht die Wirkung tut, welche die Begierde sie in der Ferne ahnden ließ. Gleichsam wie einen Gott hat das Schicksal den Dichter über dieses alles hinübergesetzt. Er sieht das Gewirre der Leidenschaften Familien und Reiche zwecklos bewegen, er sieht die unauflöslichen Rätsel der Mißverständnisse, denen oft nur ein einsilbiges Wort zur Entwicklung fehlt, unsägliche und unherstellbare Verwirrungen verursachen. Er fühlt das Traurige und das Freudige jedes Menschenschicksals mit; wenn der Weltmensch in einer abzehrenden Melancholie über großen Verlust seine Tage hinschleicht oder in ausgelassener Freude seinem Schicksale entgegengehet, so schreitet die empfängliche, leichtbewegliche Seele des Dichters wie die wandelnde Sonne von Nacht zu Tag, mit leisen Übergängen stimmt seine Harfe zu Freud und Leid. Eingeboren auf dem Grund seines Herzens wächst die schöne Blume der Weisheit hervor, und wenn die andern wachend träumen und von ungeheuren Vorstellungen aus allen ihren Sinnen geängstiget werden, so lebt er den Traum des Lebens als ein Wachender, und das Seltenste, was geschieht, ist ihm zugleich Vergangenheit und Zukunft. Und so ist der Dichter zugleich Lehrer, Wahrsager, Freund der Götter und der Menschen. Wie willst du, daß er sich mit einem niedrigen Gewerbe besudle, er, der wie ein Vogel gebaut ist, um die Welt zu überfliegen, in den Lüften zu nisten und seine Nahrung von Knospen und Früchten, einen Zweig mit dem andern leicht verwechselnd, zu nehmen, er sollte zugleich wie der Stier am Pfluge ziehen, wie der Hund sich auf eine Fährte gewöhnen oder vielleicht gar, an die Kette geschlossen, einen Meierhof durch sein Bellen sichern?"

Werner hatte mit Verwunderung zugehört und, wie man sich leicht denken kann, wenig Realität in diesen Worten gefunden. "Wenn nur auch die Menschen", fiel er ihm ein, "wie die Vögel gemacht wären und, ohne daß sie spinnen und weben, ein holdseliges Leben in Genuß zubringen könnten! Wenn sie nur auch bei Ankunft des Winters sich so leicht in ferne Gegenden begeben könnten, dem Mangel auszuweichen und sich vor dem Froste zu sichern!"

"So haben die Dichter in Zeiten gelebt, wo die Natur noch ehrwürdiger war, und so sollten sie immer leben. Genüglich in ihrem Innersten ausgestattet, bedurften sie wenig; die Gabe, schöne Empfindungen, herrliche Bilder den Menschen in den süßten, stimmenden Worten und Melodien mitzuteilen, bezauberte von jeher die Welt und war für sie ein reichliches Erbteil. An der Könige Hofe, an den Tischen der Reichen, vor den Türen der Verliebten horchte man auf sie, indem sich das Ohr und die Seele für alles andre verschloß, wie man sich selig preist und entzückt stille steht, wenn aus den Gebüschen, durch die man wandelt, die Stimme der Nachtigall gewaltig rührend hervorruft! Sie fanden eine gastfreie Welt, und ihr niedrig scheinender Stand erhöhte sie nur so viel mehr. Der Held lauschte ihren Gesängen, und der Überwinder der Welt huldigte einem Dichter, weil er fühlte, daß ohne diesen sein ungeheures Dasein nur wie ein Sturmwind vorüberfahren würde; der Liebende wünschte sich sein Verlangen und seinen Genuß so tausendfach und so harmonisch, als die beseelte Lippe ihn schilderte; und selbst der Reiche konnte seine Besitztümer, seine Abgötter, nicht mit eignen Augen so kostbar sehen, als sie ihm vom Glanze des allen Wert fühlenden und erhöhenden Geistes beleuchtet erschienen. Ja, wer hat, wenn du willst, Götter gebildet, uns zu ihnen erhoben, sie zu uns herniedergebracht, als der Dichter?"

Es ist schade, dachte Werner bei sich selbst, daß mein Freund, der sonst so vernünftig ist, auf diesen Punkt so ausgelassen schwärmt.

"Ja, mein Liebster", fuhr der andre fort, "einem solchen Dasein sich ausschließlich zu übergeben, welche Seligkeit! Bedenke nur, wie viele Menschen sich schon begabt glauben, wenn sie mit einiger Leichtigkeit ihre Gedanken in einem Silbenmaße vortragen, mit gefälligen Reimen zieren können, wenn man gleich sonst den Geist, der den Dichter macht, bei ihnen vermißt. Wie ängstlich wünschen Tausende diesen Vorzug, und wie vergebens arbeiten sie, ihn zu erstreben." – "Ich habe von vielen vernünftigen Leuten urteilen hören, daß mancher seine Zeit und Kräfte besser hätte anwenden können." – "Ich glaube, daß sich viele betrügen, daß man sich aber auch dafür an andern betrügt. Die angeborne Leidenschaft zur Dichtkunst ist so wenig als ein anderer Naturtrieb zu hemmen, ohne das Geschöpf zugrunde zu richten. Und wie der Ungeschickte, den man straft, meistens noch einen zweiten Fehler begeht, mit dem ernstlichen Vorsatze, das Vergangne gutzumachen, so wird der Dichter, um der Dichtung zu entgehen, erst recht zum Dichter."

"Hast du denn von Jugend auf diesen unwiderstehlichen Trieb gefühlt?" – "Das kannst du von diesen Papieren sehen, und doch ist das nur der hundertste Teil, was ich geschrieben, und der tausendste des, was ich erdacht habe. Leider hat mich mein Verlangen nicht weit geführet, und ich sehe diese Reste mit Betrübnis und Verachtung an; es ist nichts drinne, was einen Wert hätte." – "Du irrst dich hierüber vielleicht." – "O nein, ich verstehe mich wohl darauf, ich konnte mir nie lange schmeicheln, außer mit der Hoffnung. Ich hoffte, daß die Begierde meines Herzens mich dem Gegenstande meines Verlangens näherbringen sollte, und ich kann dir sie nicht groß genug beschreiben. Besonders waren meine Wünsche alle aufs Trauerspiel gerichtet, dessen Würde für mich einen unglaublichen Reiz hatte. Ich erinnere mich noch eines Gedichtes, das irgendwo stecken muß, wo die Muse der tragischen Dichtkunst und eine andre Frauensgestalt, in der ich das Gewerbe personifiziert hatte, sich um meine werte Person recht wacker zankten. Die Erfindung ist gemein, und ich erinnre mich nicht, ob die Verse was taugten; aber du sollst es sehen, um der Furcht, des Abscheues, der Liebe und der Leidenschaft willen, die darinne herrscht. Es ist kindisch und abgeschmackt und ohne Nachdenken geschrieben, desto mehr beweist es, was es beweisen soll. Wie ängstlich hatte ich die alte Hausmutter geschildert, mit ihrem Rocken im Gürtel, Schlüssel an der Seite, Brillen auf der Nase, immer fleißig, immer in Unruhe, zänkisch und haushältisch, kleinlich und beschwerlich! Wie kümmerlich beschrieb ich den Zustand, sich unter ihrer Rute zu bücken und sein knechtisches Tagewerk im Schweiße des Angesichtes zu verdienen! Wie anders trat jene dagegen auf! welche Erscheinung ward sie dem bekümmerten Herzen! Herrlich gebildet! In ihrem Wesen und Betragen als eine Tochter der Freiheit anzusehen. Das Gefühl ihrer selbst gab ihr Würde ohne Stolz, ihre Kleider ziemten ihr, sie umhüllten jedes Glied, ohne es zu zwängen, und die reichlichen Falten des Stoffes wiederholten wie ein tausendfaches Echo die reizenden Bewegungen der Göttlichen. Welch ein Kontrast! und auf welche Seite sich mein Herz wandte, kannst du leicht denken. Auch war nichts vergessen, um meine Muse kenntlich zu machen: Krone und Dolche, Ketten und Masken, wie sie mir meine Vorgänger überliefert hatten, waren ihr auch hier zugeteilt. Der Wettstreit war heftig, und du kannst dir denken, daß die Reden beider Personen kontrastierten, da man im vierzehnten Jahre gewöhnlich das Schwarze und Weiße recht gegeneinander zu malen pflegt. Die Alte redete, wie es einer Person geziemt, die eine Stecknadel aufhebt, und jene wie eine, die Königreiche verschenkt. Die warnenden Drohungen der Alten wurden verschmäht, ich sah die mir versprochne Reichtümer schon mit dem Rücken an. Enterbt und nackt übergab ich mich der Muse, die mir ihren goldnen Schleier zuwarf und meine Blöße bedeckte."

"Vergiß ja nicht, es aufzusuchen, ich bin neugierig, die beiden Frauens kennenzulernen. Was man doch in der Jugend für tolles Zeug im Kopfe hat!" – "Darf ich dir’s gestehen, mein Freund, und wirst du es nicht lächerlich finden, wenn ich dir sage, daß jene Bilder mich noch immer verfolgen, und das, wenn ich mein Herz untersuche, so ernst und noch ernster als damals. Zwar was bleibt mir Unglücklichen gegenwärtig übrig? Ach, wer mir’s vorausgesagt hätte, daß die Arme meines Geistes so bald zerschmettert werden sollten, mit denen ich ins Unendliche griff und mit denen ich doch gewiß ein Großes zu umfassen hoffte. Wer mir dieses vorausgesagt hätte, würde mich zur Verzweiflung gebracht haben, und noch jetzo, da das Gericht über mich ergangen ist, jetzt, da ich die verloren habe, die anstatt jener Gottheit mich zu meinen Wünschen hinüberführen sollte, was bleibt mir übrig, als mich den bittersten Schmerzen zu überlassen? O mein Bruder", fuhr er fort, "ich leugne es nicht, sie war mir bei meinen heimlichen Anschlägen wie der Kloben, an den eine Strickleiter befestigt ist. Gefährlich hoffend schwebt der Abenteurer in der Luft, das Eisen bricht, und er liegt zerschmettert am Füße seiner Wünsche. Es ist auch für mich kein Trost mehr, keine Hoffnung! Ich mochte", rief er aus, indem er aufsprang, "alle diese unglückselige Papiere in Stücken zerreißen und ins Feuer werfen." Er faßte in seiner Wut ein paar Hefte an, zerriß sie und warf sie an den Boden. Werner erschrak und hielt ihn kaum mit Gewalt ab. "Laß mich", sagte Wilhelm, "was sollen diese elende Blätter! Für mich sind sie weder Stufe noch Aufmunterung mehr; sollen sie übrigbleiben, um mich bis ans Ende meines Lebens zu peinigen? Sollen sie vielleicht einmal der Welt zum Gespötte dienen, anstatt ihr Mitleiden und Schauer zu erregen? Weh über mich und über mein Schicksal! Nun versteh ich erst die Klagen der Dichter, der aus Not weise gewordenen Traurigen. Bisher hielt ich mich für unzerstörbar, für unverwundlich; und ach! und nun sehe ich, daß ein schwerer früher Schade nicht wieder ausgewaschen, nicht wieder hergestellt werden kann; ich fühle, daß ich ihn mit ins Grab nehmen muß, er kann und soll keinen Tag des Lebens von mir weichen, der Schmerz, der mich noch zuletzt umbringt, und auch ihr Andenken soll bei mir bleiben, mit mir leben und sterben, das Andenken der Unwürdigen – ach, mein Geliebter! wenn ich von Herzen reden soll, der gewiß nicht ganz Unwürdigen! Ihr Stand, ihre Schicksale haben sie tausendmal bei mir entschuldigt. Ich bin zu grausam gewesen, du hast mich in deine Kälte, in deine Härte unbarmherzig eingeweiht, meine zerrütteten Sinnen gefangengehalten und mich verhindert, das für sie und für mich zu tun, was ich uns beiden schuldig war. Gott weiß, in welchen Zustand ich sie versetzt habe, und erst nach und nach fällt mir’s aufs Gewissen, in welcher Verzweiflung, in welcher Hülflosigkeit ich sie verlassen habe. War’s nicht möglich, daß sie sich entschuldigen konnte? war’s nicht möglich? Wieviel Mißverständnisse können die Welt verwirren, wieviel Umstände können dem größten Fehler Vergebung erflehen! Wie oft denke ich mir sie, in der Stille für sich sitzend, auf ihren Ellenbogen gestützt; ,das ist’, sagt sie, ,die Treue, die Liebe, die er mir zuschwor! mit diesem unsanften Schlag das schöne Leben zu endigen, das uns verband!’ " Er brach in einen Strom von Tränen aus, indem er sich mit dem Gesichte auf den Tisch warf und die übereinanderliegenden Papiere benetzte. Werner stand in der größten Verlegenheit dabei. Er hatte sich diesen raschen Übergang der Leidenschaft nicht vermutet. Etlichemal wollte er ihm in die Rede fallen, etlichemal das Gespräch woandershin lenken; vergebens! er widerstand dem Strome nicht! Auch hier übernahm die ausdauernde Freundschaft wieder ihr Amt. Er ließ den heftigsten Anfall des Schmerzens vorüber, fing an, die Papiere zu ordnen, legte sie zusammen, machte ein Zeichen, wo sie geblieben waren, steckte einige Hefte zu sich und ließ sich von Wilhelmen versprechen, daß er sie wohl aufbewahren und bei Gelegenheit weiter mit ihm durchgehen wolle. Und so schieden sie wieder voneinander. Wilhelm ins stille Nachgefühl des Schmerzens versenkt und der andre erschröckt von dem neuen Ausbruch einer Leidenschaft, die er lange bemeistert und durch seinen guten Rat und Zureden überwältigt glaubte.

Viertes Kapitel

Ihr tiefen Schatten, heißet mich willkommen,
Hier fühlt die Brust sich weniger beklommen,
Du stiller Teich, du Baum, den ich erkor,
Gewähret mir die Ruh, die ich verlor.

O Stamm, der du, was Menschen auch empfanden,
So lange hier in fester Ruh gestanden,
Rings um dich her der Kinder Schar gezeugt,
Der du, wie wir, dem Sturm dich jung gebeugt,
Befestigt nun mit männlich starken Seiten
Dem Wetter stehst und der Gewalt der Zeiten:
O sprich mir Mut, du dauerhafter, zu,
Lehr meine Brust dem Unglück stehn wie du.

O Lüftchen, das die stille Welle kräuselt,
Das mir um Stirn und Locke freundlich säuselt
Von Ast zu Ast mutwillig wechselnd fliegt,
Mit einem Hauch viel tausend Zweige biegt:
O kannst du mir auf deinen stillen Schwingen
Nicht auch den Trost in meinen Busen bringen?

Doch auch vergebens such ich hier mein Glück,
Ich floh den Hof, es blieb der Schwarm zurück.
Dort ließ ich sie, in wohl verwahrten Mauren
Mit Freundes Blick einander aufzulauren,
Ließ das Gefolg des Reichtums und der Macht,
Die Schmeichelei, die unbequeme Pracht,
Und dachte, der Natur hier übergeben,
Mit mir allein, mir selber aufzuleben;
Doch leider fühlt mein Herz, nun völlig frei,
Die alte Qual hier doppelt wieder neu.

Unsere Freunde hatten an einem schönen Frühlingstage, begleitet von Wilhelms Schwester, nun Werners Frau, ihren Spaziergang nach einer Gegend gerichtet, welche sie beide von Jugend auf immer angezogen hatte. Sie waren an einen Ort gelangt, wo sie sonst als Kinder miteinander zu spielen und als Jünglinge mit Hoffnungen der Zukunft sich zu unterhalten pflegten. Unter einer uralten Eiche setzten sich die Ehleute nieder und genossen der schönen Aussicht. Wilhelm ging auf und ab, und vor den Gegenständen, die ihn umgaben, rezitierte er jene Stelle mit großer Wahrheit; wie er denn meist für jede Gelegenheit mehr oder weniger Verse eines Schauspieles oder sonst eines Gedichtes in seinem Kopfe in Bereitschaft fand und, wenn er allein war oder wenn es sich vor der Gesellschaft schicken wollte, sich nicht zurückhielt; wie er denn auch oft mechanisch, durch eine bloße Wortreminiszenz einen Teil seines Vorrates auszukramen bewegt ward.

Werner erinnerte sich sogleich, diesen Monolog in einem der heroischen Schäferstücke gelesen zu haben, die ihm sein Freund neulich anvertraut hatte. Zeither wagte er es nicht, davon anzufangen, weil er die Rückkehr jener leidenschaftlichen Schmerzen befürchtete; nunmehr aber, da er seinen Freund durch die bedenklichen Worte des Schlusses der Gefahr seiner Lieblingsempfindung ganz nahe ausgesetzt sah, so wußte er in der Geschwindigkeit kein Mittel, ihn davon zu entfernen, als daß er von den Stücken selbst anfing und den Bewegten auf ein ruhiges Gespräch zu leiten suchte. Er betrog sich darinne nicht, es gelang ihm; denn nicht immer tun dieselben Sachen dieselben Wirkungen; die Veränderungen der Lagen und Umstände verwandeln einen Gegenstand oft ganz und gar.

"Ich habe", sagte er, "diese Stelle schon in der ,Königlichen Einsiedlerin’ mit Vergnügen gelesen und mir einen Teil davon gemerkt." – "Ich möchte mich", versetzte Wilhelm, "weder einer Unbescheidenheit noch einer übertriebenen Demut schuldig machen. Die Stelle mag leidlich sein, wenn ich nur sie und mehrere dergleichen an denen Plätzen, wo sie stehen, verantworten könnte. Dies ist ein Fehler, in den man so leicht fällt, daß man sich in elegischen Empfindungen ausbreitet, daß man sich mit Beschreibungen und Gleichnissen aufhält, die doch eigentlich der Tod des Dramas sind, welches allein nach seiner immer fortgehenden Handlung geschätzt werden kann. Dieser Fehler geht fast durch alle Stücke, die ich bisher gemacht, und deswegen werden sie, wenn auch erträgliche Stellen drinne sein sollten, immer von den Meistern der Kunst verworfen werden." – "Was mich betrifft", sagte Werner, "so sind mir schöne Stellen das Liebste an einem ganzen Stücke, denn die merkt man sich und kann sie zu seinem Nutzen ziehen." – "Ich habe nichts dagegen, wenn sie den Fortschritt der Handlung nicht hindern, vielmehr bin ich überzeugt, daß auch ein gutes Stück viel kräftige Stellen haben, ja, wenn du willst, aus trefflichen Stellen bestehen kann, wenn sie sich gleich nicht einzeln in Stammbücher schreiben lassen. Ich war selbst von jener Krankheit, die im Publiko so allgemein ist, dahingerissen, und ich habe meine Bekehrung nicht mir selbst, sondern meinem vortrefflichen Freunde R. zu danken, dem ich einige von meinen Sachen wies. Wie glücklich wäre ich gewesen, wenn er sich zu meinem Vorteile länger hier aufgehalten hätte. Was ist zum Exempel in dem Stücke, dessen du erwähnest, aus dem ich eben die Stelle hersagte, Vorzügliches? Der bei dem Menschen allgemeine Wunsch, sich aus verwirrenden Verhältnissen herauszusehnen und unter harmlosen Bäumen ein ganzes Leben zu genießen, wie uns manchmal ein Sommerabend gegönnt wird! In wieviel hundert Gedichten ist dieses nicht schon gut oder schlecht vorgetragen worden? Und nimm die Verse weg, die diese Gefühle schildern und die allenfalls eine leidliche Elegie würden gegeben haben, nimm vielleicht noch einige Gleichnisse aus, die ein episches Gedicht zieren dürften, so ist das übrige entweder gemein und kindisch oder unwahr und übertrieben. Wie willst du nun, daß ich mir einigermaßen Gutes von dem Stücke denken soll?" – "Der Autor, merk ich wohl, ist selten ein unparteiischer Richter seiner eigenen Sachen, er tut sich bald zuviel, bald zuwenig. Ich wollte nur, das Stück wäre gedruckt oder würde aufgeführt; wir würden sehen, was es für einen Beifall finden sollte." – "Dafür bewahre mich Gott", fuhr Wilhelm auf, "daß ich Gelegenheit gebe, das Publikum zu verderben. Dieses möchte ich ebensowenig, als von ihm verdorben werden, und meistenteils geschieht doch das, wie ich merke, durch wechselseitige Ehre und Nachgiebigkeit, die sie einander bezeigen. Wenn ich jemals öffentlich auftreten sollte, wünschte ich freilich zu gefallen, ja allgemein zu gefallen; denn ich habe die Schriftsteller meistens nicht vor aufrichtig oder vor sehr eingebildet gehalten, die nur bloß Kennern ihre Sachen widmen und alle diejenigen, denen sie nicht gefallen, unter die Herde der Nichtkenner verwiesen. Das Gute muß freilich von den Verständigen erst geprüft und, wenn ich sagen darf, erst gestempelt werden; es muß aber auch, wenn es menschlich ist, eine allgemeine glückliche Würkung tun, vorzüglich auf diejenigen, die nicht urteilen können, Und ich glaube, der hat den höchsten Punkt erreicht, der diese beiden Stimmen, welche zusammen erst, wenn ich hier das lateinische Sprüchwort anwenden darf, die Stimme Gottes ausmachen, auf sich vereinigt.

Er darf mit einiger Selbstzufriedenheit an sich denken, daß sich zu seiner Wahl die Edeln und das Volk vereinigen. Wenn man nur früher auf das Rechte geleitet würde! Denn eben durch diese und andere dergleichen Fehler habe ich alle Mühe, die ich auf meine Trauerspiele gewendet, verloren, die denn auch, wie mir mein gelehrter Freund die Augen öffnete, außer einigen wenigen Stellen, die aber doch nichts weniger als neu und erhaben sind, meistenteils von falsch nachgeahmter Theaterleidenschaft strotzen, die Backen mit allgemeinen Sittensprüchen aufpausen und, darüber sich selbst gleichsam vergessend, auf ihrem Wege sehr ungeschickt hin und wider stolpern und sich zuletzt nicht mit einem Ausgange, mit einer Entwicklung, sondern mit einem Fall und Sturz endigen."

"Du sprichst ja als wie von einer großen Anzahl, sind es denn so viele? Man hat dir nicht angemerkt, daß du so fleißig warst." – "Wo ich ging und stund, machte ich Plane, und wo ich mich beiseite stehlen konnte, schrieb ich Verse. Ganz geendigt findest du nicht über drei bis vier Stücke." – "Ist das nicht genug?" – "Mehrere aber zum größten Teil, und, wie ich dir schon gesagt habe, angefangen eine ganze Schar."

Die Schwester, welche bisher einer Magd, die einige Erfrischungen brachte, das Körbchen und die Flasche abgenommen und in das Gras zurechtgesetzt hatte, mischte sich hier auch in das Gespräch und fing mit einiger Lebhaftigkeit, wie eins, das lange zugehört, ob es gleich auch etwas zu sagen gehabt hätte, zu ihrem Manne an: "Es ist wirklich schade, daß er alles hat stecken lassen; denn ich kann dir versichern, es waren recht schöne Stücke, und ich habe mein Lebtag so keine spielen sehen. Ich schrieb sie ihm gerne ab und merkte mir immer dabei die Stellen, die mir am besten gefielen." – "Was für Helden wähltest du dir?" sagte Werner. – "Du wirst dich wundern", versetzte der andere darauf, "ob es gleich ganz natürlich ist, daß ich mir sie aus der Bibel aufsuchte." – "Aus der Bibel." rief jener, "das hätte ich mir am wenigsten erwartet." – "Und doch", sagte Wilhelm, "ist es ganz natürlich. Die erste Geschichte, die unsere jugendliche Aufmerksamkeit reizt und in Verwunderung setzt, erzählt uns von jenen heiligen Männern, an welchen Gott einen besondern Anteil zu nehmen geruhte. Wir hören von ihnen gleichsam als von unseren eigenen Stammvätern sprechen, und die vorzüglichsten Männer der vorzüglichsten Nation müssen für uns die ersten in der Welt werden. Wir untersuchen nicht, wie interessant ihre Handlungen sind, sondern die Handlungen sind uns merkwürdig, weil sie von ihnen erzählt werden." – "Du sagtest", fiel ihm Werner ein, "daß einige von diesen Stücken fertig geworden; was waren für Gegenstände drinne ausgeführt?" – "Laß dir es von Amelien erzählen", sagte Wilhelm und lächelte. "Dabei wirst du dich vielleicht wieder recht wundern, wenn du die Feinde des Volks Gottes als Hauptpersonen meiner Stücke auftreten siehst; ich kann dir aber versichern, es war in der rechtgläubigsten Absicht, denn die Propheten taten darinne sehr ihre Schuldigkeit und sagten ihnen vorneherein derb die Wahrheit; schröckliche Träume, Ahndungen regten ihre Gewissensbisse auf und ließen ihnen keine ruhige Stunde, daß sie wirklich recht matt und abgehetzt waren, als ihnen der fünfte Akt den Fang gab."

Amelie ließ nicht undeutlich merken, daß es ihr unangenehm sei, wenn der Bruder diese Sache lächerlich mache. Es sei ihm doch auch einmal bittrer Ernst drum gewesen, und ihr gefallen sie eben noch. Ihr Mann bat sie, ihm die Helden zu nennen, und zu seiner großen Verwunderung hörte er die berüchtigten Namen von Jesabel und Belsazar. "Ei, ei!" rief er aus, "eine Königin vom Fenster gestürzt! eine Hand, die aus der Wand reicht! das als theatralische Gegenstände zu denken, dazu gehört viel Mut der Einbildung."

"Es ist mir lieb", sagte Wilhelm, "daß dir das Abgeschmackte sogleich auffällt. Noch mehr wird es dich wundern, wenn ich dir sage, daß ich eben darum diese Geschichten wählte. Sei versichert, es geht vielen Theaterschriftstellern so. In einem Roman, in einer Geschichte ist etwas merkwürdig, und sie meinen gleich, es müsse so vorgestellt werden und gebe auch Stoff zu vier Akten voraus, ob es gleich so wenig zum Drama paßt als der Salto mortale meiner Königin und die drohende Wunderhand." – "Wie ums Himmels willen", sagte der Schwager, "hast du diese Gegenstände behandelt?" – "Vielleicht glaubst du mir kaum, wenn ich dich versichere, daß sie ganz mit den Regeln und mit allem theatralischen Anstande ausgeführet wurden." –,,Du mußt sie lesen", fiel die Schwester ein, "denn er sagt dir doch sonst nicht das Rechte." – "Zuvörderst muß ich dir nur gestehen", fuhr Wilhelm fort, ohne sich an ihre Einwendung zu kehren, "daß mich die Spekulation einer besondern Todesart auf das Sujet von der Jesabel brachte. Ich sah, daß alle meine Vorgänger sich die künstlichste Mühe gegeben hatten, mit Dolch und Gift und andern schädlichen Werkzeugen auf das mannigfaltigste zu hantieren, so daß dem Nachfolger fast keine Kombination mehr übrigblieb. Um desto mehr fiel mir der Sturz in die Augen, der das Leben einer berüchtigten Königin endigte." Werner schlug wider seine Gewohnheit in ein lautes Lachen aus und rief: "Ich begreife nicht, sollte sie denn wirklich von oben heruntergeworfen werden, wie man es in Merians Kupferbibel zu sehen kriegt?" – "Wie kannst du dir einen solchen Puppenspielstreich von einem geübten Schriftsteller denken! Nein, meine Sachen sollten vor dem besten Geschmack ausführbar sein. Der Schauplatz ist in einem großen Saal, von da er sich nicht wegwendet, und in dem fünften Akt, wo Jesabel vergebens den Überwinder durch erkünstelte Reize und Schmeicheleien zu bewegen, durch Drohungen zu erschüttern sucht, endigt der Held in gerechtem Eifer mit Vorwürfen und Verwünschungen und schneidet ein sehr wohlgeführtes Gespräch ziemlich rittermäßig kurz ab, indem er der Wache befiehlt, sie herabzustürzen. Diese greift zu – und der Vorhang fällt." – "bravo!" rief Werner, "das war gut ausgedacht." – "Mir war nur bange", versetzte Wilhelm, "es möchte einmal bei einer Vorstellung aus Versehen der Vorhang nicht heruntergehen, wodurch denn freilich die ganze Wirkung des Trauerspiels sich in ein Gelächter würde aufgelöst haben." – "Du wirst gewiß recht prächtige Stellen in dem Stücke finden", sagte die Schwester zu ihrem Manne, "und die Königin ist so gottlos, daß man ihr alles Übel gönnt." – "Nicht wahr, Amelie", sagte Wilhelm, "du hast es ihr auch besonders übelgenommen, daß sie noch Ansprüche auf einen jungen König machte, den du allenfalls selbst nicht verschmäht hättest?" – "Nun aber Belsazar!" fiel Werner ein. "Den laß ich mir gar nicht nehmen", sagte die Schwester. "Es sind so schöne Sachen drin, die ich mir alle auswendig gemerkt habe." – "Gib mir nur einen Begriff davon", sagte Werner. "Meine Helden", versetzte Wilhelm, "waren gewöhnlich jung, weil ich nichts interessanter wußte als die Jugend, in der ich mich selbst fühlte, und so war auch mein König Belsazar ein feiner junger Herr." – "Erinnerst du dich noch", sagte die Schwester, "was der fremde Herr, dessen Geschmack du so sehr rühmst, auf einem Spaziergange sagte, als er den Morgen das Stück gelesen hatte?" – "Ich bin überzeugt", versetzte Wilhelm, "daß er es aus schonender Güte, um mich nicht ganz niederzuschlagen, gesagt hat. Er behauptete, der junge König sei gut geschildert. Eigentlich ist es ein Mensch, deren es viele in jedem Stande gibt. Er will das Gute, hat ein Gefühl für Rechtschaffenheit und Tugend, eine dunkele, unbehagliche Ehrfurcht vor dem strengen Gotte der Hebräer, einen bequemen, hergebrachten Dienst seiner eignen Götter, leichtsinnig über sein Reich, beschäftigt durch seine Leidenschaften, eifrig bei Festen und Gelagen, am liebsten in der Zerstreuung, wozu seine Hofleute das Ihrige willig beitragen." – "Nun, das klingt so übel nicht", sagte Werner. "Höre nur einmal einen Monolog, womit der König den zweiten Akt anfängt", sagte Amelie, "ich kann ihn auswendig." – "Rezitier ihn nur", versetzte Wilhelm, "ich will indes auf dem Damme spazierengehen. Ich mag nicht wohl leiden, wenn man mir meine Sachen vorrezitiert." – "Wie würde dir es gehen, wenn sie aufgeführt würden?" – "Ich weiß nicht, das würde sich finden, verlegen würde mich’s auf alle Fälle machen." Und so ging er von ihnen auf die Seite. "Du denkst dir", sagte Amelie, als er weg war, "daß es des Königs Geburtstag ist, daß in der Nacht die Verschwornen den ersten Akt eröffnen und sich, da der Tag graut, entfernen. Die Sonne gehet auf, der König, aufgeweckt von dem Trompeten- und Paukenschall, der seiner Stadt das Fest verkündigt, reißt sich aus den Armen einer Geliebten und übersieht von der Terrasse die Herrlichkeit Babylons. Auch bemerke ich noch, daß ein Verschworner im vorhergehenden Akte Belsazars Furcht vor dem Donnerwetter mit Verachtung erwähnt hat."

Fünftes Kapitel

Welch schöner, hoher Tag verdrängt die süße Nacht,
Weckt mich vom Schlummer auf? Ein Tag der Lust und Pracht!
Die Liebe hielte mich in sanftem Arm gebunden,
Nun ruft die Freude mir zu neuen, goldnen Stunden;
Von Jubel tönt die Stadt, es tönet das Gefild
Im Morgensonnenglanz wie Memnons Zauberbild.
Ich höre Lied um Lied aus tausend Kehlen dringen,
Die ihres Königs Preis und Glück dem König singen.
Einstimmig ladet’s mich von allen Seiten ein,
Der Glücklichste des Volks, den Göttern gleich zu sein.
Laßt jede Stunde so des Lebens mir verfließen,
Was bleibt dem Wunsche mehr? ich hab’s und will’s genießen.
Rein wie der Himmel sei mein ungetrübtes Glück!
Was steigst du Wolke dort? Verbirg dich meinem Blick!
Wie? soll die Herrlichkeit des Fests mir Einzgen prangen
Und tief in meiner Brust des Donners Ahndung bangen?
O schwaches Menschenherz, o leicht gefangner Geist,
Du schwillst, du steigst empor, wie dich’s ein Schmeichler heißt.
Ein Volk auf seinen Knien kann deinen Stolz entzücken
Und sein Gehorsam dich, der du gebietst, berücken;
Und wann der Lüfte Macht nur dich entzündend schlägt,
Beugst kindisch du das Haupt, das frech die Krone trägt.
O Glück, das du dich mir, der Liebsten gleich, ergeben,
Komm auf der Morgenluft, mich freundlich zu umschweben!
In deinem Arm allein genieß ich froh und leicht,
Was die Geburt mir gab und was du mir gereicht.
Wie schweift mein Geist umher und dringt nach allen Seiten, Mein ungeheures Reich noch weiter auszubreiten,
Mit hohem Siegerschritt durch alle Welt zu gehn,
Am letzten Meere nur unwillig stillzustehn.
Und doch hat sich umsonst mein Herz so hoch erhoben,
Hier ruft’s: "Du bist nicht Herr! erkenne jenen droben!"
Dein Sklave blickt herauf, du scheinst ihm herrlich groß,
Sieh du auf ihn herab, sein Los ist auch dein Los.
Mag stolz dein golden Bild in hundert Tempeln thronen,
Du brauchst nur engen Raum, un endlich still zu wohnen.
Beherrschest du den Tag? die Freude? den Verdruß?
Es reißt die Zeit dich hin, wohin ein jeder muß.
Er nur alleine lebt, und er wird ewig leben,
Der Himmel trägt ihn kaum, fühlt unter ihm sich beben;
Im Wetter eingehüllt, tritt er mit Macht hervor,
Der Donner bringt sein Wort in mein betäubtes Ohr.
Es tönt: "Du bist ein Staub, den ich im Sturm verwehe,
Du bist, o Herrlicher, die Blume, die ich mähe."

Amelie mußte ihrem Manne verschiedene Verse zweimal vorsagen, die er sehr lobte und selbst im Gedächtnis zu behalten wünschte. Nach der Zurückkunft des Bruders fing ein Streit von neuem an, ohngefähr demjenigen gleich, den wir im vorigen Kapitel erzählt haben. Die Schwester sprach von dem Stücke mit Entzücken, Werner gab ihr im voraus Beifall, weil er vermutete, daß das Ganze so wie der Monolog geglückt sein werde.

Wilhelm hatte viel daran auszusetzen, und weil ihm, da er sprach, viele Sachen gegenwärtig waren und er ein Resultat mancher Betrachtungen, welche die andern nicht selbst gemacht hatten, behauptete, da ihm vertrauliche Werke der Dichtkunst vor der Seele standen, mit denen er die seinigen verglich, und als ein Künstler von den innern Federn, die ein Stück in Bewegung setzen, mit Leuten sprach, die nur nach Wirkungen, die auf sie gemacht werden, urteilten, so war es ohnmöglich, daß er sie überzeugte, besonders da sie, wenn man es genau betrachtete, alle drei würklich recht hatten.

Er unterließ aber doch nicht, seinen Lieblingsgrundsatz aber- und abermals einzuschärfen, daß im Drama die Handlung, insofern sie vorgeht und vorgestellt werden kann, die Hauptsache sei, und daß Gesinnungen und Empfindungen dieser fortschreitenden Handlung völlig untergeordnet werden müssen, ja, daß die Charaktere selbst nur in Bewegung und durch Bewegung sich zeigen dürfen. Man gab ihm das zu und führte gleich darauf Beispiele an, die das Gegenteil bewiesen. Zuletzt versicherte er, daß er seine bisherigen Arbeiten deswegen durchaus verachte, weil sie sich alle durch diesen Fehler auszeichneten. "Sie sind", sagte er, "wie Leute, die niemand schätzt, weil sie viel schwätzen und wenig tun." Amelie war darüber empfindlich und sagte scherzend: "Zeige doch nur auch von deinen neuen Sachen etwas vor, die du gemacht hast, seitdem du so gelehrt worden bist." – "Das werde ich nicht", versetzte Wilhelm, "denn ich halte, was ich nach meiner neuen Erkenntnis arbeite, für ziemlich gut und fürchte doch immer, ob ich gleich weiß, daß ich auf dem rechten Weg bin, ich möchte nicht Kräfte haben, darauf fortzukommen, oder in der Folge, ohne die Leitung eines geschickten Meisters, mich abermals und noch gefährlicher verirren. Meine alten Sachen geb ich euch zu Lob und Tadel preis, laßt über den gegenwärtigen mich noch im Geheimnisse brüten. Das Publikum macht selbst die Meister irre; wir Schüler können, vom Winde hin und her getrieben wie junge, schlanke, erst gepflanzte Bäume, gar nicht Wurzel fassen und laufen Gefahr zu verdorren. Dafür will ich euch zum Beschluß die Fragmente eines kleinen Aufsatzes lesen, der in meiner Schreibetafel ist und die mir mein Freund auf verschiedene Fragen zusandte, die ich ihm über dramatische Gegenstände tat. Man hat oft unter den Kritikern gehandelt, ja wohl gestritten, woher das Gefallen komme, das der Mensch am Drama, besonders am Trauerspiele hat. Man hat über den Gegenstand desselben und seine Absicht verschiedene Meinungen gehegt; hier werdet ihr philosophische Gedanken hören, die zwar etwas weither anzufangen scheinen, doch manches über diese Materie denken lassen." Wilhelm suchte das Blatt auf und las:

 

"Der Mensch ist durch seine Natur und durch die Natur der Dinge zu verschiedenen Schicksalen bestimmt; Lust und Schmerz, Glück und Unglück in ihren höchsten Graden sind ihm gleich entfernt und gleich nah. Von dem Übeln, von dem Guten ist ihm, wenn ich es so nennen darf, eine Vorahndung gegeben, die zugleich innigst mit der Kraft verbunden ist, die Bürden des Lebens auf sich zu nehmen und zu tragen.

Jede Seele wird in dem Gange der Tage zu dem, was ihr bevorsteht, mehr oder weniger zubereitet, so daß ihr meistens das Außerordentliche, wenn es vorkommt, besonders sobald die ersten Augenblicke der Überraschung vorüber sind, gewöhnlich bekannt und erträglich scheint; und ob ich gleich nicht leugnen will, daß viele bei unvermutetem Glück und Unglück sich sehr ungebärdig stellen, so finden wir doch auch, daß manche, denen wir sonst die Stärke der Seele nicht zuschreiben können, ein seltnes Glück mit Gleichmut und ein hereinbrechendes Unglück mit Gelassenheit auf sich nehmen. Wir sehen oft Menschen, die durch nichts Außerordentliches bezeichnet sind, Schmerzen, Krankheit, Verlust der Ihrigen mit stiller Standhaftigkeit ertragen und selbst dem eigenen Tode als etwas Bekanntem und Notwendigem entgegengehen.

 

Daß die Vorahndung des Guten bei allen Menschen mit dem Wunsche, es zu besitzen, verbunden sei, ist natürlich und fällt bald in die Augen; daß aber auch der Mensch eine Art Lüsternheit nach dem Übel und eine dunkle Sehnsucht nach dem Genusse des Schmerzens habe, ist schwerer zu bemerken, mit andern Gefühlen verwandt, unter andern Symptomen verhüllt, die uns leicht von unserer Betrachtung abführen können.

Es ist lange gesagt worden, daß der gleichgültige Zustand derjenige sei, dem der Mensch am meisten zu entfliehen suche. Sobald Seele und Körper durch Schlaf und Ruhe in den Zustand der Behaglichkeit versetzt sind, so verlangen beide wieder, sich zu regen, zu würken, gereizt, gerührt und so ihres Daseins gewahr zu werden. Tausendfältig ist das Verlangen, diesen Reiz zu genießen; der einfache Mensch bedarf des einfacheren, geringeren, schwächeren, der ausgebildete des mannigfaltigern, stärkern, wiederholtern. Diese Begierde ist so gewaltig, daß sie selten in den Grenzen ihrer Kräfte bleibt und daß selbst der Mäßigscheinende zwar nicht jeden Tag seines Lebens betrunken schließt, doch aber die ganze Summe seines Daseins früher, als es bestimmt war, aufzehrt.

 

Von jedem, was dem Menschen Sonderbares begegnet, wird er innig gerührt. Ein Übel, das vorüber ist, wird ihm zu einem Schatze der Erinnerung für sein ganzes Leben. Was andern Sonderbares widerfährt, davon sind die Geschichten höchst willkommen, sie seien nun aus der vergangnen Zeit aufbewahrt, oder sie werden zu uns als Neuigkeiten von fremden Weltgegenden herübergebracht. Am stärksten aber wird das Volk gerührt von allem, was unter seine Augen gebracht wird. Weit mehr als, eine ausführliche Beschreibung zieht ein gesudeltes Gemälde, ein kindischer Holzschnitt den dunkeln Menschen an. Und wie viel Tausende sind, die in dem vortrefflichsten Bilde nur das Märchen erblicken. Die großen Bilder der Bänkelsänger drücken sich weit tiefer ein als ihre Lieder, obgleich auch diese die Einbildungskraft mit starken Banden fesseln.

Was kann nun einen größern Eindruck auf die Menge machen, als wenn der Held selbst gleichsam vor ihnen aus dem Grabe aufersteht, vor ihnen handelt, spricht, sein Innerstes entdeckt, leidet und in der erdichteten Gefahr zuletzt umkommt? Wie viel Tausende werden unwiderstehlich nach einer Exekution, die sie verabscheuen, hingerissen, wie ängstet sich die Brust der Menge für den Übeltäter, und wie viele würden unbefriedigt nach Hause gehen, wenn er begnadigt würde und ihm der Kopf sitzen bliebe? Das sprudelnde Blut, das den bleichen Nacken des Schuldigen färbt, besprengt die Einbildungskraft der Zuschauer mit unauslöschlichen Flecken; schaudernd, lüstern blickt die Seele wieder nach Jahren zu dem Gerüste hinauf, läßt alle fürchterliche Umstände wieder vor sich erscheinen und scheut es sich selbst zu gestehen, daß sie sich an dem gräßlichen Schauspiele weidet. Viel willkommner sind jene Exekutionen, welche der Dichter veranstaltet.

 

Der gesunde Mensch kann durch nichts gerührt werden, daß nicht zugleich die Saiten seines Wesens erschüttert werden sollten, von denen die entzückenden Harmonien des Vergnügens auf ihn herabströmen. Und selbst grausame, zerstörende Begierden, worüber man sich auch bei Kindern entsetzt, die man durch Strafen zu vertreiben sucht, haben geheime Wege und Schlupfwinkel, wodurch sie zu den allersüßesten Vergnügungen hinübergehen. Alle diese innerlichen Gänge und Wege werden durch Schauspiele, besonders durch die Tragödie mit elektrischen Funken durchschüttert, und ein Reiz ergreift den Menschen; je dunkler er ist, je größer wird das Vergnügen.

 

Die Begriffe, die sich Menschen von Menschen und Dingen machen, sind so dunkel, so verwirrt, so unvollständig, daß ein albernes Quiproquo sie im mindesten nicht irrt. Karl XII. wird an seinen Stiefeln und zugeknöpftem Rock, vorzüglich aber an seinen straupigen Haaren, Heinrich IV. an seinem Knebelbart und Halskrause erkannt, und man nimmt die widersprechendsten Repräsentanten gerne für die abgeschiedne Majestät. Und ich behaupte sogar, daß, je mehr das Theater gereinigt wird, es zwar verständigen und geschmackvollen Menschen angenehmer werden muß, allein von seiner ursprünglichen Würkung und Bestimmung immer mehr verliert. Es scheint mir, wenn ich ein Gleichnis brauchen darf, wie ein Teich zu sein, der nicht allein klares Wasser, sondern auch eine gewisse Portion von Schlamm, Seegras und Insekten enthalten muß, wenn Fische und Wasservögel sich darin wohlbefinden sollen.

 

Indem ich die Feder niederzulegen genötigt bin und auf das, was ich geschrieben, zurücksehe, so sehe ich, daß ich so verworren und unvollständig bin als irgend einer, der eine solche Materie zu behandeln gewagt hat. Lassen Sie durch diese flüchtige Gedanken nur bei sich Gedanken erregen. Vielleicht sprechen wir nächstens über das Possenspiel und ihre vornehme Tochter, die Komödie. Dabei dürfen wir, wenn wir auf den Grund kommen wollen, weder Zigeuner noch Bärentanz noch die gefährlichen Sprünge und Verdrehungen herumziehender Wagehälse vergessen."

 

Unsere Freunde waren eben im Begriffe, jeder nach seiner Art, den schweren Stein dieser Lektüre anzufassen, zu wälzen und womöglich ihm einige seiner scharfen Ecken abzuschlagen (denn so ist meistenteils der Leser gebildet, daß er jede Sache gerne rund in seine Hände nehmen möchte, um sie recht mit Bequemlichkeit zu betrachten und nachher wie eine Kegelkugel zu seiner Absicht vor sich hinzurollen), als sie durch eine Erscheinung unterbrochen wurden, die ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich zog.

Sechstes Kapitel

Es kam eine Partie gewaffneter Leute durchs Feld her, die sie an ihren weiten und langen Röcken, an ihren großen Aufschlägen, unförmlichen Hüten und schweren Gewehren, an ihrem treuherzigen Gange und an dem bequemen Tragen ihres Körpers sogleich für ein Kommando Landmiliz benachbarter Herrschaft erkannten. Als dieser Trupp näher kam, sie grüßte, seine Flinte bei der großen Eiche abstellte und sich auf den Platz daneben bequem lagerte, um eine Pfeife Tobak zu rauchen, ließen sie sich mit einem Unteroffizier in ein Gespräch ein und vernahmen, daß er vom Amte geschickt sei, hier auf der Grenze ein paar junge Leute in Empfang zu nehmen, die miteinander durchgegangen und durch Steckbriefe in der nächsten Stadt angehalten worden. Die Eiche, welche bei Wilhelmen solche poetische Gefühle erregt, war eigentlich ein Grenzbaum. Hier wollten sie verweilen und die Ankunft des gefangenen Paares erwarten. Wilhelm ward auf diese Nachricht stutzig, noch mehr aber verwundert, als er hörte, der junge Mensch sei ein Komödiant und das Mädchen die Tochter eines hübschen Mannes aus dem benachbarten Städtchen. Aus der weitschweifigen Geschichte, die der Unteroffizier erzählte, war so viel zu nehmen, daß vor einem halben Jahre eine Truppe bei ihnen gewesen sei, die sich nicht lange erhalten können. Da sie endlich aufgebrochen, sei ein Akteur zurückgeblieben, der nicht weiter mitziehen wollen und der, weil er sich bequemt hätte, für ein geringes Geld junge Leute Französisch und tanzen zu lehren, einige Gönner und Aufmunterer gefunden habe. In dem Hause des Herrn N., wo er zur Miete gesessen, sei er mit dessen Tochter erster Ehe, auf welche seine zweite Frau nicht sonderlich achtgegeben, bekannt geworden, sei mit ihr viel spazierengegangen, habe sie im Garten deklamieren lehren, worüber auch die Leute zu reden angefangen; es habe darüber im Hause Händel gesetzt, eines Morgens früh seien beide vermißt worden, und da die Eltern in das Amt gelaufen, habe man die benachbarte Obrigkeit requiriert, wo sie denn auch in Verhaft gebracht, ihnen nunmehr übergeben werden sollten.

Unsere Freunde waren bei dieser Erzählung erstaunt, da ihnen die Ähnlichkeit der Schicksale in umgewechseltem Geschlechte auffiel, und ihre Neugierde wurde sehr erregt, das ungleiche Paar zu sehen. Es währte nicht lange, so kam der Aktuarius zu Pferde nach, unterhielt sich mit seinem Kommando und bekräftigte die Geschichte, auf Befragen der Gesellschaft, mit einigen noch näheren Umständen

Endlich sah man von ferne einen Wagen kommen, der von einer Bürgerwache mehr lächerlich als fürchterlich umgeben war. Ein unförmlicher Stadtschreiber ritt voraus, der mit dem gegenseitigen Aktuarius unter der Eiche am Grenzsteine sich mit großer Gewissenhaftigkeit und wunderlichen Gebärden komplimentierte, wie es etwa Geist und Zauberer, der eine inner-, der andere außerhalb des Kreises, bei gefährlichen nächtlichen Operationen tun mögen. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer war indes auf den Wagen gerichtet. Die alte Kutsche, worin man die Schöne anfangs transportierte, war unterwegs gebrochen, und da man einen Bauerwagen zu Hülfe gerufen, erbat sie sich die Gesellschaft ihres Freundes, der, wegen des besondern Begriffs von Kriminalität des Falles mit Ketten beschweret, erst nebenherging. Sie saßen also beiderseits auf einigen Bündeln Stroh beieinander, blickten sich mit Zärtlichkeit an, und er bewegte, indem er ihre Hände küßte, mit vielem Anstande die klingenden Fesseln. "Wir sind sehr unglücklich", rief er der Gesellschaft zu, die sich dem Wagen genähert hatte, "aber wir sind nicht so schuldig, als wir scheinen. So belohnen grausame Menschen treue Liebe, und Eltern, die das Glück ihrer Kinder gänzlich vernachlässigen, reißen sie mit Ungestüm aus den Armen der Freude, die sich ihrer nach langen trüben Tagen bemächtigte."

Die Fragen, die von der Gesellschaft an sie geschahen, waren etwas prosaischer. Indes sie beantwortet wurden, hatten beide Gerichte ihre Zeremonien absolviert, der Wagen ging weiter, und Wilhelm, den das Schicksal der Verliebten sehr interessierte, verlangte von dem Ehepaar, daß es mit ihm ins benachbarte Amt, welches etwa eine halbe Stunde von da lag, gehen sollte. Sie entschuldigten sich mit dem nähern Abend, nahmen ihren Weg nach der Stadt zurück, er aber eilte seinen Liebenden nach, und da er eine alte Bekanntschaft mit dem Amtmann, noch ehe sie ankamen, zu erneuern gedachte, so ergriff er einen Fußpfad und erreichte noch zu rechter Zeit das Amthaus, wo er alles in Bewegung und zum Empfange der Flüchtlinge bereit fand.

Der Aktuarius, der bald nach ihm eintraf, erzählte mit großer Freude, wie alles glücklich gegangen und daß seine jungen Leute nicht weit von dem Orte entfernt seien. Mit mehr Zufriedenheit setzte er hinzu, er habe befohlen, daß der Wagen nicht zum Stadttore hereinfahren und daß man sie an dem Garten, welcher durch eine kleine Pforte mit dem Amthause zusammenhing, absetzen sollte, da sie denn ganz in der Stille hereingebracht werden könnten.

Wilhelm, ob ihm gleich die platte und gefühllose Art, womit der Mann die Sache behandelte, mißfiel, konnte doch nicht umhin, ihn zu loben, daß er soviel Vorsicht zur Schonung des unglücklichen Paars gebraucht habe. Jener nahm zwar das Kompliment selbstgefällig auf, freute sich aber eigentlich nur deswegen in seinem Herzen, weil er der auf den Straßen und vor dem Amthause versammelten Bürgerschaft einen Streich gespielt und sie um so ein erwünschtes Schauspiel bevorteilt hatte, als die öffentliche Demütigung eines Mädchens war, das sonst etwas mehr als andre auf sich zu halten pflegte. Hierauf erzählte er dem Amtmann, wie vortrefflich sein Pferd ginge, das er erst gestern von dem Juden getauscht, und ließ sich weitläufig über dessen gute Eigenschaften heraus, wodurch denn Wilhelm verhindert wurde, sich näher nach der Angelegenheit zu erkundigen, und sich heimlich sehr wunderte, daß man in Erwartung so wichtiger Begebenheiten, mitten unter den ernsthaftesten Dienstverrichtungen fremde, gleichgültige, und er hätte wohl Lust gehabt hinzuzusetzen, alberne Dinge mit Interesse einschieben könne

Ihre Ankunft wurde gemeldet. Der Amtmann, der von solchen außerordentlichen Fällen kein sonderlicher Liebhaber war, weil er meistenteils in deren Behandlung ein- und den andern Fehler machte und bei dem besten Willen gewöhnlich von der fürstlichen Regierung mit einem derben Verweise belohnt wurde, ging mit schwerem Schritte in die Amtstube, wohin ihm Wilhelm, der Aktuarius und einige andere angesehene Bürger folgten, die sich aus Neugier versammelt hatten.

Zuerst ward die Schöne vorgeführt, die ohne Frechheit sehr gelassen und mit Bewußtsein ihrer selbst hereintrat. Die Art, wie sie ihre Kleider zurechtgerückt hatte, die auf der Flucht und in ihrer Gefangenschaft eben nicht in den vorteilhaftesten Umständen sein konnten, zeigte Wilhelmen an, daß sie ein Mädchen sei, die etwas auf sich hielt. Sie fing auch, ohne gefragt zu sein, über ihren Zustand nicht unschicklich an.

Der Aktuarius gebot ihr zu schweigen und hielt seine Feder über dem gebrochnen Blatte. Der Amtmann setzte sich in Fassung, sah ihn an, räusperte sich und fragte das arme Kind, wie ihr Name heiße und wie alt sie sei?

"Ich bitte Sie, mein Herr", versetzte sie, "es muß mir gar wunderbar vorkommen, daß Sie mich um meinen Namen und mein Alter fragen, da Sie sehr gut wissen, wie ich heiße und daß ich so alt wie Ihr ältster Sohn bin. Was Sie von mir wissen wollen und was Sie wissen müssen, will ich gerne ohne Umschweife sagen.

Seit meines Vaters zweiter Heurat werde ich zu Hause nicht zum besten gehalten. Ich hätte einige hübsche Partien tun können, wenn sie nicht meine Stiefmutter aus Furcht vor der Ausstattung vereitelt hätte. Nun habe ich den jungen Melina kennenlernen, ich habe ihn lieben müssen, und da wir die Hindernisse voraussahen, die unserer Verbindung im Wege stunden, entschlossen wir uns, miteinander in der weiten Welt ein Glück zu suchen, das uns zu Hause nicht gewährt schien.

Ich habe nichts mitgenommen, als was mein eigen war, ja ich habe noch ein ansehnliches Mütterliches zu fordern; wir sind nicht als Diebe und Räuber entflohen, und mein Geliebter verdient nicht, daß er mit Ketten und Banden belegt herumgeschleppt werde. Der Fürst ist gerecht, er wird diese Härte nicht billigen. Wenn wir strafbar sind, so sind wir es nicht auf diese Weise."

Der alte Amtmann kam hierüber doppelt und dreifach in Verlegenheit. Die gnädigsten Ausputzer summten ihm schon um den Kopf, und die geläufige Rede des Mädchens hatte ihm den Entwurf des Protokolls gänzlich zerrüttet. Das Übel wurde noch größer, als sie bei wiederholten ordentlichen Fragen sich nicht weiter einlassen wollte, sondern sich auf das, was sie eben gesagt, standhaft berief.

"Ich bin keine Verbrecherin", sagte sie, "man hat mich auf Strohbündeln zur Schande hierhergeführt; es ist eine höhere Gerechtigkeit, die uns wieder zu Ehren bringen soll."

Der Aktuarius hatte indessen immer ihre Worte nachgeschrieben und flüsterte dem Amtmanne zu, er solle nur weitergehen, ein förmliches Protokoll würde sich nachher schon verfassen lassen.

Der Alte nahm wieder Mut und fing nun an, nach den süßen Geheimnissen der Liebe mit dürren Worten und in hergebrachten, trocknen Formeln sich zu erkundigen.

Wilhelmen stieg die Röte ins Gesicht, und die Wangen der artigen Verbrecherin belebten sich mit der reizenden Farbe der Schamhaftigkeit. Sie schwieg und stockte, bis die Verlegenheit zuletzt ihren Mut erhöhte.

"Sein Sie versichert", rief sie aus, "daß ich stark genug sein würde, die Wahrheit zu bekennen, wenn ich auch gegen mich selbst sprechen müßte; sollte ich nun zaudern und stocken, da sie mir Ehre macht? Ja, ich habe ihn von dem Augenblicke an, da ich seiner Neigung und seiner Treue gewiß war, als meinen Ehmann angesehen, ich habe ihm alles gerne gegönnt, was die Liebe fordert und was ein überzeugtes Herz nicht versagen kann. Machen Sie nun mit mir, was Sie wollen. Wenn ich einen Augenblick es zu gestehen zauderte, so war es die Furcht, daß mein Bekenntnis für ihn schlimme Folgen haben möchte."

Wilhelm faßte, als er das hörte, einen hohen Begriff von den Gesinnungen des Mädchens, indes sie die Gerichtspersonen für eine freche Dirne erkannten und die gegenwärtigen Bürger Gott dankten, daß dergleichen Vorfälle in ihrer Familie entweder nicht geschehen oder nicht bekannt geworden waren.

Wilhelm versetzte seine Mariane in diesem Augenblicke vor den Richtstuhl, legte ihr noch schönere Worte in den Mund, ließ ihre Aufrichtigkeit noch herzlicher und ihr Bekenntnis noch edler werden. Die heftigste Leidenschaft, beiden Liebenden zu helfen, bemächtigte sich seiner. Er verbarg sie nicht und bat den zaudernden Amtmann heimlich, er möchte doch der Sache ein Ende machen, es sei ja alles so klar als möglich und bedürfe weitere Umstände nicht.

Dieses half so viel, daß man das Mädchen abtreten, dafür aber den jungen Menschen, nachdem man ihm vor der Tür die Fesseln abgenommen hatte, hereinkommen hieß. Dieser schien über sein Schicksal mehr nachdenkend. Seine Antworten waren ordentlicher und gesetzter, und wenn er von einer Seite weniger heroische Freimütigkeit zeigte, so empfahl er sich Wilhelmen hingegen durch mehr Zärtlichkeit, die aus seinen Reden hervorblickte.

Da auch dieses Verhör geendigt war, welches mit dem vorigen in allem übereinstimmte, nur daß er, um das Mädchen zu schonen, was sie schon gestanden hatte, hartnäckig leugnete, ließ man endlich sie selbst vortreten, und es entstand zwischen beiden eine Szene, welche ihnen das Herz unsers Freundes ganz zu eigen machte.

Was nur in Romanen und Komödien vorzugehen pflegt, sah er hier in einer unangenehmen Gerichtsstube vor Augen: den Streit wechselseitiger Großmut, die Stärke der Liebe im Unglück.

"Ist es denn also wahr", sagte er bei sich selbst, "daß die schüchterne Zärtlichkeit, die vor dem Auge der Sonne und der Menschen sich furchtsam verbirgt und nur in abgesonderter Einsamkeit, im tiefen Geheimnisse zu genießen wagt, wenn sie durch einen feindseligen Zufall hervorgeschleppt wird, daß sie sich alsdann mutiger, stärker, tapferer zeigt als andere brausende und großtuigte Leidenschaften?" Er beneidete heimlich ihr Glück, und der Verlust Marianens wurde ganz in seiner Seele lebendig. Wenn er sie dadurch wieder hätte erhalten können, wie gern würde er sich mit ihr an den Platz der beiden Liebenden gestellt und sich der gefühllosen Justiz preisgegeben haben!

Durch seine Vermittlung schloß sich die ganze Handlung noch ziemlich balde. Er verschaffte, daß sie beide in leidliche Verwahrung genommen wurden, und wenn es möglich gewesen wäre, so hätte er die Geliebte zu ihren Eltern diesen Abend noch hinübergebracht. Denn er setzte sich fest vor, hier ein Mittelsmann zu werden und die glückliche und ständige Verbindung beider Liebenden zu befördern. Er schickte seinem Schwager einen Boten, daß er diese Nacht und den morgenden Tag außenbleiben würde. Darauf begab er sich mit des Amtmanns Erlaubnis dahin, wo man den jungen Menschen in einem kleinen Zimmer verwahrt hielt.

Siebentes Kapitel

Schon unter dem Verhör war der Gedanke in Wilhelmen aufgestiegen, er müsse den jungen Gefangenen vormals an einem andern Orte gesehen haben; das Gesicht schien ihm bekannt, das Wesen hingegen fremd; den Namen Melina konnte er sich auf keine Weise erinnern. Indem der Gerichtsdiener ihm die Türe der Verwahrung aufmachte, er hereintrat und den Fremden wieder ins Gesicht faßte, rief er, wie mit einer Art von augenblicklicher Inspiration, aus: "Ei, Herr Pfefferkuchen, sind Sie es, den ich wiederfinde? und ist es möglich, daß ich Sie eine ganze halbe Stunde habe verkennen dürfen?" – "Sind Sie es", rief jener, "mit dem ich das Vergnügen hatte, in M. nebst einigen Kameraden und unserer angenehmen Mariane einen vergnügten Abend zuzubringen? Wahrscheinlich hat meine veränderte Frisur, eine andere Kleidung und ein anderer Name, Sie irregemacht." Wilhelm stutzte und wußte bei sich selbst nicht, welchem von den dreien oder allen zusammen er die Ursache seiner Verblendung geben sollte.

Wenn es uns erlaubt ist, in seine Seele eine Mutmaßung zu wagen, so lag es wohl darin: Jener Pfefferkuchen, den er kannte, war eigentlich ein stumpfer, kurzer, enger Mensch ohne die Grazie des Adels in seinen Bewegungen und Betragen. Sein Wesen war so gemein wie sein Name, und außer einer starken Stimme und einer gewissen Heftigkeit, womit er leidenschaftliche Rollen spielte, war nichts, das ihn einigermaßen ausgezeichnet hätte; und dieses Bild war in Wilhelms Seele geblieben. Melina hingegen, dem er in Ketten begegnete, den er vorm Richtstuhle sah, war durch seinen Zustand in eine stille Traurigkeit versetzt, er rührte die andern, weil er selbst gerührt war, und ein standhaftes Betragen auf dem Gipfel der Gefahr erhöhte sein Wesen einen Augenblick und verbreitete einen edeln Anstand über seine ganze Person.

"Wie sind Sie zu dem ganz fremden Namen gekommen?" sagte Wilhelm. "Er ist so gar entfernt nicht von dem vorigen", antwortete jener. "Namen haben einen großen Einfluß auf die Vorstellung der Menschen. Der meinige gab zu Spöttereien Anlaß, und er war mir selbst zuwider. Weil man auch an verschiedenen Orten Honigkuchen statt Pfefferkuchen sagt, so übersetzte ich ihn Melina, sobald ich Gelegenheit hatte, an einem fremden Orte zum ersten Male aufzutreten." – "Ich zweifle, ob jemand die Etymologie herausfinden werde", versetzte Wilhelm.

Melina (welchen Namen wir ihm nicht mißgönnen wollen) fing darauf an, Wilhelmen seine ganze Geschichte zu erzählen, und dieser brennte vor Verlangen, etwas Näheres von Marianen zu hören, wornach er auch, sobald es sich nur einigermaßen schickte, mit bescheidenen Fragen sich erkundigte. "Unsere Truppe hat sehr viel an ihr verloren", sagte der andere. "Ist sie abgegangen?" versetzte Wilhelm. "Ja", sagte jener, "und zwar auf eine unangenehme Art. Als wir damals von M. weggingen, nahmen wir unsern Weg nach der ***Messe. Mariane war in der letzten Zeit immer traurig gewesen, und so blieb sie es auch im Wagen, wo ich einige Stationen bei ihr saß. Gewöhnliche Streitigkeiten, die bei dem beschwerlichen Transport einer Truppe entstehen, waren ihr gleichgültig, sie ließ sich alles gefallen, sie scherzte und sang nicht wie sonst, und die lächerlichen Zufälle, die einem oder dem andern begegneten, konnten ihr keine freundliche Miene abzwingen. Sie wurde darüber oft berufen, aber auch dies schien ihr weder Unruhe noch Verlegenheit zu machen, wir konnten nichts davon begreifen. Auf einmal hörten wir zu ***, wo wir übernachtet hatten, einen großen Streit zwischen ihr und dem Direktor. Es hatte dieser aus der Stadt, wo wir hinwollten, wie wir nachher erfuhren, einen Brief von den Anverwandten eines jungen Menschen erhalten, mit dem sie in Verbindung gestanden hatte. Der Brief war drohend und erniedrigend für sie und den Direktor, der darüber heftig mit ihr zusammenkam und sie endlich zu dem Entschluß brachte, die Gesellschaft zu verlassen. Sie ging auch wirklich nicht weiter, sondern blieb in dem Wirtshause, das wir verließen, zurück. Da aus dem Briefe sichtbar war, daß unsere alte Theaterschneiderin mit um die Geschichte wußte, so nahm der Direktor, der sie längst gerne los gewesen wäre, diesen Vorwand, um auch ihr den Abschied zu geben. Die beiden Frauens blieben also allein, viele der Gesellschaft bedaurten sie. Ich habe mich in der Folge oft nach ihr erkundigt und nichts wieder von ihr erfahren."

Wilhelm ward über diese Geschichte so nachdenklich, daß er eine ganze Weile nicht zuhörte, als Melina zu der seinigen überging und über das, was ihm geschehen war, sich ausbreitete, vorzüglich aber wegen der Zukunft seine Gesinnungen erklärte. Still und in sich gekehret, starr vor sich hinsehend, stand Wilhelm vor ihm, und jener erklärte diese Abwesenheit für ein nachdenkliches Aufmerken. Wie verwundert war er daher, als Wilhelm zuletzt auf seine Frage: "Glauben Sie denn, daß ich wohl tue und bei diesem Metier besser fahren werde?" aufsehend und ohne sich zu besinnen antwortete: "O ja! Ich bin überzeugt, daß Sie kein besseres erwählen können und daß Ihre Gattin, soviel ich sie kenne, auch auf dem Theater ihr Glück machen wird. Sie hat eine angenehme Gestalt, einen guten Anstand, eine gefällige Stimme und Jugend genug, um sich in einer neuen Laufbahn zu finden."

Unser Freund konnte sich nicht anders denken, als daß der Schauspieler mit seiner jungen Gattin das Theater aufsuchen würde. Es schien ihm ebenso natürlich und notwendig, als daß der Frosch das Wasser sucht. Nicht einen Augenblick hatte er daran gezweifelt, vielmehr glaubte er, das, was ihm seine eigene Seele sagte, von dem andern während seiner Abwesenheit gehört zu haben, der ihm indessen ganz das Gegenteil vorgetragen hatte und mit einiger Verwunderung sagte: "Sie müssen mich nicht verstanden haben, mein Herr, denn ich habe mir vorgenommen, nicht wieder auf das Theater zurückzukehren, vielmehr eine bürgerliche Bedienung, sie sei auch welche sie wolle, anzunehmen, wenn ich nur eine erhalten kann." – "Darum tun Sie sehr übel", versetzte Wilhelm, "es ist schon ohne besondere Ursache nicht ratsam, die Lebensart, die man ergriffen hat, zu verändern, und überdies wüßte ich keine, die Ihnen so viele Annehmlichkeiten darbietet als die eines Schauspielers." – "Man sieht, daß Sie keiner gewesen sind", versetzte jener. Darauf sagte Wilhelm: "Wie selten ist der Mensch mit dem Zustande zufrieden, in dem er sich befindet; er wünscht sich immer den seines Nächsten, aus welchem sich dieser gleichfalls heraussehnet." – "Indes bleibt doch ein Unterschied", versetzte Melina, "zwischen dem Schlimmen und dem Schlimmern. Die Erfahrung, nicht die Ungeduld macht mich so handeln. Ist wohl ein kümmerlicheres, unsichereres und mühseligeres Stückchen Brot in der Welt? Beinahe wäre es ebensogut, es vor den Türen zu betteln. Was hat man von dem Neide seiner Mitgenossen, von der Parteilichkeit des Direktors, von der übeln Laune des Publikums auszustehen! Wahrhaftig, man muß ein Fell haben wie ein Bär, der in der Gesellschaft von Affen und Hunden an der Kette herumgeführt und geprügelt wird, um bei dem Tone eines Dudelsacks vor Kindern und Pöbel zu tanzen."

Wilhelm dachte allerlei bei sich selbst, was er jedoch dem guten Menschen nicht ins Gesicht sagen wollte. Er ging also nur von, ferne mit dem Gespräch um ihn herum. Jener ließ sich desto aufrichtiger und weitläufiger heraus. "Täte es nicht not", sagte er, "daß der Direktor jedem Stadtrate zu Füßen fiel’, um nur die Erlaubnis zu haben, vier Wochen zwischen der Messe ein paar Groschen mehr an einem Orte zirkulieren zu machen! Ich habe den unsrigen, der insoweit ein guter Mann war, oft bedauret, wenn er mir gleich zu anderer Zeit zu Mißvergnügen Ursache gab. Ein guter Akteur steigert ihn, die schlechten kann er nicht loswerden, und wenn er seine Einnahme einigermaßen der Ausgabe gleichsetzen will, so ist es dem Publikum gleich zuviel. Das Haus steht leer, und man muß, um nur nicht gar zugrunde zu gehen, mit Schaden und Kummer spielen. Nein, mein Herr, da Sie sich unsrer, wie Sie sagen, annehmen mögen, so bitte ich Sie, sprechen Sie auf das inständigste mit den Eltern meiner Geliebten! Man versorge mich hier, man gebe mir einen kleinen Schreiber- oder Einnehmerdienst, und ich will mich glücklich schätzen."

Nach noch einigen gewechselten Worten schied Wilhelm mit dem Versprechen, morgen ganz früh die Eltern anzugehen und zu sehen, was er ausrichten könne. Kaum war er allein, so brach er vor sich in diese Worte aus: "Du unglücklicher Melina, der du noch immer Pfefferkuchen heißen solltest, nicht in deinem Stande, sondern in dir liegt das Armselige, über das du nicht Herr werden kannst! Welcher Mensch in der Welt, der ohne innern Beruf ein Handwerk, Kunst oder irgendeine Lebensart ergriffe, könnte er, müßte er nicht wie du seinen Zustand unerträglich finden? Wer mit einem Talente zu einem Talente geboren ist, findet in demselben sein schönstes Dasein! Nichts ist auf der Erde ohne Beschwerlichkeit, nur der innere Trieb, die Lust, die Liebe helfen uns Hindernisse überwinden, Wege bahnen und uns aus dem engen Kreise, worinnen sich andere kümmerlich abängstigen, emporheben. Dir sind die Bretter nichts als Bretter, und die Rollen, was einem Schulknaben sein Pensum ist, und die Zuschauer siehst du an, wie sie sich selbst an Werkeltagen vorkommen. Dir könnte es also freilich einerlei sein, hinter einem Pult über liniierten Büchern zu sitzen und die Zinsen einzutragen, welche hungrige Untertanen bringen. Du fühlst nicht das zusammenbrennende, zusammentreffende Ganze, das allein durch den Geist erfunden, begriffen und ausgeführt wird; du fühlst nicht, daß in den Menschen ein besserer Funke lebt, der, wenn er keine Nahrung erhält, wenn er nicht geregt wird, von der Asche täglicher Bedürfnisse und Gleichgültigkeit tiefer bedeckt und doch so spät und fast nie erstickt wird. Du fühlst in deiner Seele keine Kraft, ihn aufzublasen, in deinem eigenen Herzen keinen Reichtum, um dem erweckten Nahrung zu geben. Der Hunger treibt dich, und der Mangel ängstiget dich, die Unbequemlichkeiten sind dir zuwider, und es ist dir verborgen, daß in jedem Stande diese Feinde lauren, die nur mit Freudigkeit und Gleichmut zu überwinden sind. Du tust wohl, dich in jene Grenzen einer gemeinen Stelle zu sehnen, denn welche würdest du wohl ausfüllen, die Geist und Mut verlangt! Gib einem Soldaten, einem Staatsmanne, einem Geistlichen deine Gesinnungen, und mit ebensoviel Recht wird er sich über das Kümmerliche seines Standes beschweren können. Ja, hat es nicht sogar Menschen gegeben, die von aller Menschlichkeit und Lebensgefühl so ganz verlassen waren, daß sie das ganze Leben und Wesen der Sterblichen für ein Nichts, für ein kummervolles und staubgleiches Dasein erklärt haben? Regten sich lebendig in deiner Seele die Gestalten würkender Menschen, wärmte deine Brust ein teilnehmendes, belebendes Feuer, verbreitete sich über deine ganze Gestalt die Stimmung, die aus dem Innersten kommt, wären die Töne deiner Kehle, die Worte deiner Lippen lieblich anzuhören, fühltest du dich genug in dir selbst, so würdest du dir gewiß Ort und Gelegenheit aufsuchen, dich in andern fühlen zu können."

Unter solchen Worten und Gedanken hatte sich unser Freund ausgekleidet, und er stieg mit einem Gefühle des innigsten Behagens zu Bette und erzählte sich einen ganzen Roman, was er an der Stelle des Unwürdigen morgenden Tages tun würde, welche Phantasien ihn in das Reich des Schlafes sanft hinüberbegleiteten und dort, von ihren Geschwistern, den Träumen, mit offenen Armen aufgenommen, durch sie gestärkt und neu belebt, das ruhende Haupt unsres Freundes mit dem Vorbilde des Himmels umgaben.

Am frühen Morgen war er schon wieder erwacht und dachte seiner vorstehenden Unterhandlung nach. Er überwand gar bald die kleine Verlegenheit, sich ganz fremden Menschen in einer so wichtigen Sache zu nähern. Er kam vor das Haus, und das Herz klopfte ihm für Unruhe. Er trug sein Anbringen bescheiden vor und fand gar bald mehr und weniger Schwierigkeiten, als er sich vermutet hatte. Geschehen war es einmal, und wenngleich außerordentlich strenge und harte Leute sich gegen das Vergangene und nicht zu Ändernde doch mit Gewalt setzen und das Übel dadurch zu vermehren pflegen, so hat es dagegen gewöhnlich auf die Gemüter der Menschen eine unwidersprechliche Gewalt, und das unmöglich Geschienene, das er wirklich sieht, nimmt neben dem Gemeinen seinen Platz ein, wie wir schon oben zu bemerken Gelegenheit gehabt haben. Es war also bald ausgemacht, daß Herr Melina die Tochter heuraten sollte, dagegen sollte sie wegen ihrer Unart kein Heuratsgut kriegen und versprechen, ihr Mütterliches noch einige Jahre gegen geringe Interessen in des Vaters Händen zu lassen. Der zweite Punkt wegen einer bürgerlichen Versorgung fand schon größere Schwierigkeiten. Man wollte das ungeratene Kind nicht vor Augen sehen, man wollte die Verbindung eines hergelaufenen Menschen mit einer so angesehenen Familie, welche sogar mit einem Superintendenten verwandt war, sich durch die Gegenwart nicht beständig aufrücken lassen; man könne ebensowenig hoffen, daß die fürstlichen Kollegien ihm eine Stelle anvertrauen würden. Beide Eltern waren gleich stark dagegen, und Wilhelm, der sehr eifrig dafür sprach, ob er gleich im Grunde dem Menschen, den er geringschätzte, die Rückkehr auf das Theater nicht gönnte und überzeugt war, daß er eines solchen Glückes nicht wert sei, konnte er nichts ausrichten. Hätte er die geheime Triebfedern gekannt, so würde er sich die Mühe gar nicht gegeben haben, sie zu überreden, denn der Vater, der seine Tochter gerne bei sich behalten wollte, haßte den jungen Menschen, weil seine Frau, eh dieser dem Mädchen den Hof machte, selbst ein Auge auf ihn geworfen hatte, und diese konnte in ihrer Stieftochter eine glückliche Nebenbuhlerin nicht vor Augen leiden. Ich führe die Befreiung beider Liebenden, ihre Aufnahme zu Hause und das Ende dieser Geschichte nicht weitläufig aus. Genug, Melina mußte wider seinen Willen mit seiner jungen Braut, die schon größere Lust bezeigte, die Welt zu sehen und sich der Welt sehen zu lassen, nach einigen Tagen abreisen und einen Ort suchen, wo eine Truppe ihre Nahrung fand.

Achtes Kapitel

Es war Sonntag geworden, und Wilhelm hatte sich noch nicht wieder zu Hause sehen lassen. Sein Schwager legte es aus, wie es auch wirklich war, daß er die Zeit teils zur Versöhnung der Familie, teils zu seinem Vergnügen würde angewendet haben. Es war ein Festtag, und jedes wünschte spazierenzugehen. Vater und Mutter, Frau, Handelsdiener, Knechte und Mägde hatte Werner ausgehen lassen und blieb zu Hause, wo er sich gerne aufhielt. Wilhelms Großvater, der in dem Handel viel gewonnen hatte, erbaute das Haus zuerst; allein unter der Verwaltung des Vaters hatte es viel von seinem bürgerlichen Glanze verloren, welchen Werner nach und nach wiederherzustellen bemüht war. Er ging herum und sah, wie weit die Handwerksleute in der Woche gekommen waren und was in der nächsten zu tun übrigbleiben würde. Das Dach war völlig hergestellt: statt mehreren morschen Balken andere eingezogen, statt verfaulter und ausgewitterter Bretter neue angeschlagen; der Mauerer arbeitete, die gesprungenen Wände auszuzwicken, und der Tüncher, ihnen Glätte und Ansehen zu geben; inwendig war auch schon viel getan, alle Zimmer und Säle geweißt, statt des alten, verrauchten, dunkeln Tafelwerks die Wände mit neuen, bunten Farben angemacht oder mit Kattunpapier beschlagen. Genug, wo man hintrat, sah man die Spuren des entstehenden Lebens, das sich zu einer langen Dauer Hoffnung machte. Werner besah dies alles mit großer Zufriedenheit und fing nun an, da er das Notwendige bald geendiget fand, auch an das Vergnügliche zu denken, um solches, wenn es ihm die Kasse erlauben würde, nach und nach zu vollenden.

In der Mitte des Hauses war ein großer, mit Sandplatten belegter Hof, der auch seit Werners Regierung wieder im Sommer einen angenehmen Aufenthalt abgab; was ihn sonst anfüllte und entstellte, war auf die Seite und jedes an seinen Ort in die Ställe, Remisen und auf die Böden gebracht worden. Gereinigt diente er nunmehr zum Sammelplatze und Spaziergange der Familie. Im Grunde desselben stand eine künstliche Grotte, wo ehemals Wasser gesprungen hatte, wo von aber die Röhren in Unordnung gekommen und viele von den Zieraten abgebrochen worden waren. Solches wieder in Ordnung zu machen, hatte Werner schon Perlemuttermuscheln, Korallen, Bleiglanz und was dazu gehört, verschrieben und hoffte, bald wieder alles in Ordnung zu sehen und bei dem springenden Wasser sonntags mit guten Freunden ein Glas Wein zu trinken und eine Pfeife zu rauchen. Nachdem er dieses alles bedacht, stieg er auf den obern Teil des Hauses, wo zwischen ein paar Dachgiebeln ein Altan angebracht war, den er in dem schlimmsten Zustande fand. Auch hier spekulierte er auf neue Orangenkasten, bunte Scherben, fremde Gewächse, womit er seinen hangenden Garten auszieren und sich zwischen den Schornsteinen ein kleines Paradies schaffen wollte. Der Abend kam herbei, er stieg herab, besuchte noch im Vorbeigehen die Gewölbe, sah nach den Zuckerkisten, Kaffeefässern und nach den Zeronen Indigo, für welche er, weil es guter Handel war, eine besondere Zärtlichkeit hatte. Er setzte sich darauf ins Comptoir, schlug seine Handelsbücher nach und ergötzte sich in dieser Lektüre, da ihm der offenbare Vorteil daraus in die Augen leuchtete, mehr, als wenn es die geschmackvollste Schrift gewesen wäre.

Hierüber trat Wilhelm herein, der, ganz voll von seinem Abenteuer und den schönen Gegenden, die er in Gesellschaft einiger Bekannten besucht, seinen Schwager mit großer Lebhaftigkeit davon unterhielt. Dieser gab ihm zwar mit seiner gewöhnlichen Langmut Gehör, doch war er diesmal selbst von eigener Leidenschaft so angefüllt, daß er auf die Fragen Wilhelms, was er bisher gemacht habe, das Gespräch auf diejenige Dinge lenkte, die ihn am meisten interessierten.

"Ich ging soeben", sagte Werner, "unsere Bücher durch, und bei der Leichtigkeit, wie sich der Zustand unseres Vermögens übersehen läßt, bewunderte ich aufs neue die großen Vorteile, welche die doppelte Buchhaltung dem Kaufmanne gewährt. Es ist eine der schönsten Erfindungen des menschlichen Geistes, und ein jeder guter Haushalter sollte sie in seiner Wirtschaft einführen. Die Ordnung und Leichtigkeit, alles vor sich zu haben, vermehrt die Lust zu sparen und zu erwerben, und wie ein Mensch, der übel haushält, sich in der Dunkelheit am besten befindet und die Summen nicht gerne zusammenrechnen mag, die er alle schuldig ist, so wird dagegen einem guten Wirte nichts angenehmer, als wenn er sich alle Tage das Fazit seines wachsenden Glückes ziehen kann. Selbst ein Unfall, wenn er ihn verdrießlich überrascht, erschröckt ihn nicht, denn er weiß sogleich, was für erworbene Vorteile er auf die andere Waagschale zu legen hat. Ich bin überzeugt, mein lieber Bruder", fuhr er fort, "wenn du nur einmal einen rechten Geschmack an unsern Geschäften kriegen könntest, so würdest du finden, daß man viele Fähigkeiten des Geistes mit Nutzen und Vergnügen dabei anwenden kann." – "Es ist möglich", versetzte Wilhelm, "daß ich einige Neigung, ja vielleicht Leidenschaft für den Handel hätte fühlen können, wenn er mir nicht von Jugend auf in seiner kleinlichsten Gestalt bange gemacht hätte." – "Du hast recht", versetzte jener, "und die Schilderung des personifizierten Gewerbes in einem jugendlichen Gedichte, davon du mir erzähltest, paßt fürtrefflich auf die Krämerei, in der du erzogen bist, nicht auf den Handel, den du kennenzulernen keine Gelegenheit gehabt hast. Glaube mir, du würdest für deine feurigste Einbildungskraft Beschäftigung finden, wenn du die Scharen rühriger Menschen, die wie Ströme die ganze Welt durchkreuzen, wegführen und zurückbringen, mit dem Geiste erkennen solltest. Seitdem unser beiderseitiges Interesse so nahe verbunden ist, habe ich immer gewünscht, es möchten es auch unsere Bemühungen sein. Ich konnte dir nicht zumuten, in einem Laden mit der Elle zu messen, mit der Waage zu wägen; laß uns das durch unsere Handelsdiener nebenher betreiben und geselle dich hergegen zu mir, um durch alle Art von Spedition und Spekulation einen Teil des Geldes und Wohlbefindens an uns zu reißen, das in der Welt seinen notwendigen Kreislauf führet. Wirf einen Blick auf alle natürliche und künstliche Produkte aller Weltteile, siehe, wie sie wechselsweise zur Notdurft geworden sind; welch eine angenehme, geistreiche Sorgfalt ist es, was in dem Augenblick bald am meisten gesucht wird, bald fehlt, bald schwer zu haben ist, jedem, der es verlangt, leicht und schnell zu schaffen, sich vorsichtig in Vorrat zu setzen und den Vorteil jedes Augenblickes dieser großen Zirkulation zu genießen. Dies ist, dünkt mich, was jedem, der Kopf hat, eine große Freude machen wird. Aber freilich muß man erst in dieser Zunft Genosse werden, das dir wohl schwerlich an diesem Orte geschehen kann. Ich habe schon lange darüber nachgedacht, und es würde dir auf alle Fälle vorteilhaft sein, eine Reise zu tun."

Wilhelm schien nicht abgeneigt, und Werner fuhr fort: "Wenn du nur erst ein paar große Handelsstädte, ein paar Häfen solltest gesehen haben, so würdest du gewiß mit fortgerissen werden; wenn du siehst, wo alles herkommt, wo es hingeht, so wirst du es gewiß auch mit Vergnügen durch deine Hände gehen sehen. Die geringste Ware siehst du im Zusammenhange mit dem ganzen Handel, und eben darum hältst du nichts vor gering, weil alles die Zirkulation vermehrt, von der dein Leben seine Nahrung hat."

Werner, der seinen richtigen Verstand in dem Umgange mit Wilhelmen ausbildete, hatte sich gewöhnet, auch an sein Gewerbe, an seine Geschäfte mit Erhebung der Seele zu denken, und glaubte immer, daß er es mit mehrerem Rechte tue als sein sonst verständiger und geschätzter Freund, der, wie es ihm schien, auf das Unreellste von der Welt einen so großen Wert und das Gewicht seiner ganzen Seele legte. Manchmal dachte er, es könne gar nicht fehlen, dieser falsche Enthusiasmus müsse zu überwältigen und ein so guter Mensch auf den rechten Weg zu bringen sein. In dieser Hoffnung fuhr er fort: "Es haben die Großen dieser Welt sich der Erde bemächtiget und leben in Herrlichkeit und Überfluß von ihren Früchten. Das kleinste Fleck ist schon erobert und eingenommen, alle Besitztümer befestiget, jeder Stand wird vor das, was ihm zu tun obliegt, kaum und zur Not bezahlt, daß er sein Leben hinbringen kann; wo gibt es nun noch einen rechtmäßigern Erwerb, eine billigere Eroberung als den Handel? Haben die Fürsten dieser Welt sich der Flüsse, der Wege bemächtigt und nehmen von dem, was durch- und vorbeigeht, einen starken Gewinn, sollen wir nicht mit Freuden die Gelegenheit ergreifen und durch unsere Tätigkeit auch Zoll von jenen Artikeln nehmen, die teils das Bedürfnis, teils der Übermut den Menschen unentbehrlich gemacht hat? Und ich kann dir versichern, wenn du nur deine dichterische Einbildungskraft anwenden wolltest, so könntest du meine Göttin als eine unüberwindliche Siegerin der deinigen kühn entgegenstellen; sie führt freilich lieber den Ölzweig als das Schwert, Dolch und Ketten kennet sie gar nicht, aber Kronen teilet sie auch ihren Lieblingen aus, die, es sei ohne Verachtung jener gesagt, von echtem, aus dem Quelle geschöpften Golde und von Perlen glänzen, die sie aus der Tiefe des Meeres durch ihre immer geschäftigen Diener geholt hat." Wilhelm, ob ihn dieser Ausfall, so gelinde er auch war, gleich ein wenig verdroß, war doch zu gutmütig, darauf zu antworten, und im Grunde konnte er wohl leiden, daß ein jeder von seinem Handwerke auf das beste dachte, wenn man ihm nur dasjenige unangefochten ließ, dem er sich zu widmen wünschte. Er nahm indes die Apostrophe des auf einmal feurig gewordenen Werners mit ebender Gelassenheit auf, wie jener die seinigen aufzunehmen pflegte.

"Und dir", rief Werner aus, "der du an menschlichen Dingen so herzlichen Anteil nimmst, was wird es dir für ein Schauspiel sein, wenn du das Glück, das mutige Unternehmungen begleitet, vor deinen Augen den Menschen wirst gewährt sehen! Was ist reizender als der Anblick eines Schiffes, das von einer glücklichen Fahrt wieder anlangt, das von einem reichen Fange frühzeitig zurückekehrt! Nicht der Verwandte, der Bekannte, der Teilnehmer allein, ein jeder fremder Zuschauer wird hingerissen, wenn er die Freude sieht:, mit welcher der eingesperrte Schiffer ans Land springt, noch ehe sein Fahrzeug es ganz berührt, sich wieder frei fühlt und nunmehr das, was er dem falschen Wasser geraubt, der getreuen Erde anvertrauen kann. Wir leben im Gewinn und Verlust, und wenn uns beides nur in Zahlen zu Gesichte kommt, so macht uns das eine dunkle Furcht und dagegen das andere keine innerliche, herzliche Freude. Das Glück ist die Göttin der lebendigen Menschen, und um seine Gunst recht zu fühlen, muß man leben und Menschen sehen, die sich recht lebendig und sinnlich fühlen." Werner beschrieb dergleichen Szenen mehr, die seinen Freund lockten und aufmunterten. Er fühlte sich schon lange wieder munter und gesund, etwas zu unternehmen; zu Hause gefiel es ihm nicht, und er sann auf allerlei Gelegenheit, wie er sich in der Welt umsehen wollte, und was alles darinne zu treiben und anzufangen sein möchte. Es gefiel ihm daher ganz wohl, daß Werner von einer Reise sprach, und er antwortete: "Wenn du denkst, daß Geld zu dieser Ausgabe vorrätig sei und daß es gut angewendet sein möchte, so bin ich es gerne zufrieden. Ich möchte mich freilich auch gerne einmal ein wenig umsehen, und da du schon ziemlich herumgekommen bist, so wirst du am besten tun, mir einen Plan zu machen, dem ich willig folgen werde." – "So viel", versetzte Werner, "wirst du immer finden, als du brauchst, und nach meiner Rechnung soll deine Reise noch Geld einbringen." – "Das möchte so gar gewiß nicht sein", versetzte Wilhelm, "ob ich dabei so viel lerne, das Gelds wert sein möchte." – "So verstehe ich’s auch nicht", sagte jener. "Du kannst unterweges mit der größten Bequemlichkeit Geschäfte machen, die uns einträglich sind. Ich habe aus unsern Büchern neulich alle Schulden ausgezogen, die an allen Orten und Enden unserer Handlung zurückstehen; ich setze dir die nötigen Erläuterungen auf, gebe dir die Papiere mit, und du kannst auf deinem Wege spielend nicht allein dein Reisegeld überall mitnehmen, sondern mir auch von Zeit zu Zeit etwas schicken; denn es sind ansehnliche Summen drunter, die ich nicht ganz verloren gebe." – "Es ist freilich keine angenehme Beschäftigung", sagte Wilhelm, "Schulden zu mahnen." – "Es kommt nur auf die Gewohnheit an", sagte Werner, "und man wird leichter mit den Leuten fertig, als man denkt. Ich halte sehr viel auf die Gegenwart, man kommt viel schneller mit seinen Schuldnern auseinander und macht sich leicht neue Kunden; die Menschen wollen angetrieben sein. Wir müssen darüber weiter sprechen, und du wirst gar bald und gerne dich mit meinen Gedanken vereinigen. Der Vater ist es leicht zufrieden, es war ja schon vor deiner Krankheit die Absicht. Kommst du alsdann wieder, so hast du doch alles gesehen, hast die Leute kennenlernen und wirst dich endlich gewiß in Geschäften an meiner Seite gerne bearbeiten. In großen Städten siehst du dich um und besuchst die merkwürdigen Fabriken und Gebäude, findest abends gute Gesellschaften, auch ein wohleingerichtetes Theater, welches ich dir zu sehen wohl einmal gönnen möchte." Was hier Werner zuletzt vorbrachte, war das, woran Wilhelm zuerst gedacht hatte, und das schwerste Gewicht in seiner Waagschale. Sie wurden bald des Handels einig und das Nötige herbeigeschafft und besorgt.

 

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