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Wilhelm Meisters Theatralische Sendung

ERSTES BUCH

Erstes Kapitel

Es war einige Tage vor dem Christabend 174-, als Benedikt Meister, Bürger und Handelsmann zu M-, einer mittleren Reichsstadt, aus seinem gewöhnlichen Kränzchen abends gegen achte nach Hause ging. Es hatte sich wider die Gewohnheit die Tarockpartie früher geendigt, und es war ihm nicht ganz gelegen, daß er so zeitlich in seine vier Wände zurückkehren sollte, die ihm seine Frau eben nicht zum Paradiese machte. Es war noch Zeit bis zum Nachtessen, und so einen Zwischenraum pflegte sie ihm nicht mit Annehmlichkeiten auszufüllen, deswegen er lieber nicht ehe zu Tische kam, als wenn die Suppe schon etwas überkocht hatte.

Er ging langsam und dachte so dem Bürgermeisteramte nach, das er das letzte Jahr geführt hatte, und dem Handel und den kleinen Vorteilen, als er eben im Vorbeigehen seiner Mutter Fenster sehr emsig erleuchtet sah. Das alte Weib lebte, nachdem sie ihren Sohn ausgestattet und ihm ihre Handlung übergeben hatte, in einem kleinen Häuschen zurückgezogen, wo sie nun vor sich allein mit einer Magd bei ihren reichlichen Renten sich wohlbefand, ihren Kindern und Enkeln mitunter was zugute tat, ihnen aber das Beste bis nach ihrem Tode aufhub, wo sie hoffte, daß sie gescheuter sein sollten, als sie bei ihrem Leben nicht hatte sehen können. Meister war durch einen geheimen Zug nach dem Hause geführt, da ihm, als er angepocht hatte, die Magd hastig und geheimnisvoll die Türe öffnete und ihn zur Treppe hinauf begleitete. Er fand, als er zur Stubentüre hineintrat, seine Mutter an einem großen Tische mit Wegräumen und Zudecken beschäftigt, die ihm auf seinen "Guten Abend" mit einem "Du kommst mir nicht ganz gelegen" antwortete. "Weil du nun einmal da bist, so magst du's wissen, da sieh, was ich zurechtmache", sagte sie und hob die Servietten auf, die übers Bett geschlagen waren, und tat zugleich einen Pelzmantel weg, den sie in der Eile übern Tisch gebreitet hatte, da nun denn der Mann eine Anzahl spannenlanger, artig gekleideter Puppen erblickte, die in schöner Ordnung, die beweglichen Drähte an den Köpfen befestigt, nebeneinander lagen und nur den Geist zu erwarten schienen, der sie aus ihrer Untätigkeit regen sollte. "Was gibt denn das, Mutter?" sagte Meister. "Einen heiligen Christ vor deine Kinder!" antwortete die Alte, "wenn's ihnen so viel Spaß macht als mir, eh ich sie fertig kriegte, soll mir's lieb sein." Er besah's eine Zeitlang, wie es schien, sorgfältig, um ihr nicht gleich den Verdruß zu machen, als hielte er ihre Arbeit vergeblich. "Liebe Mutter", sagte er endlich, "Kinder sind Kinder, Sie macht sich zu viel zu schaffen, und am Ende seh ich nicht, was es nutzen soll." – "Sei nur stille", sagte die Alte, indem sie die Kleider der Puppen, die sich etwas verschoben hatten, zurechtrückte, "laß es nur gut sein, sie werden eine rechte Freude haben, es ist so hergebracht bei mir, und das weißt du auch, und ich lasse nicht davon; wie ihr klein, wart ihr immer drin vergackelt und trugt euch mit euern Spiel- und Naschsachen herum die ganze Feiertage; euere Kinder sollen's nun auch so wohl haben, ich bin Großmutter und weiß, was ich zu tun habe." – "Ich will Ihr's nicht verderben", sagte Meister, "ich denke nur; was soll den Kindern, daß man's ihnen heut oder morgen gibt; wenn sie was brauchen, so geb ich's ihnen, was braucht's da Heiliger Christ zu? Da sind Leute, die lassen ihre Kinder verlumpen und sparen's bis auf den Tag." – "Benedikt", sagte die Alte, "ich habe ihnen Puppen geputzt und habe ihnen eine Komödie zurechtegemacht, Kinder müssen Komödien haben und Puppen. Es war euch auch in eurer Jugend so, ihr habt mich um manchen Batzen gebracht, um den Doktor Faust und das Mohrenballett zu sehen; ich weiß nun nicht, was ihr mit euern Kindern wollt und warum ihnen nicht so gut werden soll wie euch."

"Wer ist denn das?" sagte Meister, indem er eine Puppe aufhub. "Verwirrt mir die Drähte nicht", sagte die Alte, "es ist mehr Mühe, als Ihr denkt, bis man's so zusammenkriegt. Seht nur, das da ist König Saul. Ihr müßt nicht denken, daß ich was umsonst ausgebe; was Läppchen sind, die hab ich all in meinem Kasten, und das bißchen falsch Silber und Gold, das drauf ist, das kann ich wohl dran wenden." – "Die Püppchen sind recht hübsch", sagte Meister. "Das denk ich", lächelte die Alte, "und kosten doch nicht viel. Der alte, lahme Bildhauer Merks, der mir Interessen schuldig ist von seinem Häuschen so lang, hat mir Hände, Füße und Gesichter ausschneiden müssen, kein Geld krieg ich doch nicht von ihm und vertreiben kann ich ihn nicht, er sitzt schon seit meinem seligen Mann her und hat immer richtig eingehalten bis zu seiner zwoten, unglücklichen Heurat." – "Dieser in schwarzem Samt und der goldenen Krone, das ist Saul?" fragte Meister; "wer sind denn die andern?" – "Das solltest du so sehen", sagte die Mutter. "Das hier ist Jonathan, der hat Gelb und Rot, weil er jung ist und flatterig, und hat einen Turban auf. Der oben ist Samuel, der hat mir am meisten Mühe gemacht mit dem Brustschildchen. Sieh den Leibrock, das ist ein schieler Taft, den ich auch noch als Jungfer getragen habe." – "Gute Nacht", sagte Meister, "es schlägt just achte." – "Sieh nur noch den David!" sagte die Alte. "Ah, der ist schön, der ist ganz geschnitzt und hat rote Haare; sieh, wie klein er ist und hübsch." – "Wo ist denn nun der Goliath?" sagte Meister; "der wird doch nun auch kommen." – "Der ist noch nicht fertig", sagte die Alte. "Das muß ein Meisterstück werden. Wenn's. nur erst alles fertig ist. Das Theater macht mir der Konstabler-Lieutenant fertig mit seinem Bruder; und hinten zum Tanz, da sind Schäfer und Schäferinnen, Mohren und Mohrinnen, Zwerge und Zwerginnen, es wird recht hübsch werden! Laß es nur gut sein und sag zu Hause nichts davon und mach nur, daß dein Wilhelm nicht hergelaufen kommt; der wird eine rechte Freude haben, denn ich denk's noch, wie ich ihn die letzte Messe ins Puppenspiel schickte, was er mir alles erzählt hat und wie er's begriffen hat." – "Sie gibt sich zu viel Mühe", sagte Meister, indem er nach der Türe griff. "Wenn man sich um der Kinder willen keine Mühe gäbe, wie wärt ihr groß geworden?" sagte die Großmutter.

Die Magd nahm ein Licht und führt' ihn hinunter. –

Zweites Kapitel

Der Christabend nahte heran in seiner vollen Feierlichkeit. Die Kinder liefen den ganzen Tag herum und standen am Fenster in ängstlicher Erwartung, daß es nicht Nacht werden wollte. Endlich rief man sie, und sie traten in die Stube, wo jedem sein wohlerleuchtetes Anteil zu höchstem Erstaunen angewiesen ward. Jeder hatte von dem Seinigen Besitz genommen und war nach einem Zeitlang Angaffen im Begriff, es in eine Ecke und in seine Gewahrsam zu bringen, als ein unerwartetes Schauspiel sich vor ihren Augen auftat. Eine Tür, die aus einem Nebenzimmer hereinging, öffnete sich, allein nicht wie sonst zum Hin- und Widerlaufen; der Eingang war durch eine unerwartete Festlichkeit ausgefüllt, ein grüner Teppich, der über einem Tisch herabhing, bedeckte fest angeschlossen den untern Teil der Öffnung, von da auf baute sich ein Portal in die Höhe, das mit einem mystischen Vorhang verschlossen war, und was von da auf die Türe noch zu hoch sein mochte, bedeckte ein Stück dunkelgrünes Zeug und beschloß das Ganze. Erst standen sie alle von fern, und wie ihre Neugierde größer wurde, um zu sehen, was Blinkendes sich hinter dem Vorhang verbergen möchte, wies man jedem sein Stühlchen an und gebot ihnen freundlich, in Geduld zu erwarten. Wilhelm war der einzige, der in ehrerbietiger Entfernung stehen blieb und sich's zwei-, dreimal von seiner Großmutter sagen ließ, bis er auch sein Plätzchen einnahm. So saß nun alles und war still, und mit dem Pfiff rollte der Vorhang in die Höhe und zeigte eine hochrot gemalte Aussicht in den Tempel. Der Hohepriester Samuel erschien mit Jonathan, und ihre wechselnde Stimmen vergeisterten ganz ihre kleine Zuschauer. Endlich trat Saul auf in großer Verlegenheit über die Impertinenz, womit der schwerlötige Kerl ihn und die Seinigen ausgefordert hatte – wie wohl ward's da unserm Wilhelm, der alle Worte abpaßte und bei allem zugegen war, als der zwerggestaltete, raupigte Sohn Isai mit seinem Schäferstab und Hirtentasche und Schleuder hervortrat und sprach: "Großmächtigster König und Herr Herr! es entfalle keinem der Mut um dessentwillen; wenn Ihro Majestät mir erlauben wollen, so will ich hingehen und mit dem gewaltigen Riesen in den Streit treten." Dieser Aktus endigte sich. Die übrigen Kleinen waren alle vergackelt, Wilhelm allein erwartete das Folgende und sann drauf; er war unruhig, den großen Riesen zu sehen, und wie alles ablaufen würde.

Der Vorhang ging wieder auf. David weihte das Fleisch des Ungeheuers den Vögeln unter dem Himmel und den Tieren auf dem Felde. Der Philister sprach Hohn, stampfte viel mit beiden Füßen, fiel endlich wie ein Klotz und gab der ganzen Sache einen herrlichen Ausschlag. Wie dann nachher die Jungfrauen sungen: "Saul hat tausend geschlagen, David aber zehentausend", und der Kopf des Riesen vor dem kleinen Überwinder hergetragen wurde und er davor die schöne Königstochter zur Gemahlin kriegte, verdroß es Wilhelmen doch bei aller Freude, daß der Glücksprinz so zwergenmäßig gebildet wäre. Denn nach der Idee vom großen Goliath und kleinen David hatte die liebe Großmutter nichts verfehlt, um beide recht charakteristisch zu machen. Die dumpfe Aufmerksamkeit der übrigen Geschwister dauerte ununterbrochen fort, Wilhelm aber geriet in eine Nachdenklichkeit, darüber er das Ballett von Mohren und Mohrinnen, Schäfern und Schäferinnen, Zwergen und Zwerginnen nur wie im Schatten vor sich hingaukeln sah. Der Vorhang fiel zu, die Türe schloß sich, und die ganze kleine Gesellschaft war wie betrunken taumelnd und begierig, ins Bett zu kommen; nur Wilhelm, der aus Gesellschaft mit mußte, lag allein, dunkel über das Vergangene nachdenkend, unbefriedigt in seinem Vergnügen, voller Hoffnungen, Drang und Ahndung.

Drittes Kapitel

Den andern Tag war eben alles wieder verschwunden, der mystische Schleier war aufgehoben, man ging durch diese Türe wieder frei aus einer Stube in die andre, aus der abends vorher so viel Abenteuer geleuchtet hatten. Die übrigen liefen mit ihren Spielsachen auf und ab, Wilhelm allein schlich hin und her, als wenn er eine verlorne Liebe suchte, als wenn er's fast unmöglich glaubte, daß da nur zwei Türpfosten sein sollten, wo gestern so viel Zauberei gewesen war. Er bat seine Mutter, sie möchte es ihm doch wieder spielen lassen, von der er eine harte Antwort bekam, weil sie keine Freude an dem Spaße, den die Großmutter ihren Enkeln machte, haben konnte, da dieses ihr einen Vorwurf ihrer Unmütterlichkeit zu machen schien. Es ist mir leid, daß ich es sagen muß, indes ist es wahr, daß diese Frau, die von ihrem Manne fünf Kinder hatte, zwei Söhne und drei Töchter, wovon Wilhelm der Älteste war, noch in ihren ältern Jahren eine Leidenschaft für einen abgeschmackten Menschen kriegte, die ihr Mann gewahr wurde, nicht ausstehen konnte und worüber Nachlässigkeit, Verdruß und Hader sich in den Haushalt einschlich; daß, wäre der Mann nicht ein redlicher, treuer Bürger und seine Mutter eine gutdenkende, billige Frau gewesen, schimpflicher Ehe- und Scheidungsprozeß die Familie entehrt hätte. Die armen Kinder waren am übelsten dran; denn wie sonst so ein hülfloses Geschöpf, wenn der Vater unfreundlich ist, sich zu der Mutter flüchtet, so kamen sie hier von der andern Seite doppelt übel an, denn die Mutter hatte in ihrer Unbefriedigung meistens auch üble Launen, und wenn sie die nicht hatte, so schimpfte sie doch wenigstens auf den Alten und freute sich, eine Gelegenheit zu finden, wo sie seine Härte, seine Rauhigkeit, sein übles Betragen heraussetzen konnte. Wilhelmen schmerzte das etlichemal, er verlangte nur Schutz gegen seinen Vater und Trost, wenn er ihm übel begegnet war; aber daß man ihn verkleinerte, konnte er nicht leiden, daß man seine Klagen als Zeugnisse gegen einen Mann mißdeutete, den er im Grunde des Herzens recht liebhatte. Er kriegte dadurch eine Entfremdung gegen seine Mutter und war daher recht übel dran, weil sein Vater auch ein harter Mann war; daß ihm also nichts übrigblieb, als sich in sich selbst zu verkriechen, ein Schicksal, das bei Kindern und Alten von großen Folgen ist.

Viertes Kapitel

Wilhelm hatte in seiner Kindlichkeit eine Zeitlang hingelebt, manchmal an jenen glücklichen Weihnachtsabend überhin gedacht, immer gerne Bilder gesehen, Feen- und Heldengeschichten gelesen, als die Großmutter, die doch auch so viel Mühe nicht umsonst wollte gehabt haben, bei dem langüberlegten Besuch einiger Nachbarskinder veranlassete, daß das Puppenspiel wieder aufgeschlagen und wieder gegeben wurde.

Hatte Wilhelm das erstemal die Freude der Überraschung und des Staunens, so hatte er zum zweiten die Wollust des Aufmerkens und Forschens. Wie das zuginge, war jetzo sein Anliegen. Daß die Puppen nicht selbst redeten, das hatte er sich das erstemal schon gesagt; daß sie sich nicht von selbst bewegten, darüber ließ er sich nicht vexieren; aber warum das alles doch so hübsch war und es doch so aussah, als wenn sie selbst redeten und sich bewegten, warum man so gerne zusah und wo die Lichter und die Leute sein möchten, das war ihm ein Rätsel, das ihn um desto mehr beunruhigte, je mehr er wünschte, zugleich unter den Bezauberten und Zauberern zu sein, zugleich seine Hände verdeckt im Spiel zu haben und als Zuschauer ebendie Freude zu genießen, die er und die übrige Kinder empfingen. Das Stück war bald zu Ende und wieder am Tanz, als er sich listig der Hülle zu nähern suchte. Kaum war der Vorhang gefallen, man war unaufmerksam, und er hörte inwendig am Klappern, daß man mit Aufräumen beschäftigt sei, so hub er den untern Teppich auf und guckte zwischen den Tischbeinen weg. Eine Magd bemerkte es haußen und zog ihn zurück, allein er hatte doch so viel gesehen, daß man Freunde und Feinde, Saul und Goliath, Mohren und Zwerge in einen Schiebkasten packte, und das war seiner halbbefriedigten Neugierde frische Nahrung. So wie in gewissen Zeiten die Kinder auf den Unterschied der Geschlechter aufmerksam werden und ihnen Blicke durch die Hüllen, die diese Geheimnisse verbergen, gar wunderbare Bewegungen in ihrer Natur hervorbringen, so war's Wilhelmen mit dieser Entdeckung; er war ruhiger und unruhiger als vorher, deuchte sich, daß er was erfahren hätte, und spürte eben daran, daß er gar nichts wisse.

Fünftes Kapitel

Die Kinder haben in einem wohleingerichteten und geordneten Hause eine Empfindung, wie ungefähr Ratten und Mäuse haben mögen, sie sind aufmerksam auf alle Ritze und Löcher, wo sie zu einem verbotenen Naschwerke gelangen können; sie genießen's mit einer verstohlenen, wollüstigen Furcht, und ich glaube, daß dieses ein großer Teil des kindischen Glücks ist. Wilhelm war vor allen seinen Geschwistern aufmerksam, wenn irgend ein Schlüssel steckenblieb. Je größer die Ehrfurcht war, die er für die verschloßnen Türen in seinem Herzen herumtrug, an denen er wochen- und monatelang vorbeigehen mußte und in die er nur manchmal, wenn die Mutter das Heiligtum öffnete, um was herauszuholen, einen verstohlnen Blick tun durfte, desto schneller war er, einen Augenblick zu benutzen, den ihn die Nachlässigkcit der Wirtschafterin manchmal treffen ließ. Unter allen Türen war, wie man leicht erachten kann, die Türe der Speisekammer diejenige, auf die seine Sinnen am schärfsten gerichtet waren. Wenig ahndungsvolle Freuden des Lebens glichen der Empfindung, wenn ihn seine Mutter manchmal hereinrufte, um ihr etwas heraustragen zu helfen, und er dann einige gedörrte Pflaumen entweder ihrer Güte oder seiner List zu danken hatte. Die aufgehäufte Schätze übereinander umfingen seine Einbildungskraft mit ihrer Fülle, und selbst der unangenehme Geruch von so mancherlei Ausdünstungen durcheinander, als da sind: Seife, Licht, Zitronen und mancherlei alte und neue Büchsen, hatte so eine leckere Wirkung auf ihn, daß er niemals versäumte, sooft er in der Nähe war, sich an der eröffneten Atmosphäre auf einige Schritte wenigstens von ferne zu weiden. Dieser merkwürdige Schlüssel blieb einen Sonntagmorgen, da seine Mutter von dem Geläute übereilt ward und das ganze Haus in einer tiefen Sabbatstille lag, stecken. Kaum hatte es Wilhelm bemerkt, als er etlichemal sachte davor auf- und abging, sich endlich still und fein andrängte, die Türe öffnete und sich mit einem Schritt in der Nähe so vieler langgewünschter Glückseligkeit fühlte. Er besah Kästen, Säcke, Schachteln, Büchsen, Gläser mit einem schnellen, zweifelnden Blick, was er wählen und nehmen sollte, grift endlich nach den vielgeliebten dürren Pflaumen, versah sich mit einigen getrockneten Äpfeln und nahm genügsam noch eine eingemachte Pomeranzenschale dazu, mit welcher Beute er seinen Weg wieder rückwärtsglitschen wollte, als ihm ein paar nebeneinander stehende Kasten in die Augen fielen, aus deren einem ein paar Drähte, oben mit Häkchen versehen, durch den übel verschlossenen Schieber heraushingen. Ahndungsvoll fiel er darüber her, und mit welcher überirdischen Empfindung entdeckte er, daß darinnen seine Helden- und Freudenwelt aufeinandergepackt sei. Er wollte die obersten aufheben, betrachten, die untersten hervorziehen, allein gar bald verwirrte er die leichten Drähte, kam darüber in Unruh und Bangigkeit, besonders da er die Köchin in der benachbarten Küche einige Bewegung machen hörte, daß er alles, so gut er konnte, zusammendrückte, seinen Kasten zuschob und nur ein geschriebenes Büchelchen, darin die Komödie von David und Goliath aufgezeichnet war und das obenauf gelegen hatte, zu sich steckte und sich mit dieser Beute leise die Treppe hinauf in eine Dachkammer rettete. –

Von der Zeit an wandte er alle verstohlene, einsame Stunden drauf, sein Schauspiel hin und wider zu lesen, es auswendig zu lernen und sich in Gedanken vorzustellen, wie herrlich es sein müßte, wenn er auch die Gestalten dazu mit seinen Fingern beleben könnte; er ward darüber in seinen Gedanken selbst zum David und zum Goliath, spielte beide wechselsweise vor sich allein, und ich kann im Vorbeigehen nicht unbemerkt lassen, was vor einen magischen Eindruck Böden, Ställe und heimliche Gemächer auf die Kinder zu machen pflegen, wo sie, von dem Druck ihrer Lehrer befreit, sich fast ganz allein selbst genießen, eine Empfindung, die sich in spätern Jahren langsam verliert und manchmal wiederkehrt, wenn die Orte unsaubrer Notwendigkeit eine geheime Kanzlei für unglücklich Liebende abgeben müssen. An solchen Orten und unter solchen Umständen studierte Wilhelm das Stück ganz in sich hinein, ergriff alle Rollen und lernte sie auswendig, nur daß er sich meist an den Platz der Haupthelden zu setzen pflegte und die übrigen wie Trabanten nur im Gedächtnis so mitlaufen ließ. So lagen ihm die großmütige Reden Davids, mit denen er den übermütigen Riesen Goliath herausfoderte, Tag und Nacht im Sinn, er murmelte sie oft vor sich hin, niemand gab acht drauf, als daß sein Vater, der es hier und da bemerkte, bei sich selbst das gute Gedächtnis des Knaben pries, der von so wenigem Zuhören so mancherlei habe behalten können.

Sechstes Kapitel

An einem Abend, als die Großmutter ihren Wilhelm zu sich berufen hatte und er in großer Stille bei ihr saß und aus Zeraten sich mancherlei Gestalten zusammenformte, stellte er endlich auch einen Goliath und David auf und ließ sie gegeneinander gar trefflich perorieren, da denn am Ende Goliath einen derben Stoß bekam, daß die wächsernen Füße von dem Tische sich lösten und er in seiner Länge dalag. Sein Kopf wurde sogleich vom Rumpfe gesondert, der kleinen Heuschrecke auf einer Stecknadel mit wächsernem Griff in die Hand gegeben, und so weiter ein Dankpsalm angestimmt. Die Alte saß ganz verzaubert, hörte ihrem Enkel mit Erstaunen zu, und wie er fertig war, ging's an ein Loben und Fragen, woher er diese Geschicklichkeit habe. Er hatte zwar eine ziemliche Gabe zu lügen, aber dabei ein reines Gefühl, wo er nicht zu lügen nötig habe. Er gestund seiner guten Großmutter, daß er im Besitz des Büchelchens sei, bat sie aber inständig, ihn dabei zu schützen und ihn nicht zu verraten, weil er's gewiß nicht verderben noch verlieren wollte. Die Alte versprach's ihm, und mit dem mündlichen Versprechen tat sie ihm und eigentlich sich selbst noch eins, daß sie den Vater dahin bewegen wolle, seinen Sohn vor irgendeiner Kinderversammlung in Gesellschaft des Artillerie-Lieutenants das große Drama selbst aufführen zu lassen. Sie verbot also Wilhelmen, weiter nichts von der Sache zu erwähnen, und machte sich wenige Tage drauf an die Unterhandlung und fand einige Schwierigkeiten. Die vorzüglichste davon war, daß ihr Sohn durch das anhaltende üble Betragen seiner Frau in die unangenehmste Gemütsverfassung versetzt war. Die ganze Sorge des Handels lag auf ihm, und sein Weib, anstatt das zu erkennen und wieder auf eine andre Weise förderlich zu sein, war sie die erste, ihn im Unglück aufzureiben, seine Handlungen zu mißdeuten, seine Fehler zu vergrößern und sein Gutes nicht zu erkennen; das gab bei seiner angebornen bürgerlichen Tätigkeit ein trauriges Mittelgefühl von vergebenem Streben und Arbeiten, wie es die Verdammten in der Hölle haben sollen. Und wenn er seine Kinder nicht gehabt hätte, auf die ein Blick ihm nicht manchmal wieder Mut und Überzeugung, daß er doch für etwas in der Welt arbeite, gegeben hätte, so wäre ihm nicht möglich gewesen, es auszuhalten. In solcher Stimmung verliert der Mensch ganz allen Sinn für die Kinderfreuden, die auch eigentlich zu erfinden und anzuwenden nicht des Vaters, sondern der Mutter Sache ist, und ist dann diese ein Unhold, so bleibt der armen Familie in ihren seligsten Jahren gar wenig Trost. Dieser Trost war ihnen hier die Großmutter. Sie wußte es denn doch so einzurichten, daß man ein paar Kammern, in denen nichts als Schränke stunden, im dritten Stock, dazu hergab, wo in der einen wieder die Zuschauer sitzen, in der andern die Schauspieler sein und die Aussicht des Theaters wie gewöhnlich die Öffnung der Türe ausfüllen sollte.

Der Alte hatte der Großmutter das alles zu veranstalten erlaubt; er selbst schien nur durch die Finger zu sehen, denn er hatte den Grundsatz, daß man den Kindern nicht müsse merken lassen, wie lieb man sie habe, sie griffen immer zu weit um sich, man müsse bei ihren Freuden ernst scheinen und sie ihnen manchmal verderben, damit sie nicht in das Übermaß fielen.

Siebentes Kapitel

Der Artillerie-Lieutenant, der ein Pate der Großmutter war, ward nunmehr beordert, das Theater aufzuschlagen und das übrige zu besorgen. Wilhelm merkte es wohl, da er die Woche verschiedentlich zu ungewöhnlicher Zeit ins Haus kam. Seine Begierde wuchs nur, da er wohl fühlte, daß er vor Sonnabend keinen Teil dran nehmen durfte. Endlich erschien der gewünschte Samstag. Abends fünf Uhr kam der Artillerie-Lieutenant und nahm Wilhelmen mit hinauf. Mit zitternder Freude trat er mit herein und erblickte auf beiden Seiten des Gestells die herabhangenden Puppen in der Ordnung, wie sie auftreten sollten; er betrachtete sie sorgfältig, stieg auf den Tritt, der ihn über das Theater erhub, daß er über seiner kleinen Welt schwebte; er sah nicht ohne Ehrfurcht zwischen die Brettchen hinunter, weil noch die Erinnerung, welch herrliche Wirkung es von außen tue, und das Gefühl, in welche Geheimnisse er eingeweihet sei, ihn umfaßte. Sie machten einen Versuch, und es ging trefflich.

Den andern Tag, da eine Gesellschaft Kinder geladen war, desgleichen, außer daß Wilhelm in dem Feuer der Aktion seinen Jonathan fallen ließ und er genötigt war, mit der Hand hinunterzugreifen und ihn zu holen, das denn die Illusion sehr unterbrach, ein großes Gelächter verursachte und ihn unsäglich kränkte. Auch schien dieser Fehler dem Vater sehr willkommen zu sein, der zwar in sich das größte Vergnügen fühlte, sein Söhnchen so fähig zu sehen, es aber wohlbedächtlich nicht an den Tag gab, nach geendigtem Stück sich gleich an die Fehler hing und sagte, es wäre recht artig gewesen, wenn nur dies oder das nicht versagt hätte. Unsern Prinzen kränkte das innig, er ward traurig für den Abend, hatte es aber den kommenden Morgen schon wieder verschlafen und ward in dem Gedanken selig, daß er außer dem Unglück trefflich gespielt habe; und es war dies nicht Eigendünkel, denn er hatte kein Muster vor sich als den Lieutenant, gegen das er sich messen konnte, der zwar in Abwechslung der groben und reinen Stimme ein Ziemliches getan hatte, hergegen aber auch affektiert: und steif perorierte, wenn man bei Wilhelmen eine gute, treue, mutige Seele in den Hauptstellen durchsah, wie zum Exempel die Aufforderung Goliaths war und die Bescheidenheit, womit er nach dem Siege vor dem König erschien.

Achtes Kapitel

G'nug, das Theater blieb aufgeschlagen, und da es nun die hübsche Frühlingszeit war und man ohne Feuer bestehen konnte, lag Wilhelm seine Frei- und Spielstunden in der Kammer und ließ die Puppen wacker durcheinanderspielen. Oft lud er seine Geschwister und Kameraden hinauf, öfter aber noch war er allein. Seine Einbildungskraft und seine Lebhaftigkeit brüteten über der kleinen Welt, die so gar bald eine andere Gestalt gewinnen mußte. Er hatte kaum das erste Stück, wozu das Theater und die Akteurs geschaffen und gestempelt waren, etlichemal aufgeführet, als es ihm keine Freude mehr machte. Er hatte unter den Büchern seines Vaters die "Teutsche Schaubühne" und verschiedene italienisch-teutsche Opern gefunden, in die er sich sehr vertiefte und jedesmal gleich vorne die Personen überrechnete und das Stück aufführte. Da mußte nun König Saul in seinem schwarzen Samtkleide den Chaumigrem, Cato und Darius spielen, wobei zu bemerken ist, daß die Stücke niemals ganz, sondern meistenteils nur die fünften Akte, wo's an ein Totstechen ging, aufgeführet wurden. Es konnte auch nicht fehlen, daß ihn die Oper mit ihren mannigfaltigen Veränderungen und Abenteuren mehr anzog. Er fand darin stürmische Meere, Götter, die in Wolken herabkommen, und, was ihn vorzüglich glücklich machte, Blitz und Donner. Er half sich da mit Pappe, Farbe und Papier, wußte gar trefflich Nacht zu machen, der Blitz war fürchterlich anzusehen, nur der Donner gelang nicht immer, doch das hatte so viel nicht zu sagen. Auch fand sich in den Opern mehr Gelegenheit, seinen David und Goliath anzubringen, welches im regelmäßigen Drama gar nicht angehen wollte. Er fühlte täglich mehr Anhänglichkeit für das enge Plätzchen, wo er so mannigfaltige Freude genoß, und ich kann nicht unbemerkt lassen, daß der Geruch, den die Puppen aus der Speisekammer an sich gezogen hatten, nicht wenig dazu beitrug. Das Theater war nun in ziemlicher Vollkommenheit, und daß er von Jugend auf ein Geschick gehabt hatte, mit dem Zirkel ein bißchen umzugehen und Pappe auszuschneiden und zu illuminieren, kam ihm jetzt wohl zustatten, und nun tat's ihm um desto weher, daß ihn gar oft seine Personen an Ausführung großer Sachen hinderten. Seine Schwestern, die er ihre Puppen aus- und einkleiden sah, erregten in ihm den Gedanken, seinen Helden auch bewegliche Kleider nach und nach zu verschaffen. Man trennte ihnen also die Läppchen vom Leibe, setzte sie, so gut man konnte, zusammen, sparte sich etwas Geld, kaufte sich neues Band und Flintern, bettelte sich manches Stück Taft zusammen und schaffte sich nach und nach eine neue Theatergarderobe, wo besonders die Reifröcke für die Damen nicht vergessen waren. Er war wirklich nun für das größte Stück versehen, und man hätte denken sollen, es würde nun erst recht an ein Spielen gehen, aber es ging ihm, wie's den Kindern öfters zu gehen pflegt, sie fassen weite Plane, machen große Anstalten, auch wohl einige Versuche, und es bleibt alles zusammen liegen. Mit Wilhelmen war's vollkommen so, die größte Freude lag bei ihm nur in der Erfindung und in der Einbildungskraft; dies oder jenes Stück interessierte ihn um irgendeiner Szene willen, er ließ gleich wieder ein neu Kleid dazu machen. Über diese Wirtschaft waren die Kleidungsstücke, die sie ursprünglich anhatten, in Unordnung geraten und verschleppt worden, daß also nicht einmal das erste Stück mehr gut aufgeführt werden konnte. Die Großmutter hütete aus Alter und Schwächlichkeit das Bette, niemand im Haus gab weiter Achtung drauf, so daß in kurzer Zeit das Theater in große Unordnung geriet. Wilhelm überließ sich seiner Phantasie, probierte und bereitete ewig, ohne was zustande zu bringen, baute tausend Luftschlösser und spürte nicht, daß er noch keinen Grund zum ersten gelegt hatte.

Neuntes Kapitel

Die übrige Zerstreuungen der Jugend, da seine Gespanschaft sich zu vermehren anfing, taten auch dem einsamen, stillen Vergnügen Eintrag. Er war wechselsweise mit ihnen bald Jäger, bald Soldat, bald Reuter, wie es die Eigenschaft der Spiele mit sich brachte, doch hatte er immer darin einen Vorzug vor den andern, daß er imstande war, ihnen die nötigen Gerätschaften schicklich auszubilden. So waren die Schwerter meistens aus seiner Fabrik, er verzierte und verguldete die Schlitten, und aus einem geheimen Instinkt und alter Anhänglichkeit kam er bald drauf, ihre Miliz ins Antike umzuschaffen. Es wurden Helme verfertigt mit papiernen Büschen, Schilde, sogar Harnische wurden gemacht, Arbeiten, bei denen die Bedienten im Hause, die etwa Schneider waren, und die Nähterinnen manche Nadel zerbrachen. Einen Teil seiner jungen Gesellen sah er nun wohlgeschmückt vor sich, die übrige, weniger bedeutende wurden auch nach und nach, doch geringer ausstaffiert, und es war ein ganz stattliches Chor beisammen; sie marschierten in Höfen und Gärten, schlugen sich brav auf die Schilde und auf die Köpfe, es gab manche Mißheiligkeit, die Wilhelm bald beizulegen suchte. Dieses Spiel, was die andern sehr unterhielt, war kaum etlichemal getrieben worden, als es Wilhelmen schon nicht mehr befriedigte. Der Anblick so vieler gerüsteter Gestalten mußte ihm notwendig die Ritterideen aufreizen, die seit einiger Zeit, da er ins Lesen alter Romanen gefallen war, seinen Kopf ausfülleten. "Das befreite Jerusalem", davon er Koppens Übersetzung in die Hände gekriegt hatte, schlug den Zapfen aus dem Fasse. Ganz konnte er das Gedicht nicht lesen, da waren aber Stellen, die er auswendig wußte, deren Bilder ihn immer umschwebten. Besonders fesselte ihn Chlorinde mit ihrem ganzen Tun und Lassen. Die Mannweiblichkeit, die ruhige Fülle ihres Daseins taten mehr Wirkung auf den keimenden Geist der Liebe, der sich im Knaben zu entwickeln anfing, als die gemachten Reize Armidens, ob er gleich ihren Garten nicht verachtete. Aber hundert- und hundertmal, wenn er abends am Fenster stand und in den Garten sah und die Sommersonne, hinter die Berge gewichen, den hauchenden Schein am Horizont heraufdämmerte, die Sterne hervortraten und aus allen Winkeln und Tiefen die Nacht hervordrang und der klingende Ton der Frösche aus der Ferne durch die feierliche Stille schrillte, sage er sich die Geschichte ihres traurigen Todes vor. Sosehr er von der Partei der Christen war, stund er ihr doch bei, den großen Turn anzuzünden. Arganten haßte er von Herzen und mißgönnte ihm die Gesellschaft des Engels. Und wie nun Tankred sie durch die Nacht entdeckt, unter der düstern Hülle der Streit beginnt und sie gewaltig kämpfen, er konnte nie die Worte aussprechen:

daß ihm nicht die Tränen in die Augen kamen, die reichlich flossen, wie der unglückliche Liebhaber ihr das Schwert in die Brust stößt, der Sinkenden den Helm löst und zur Taufe bebend das Wasser holt. Wie nun dann in dem bezauberten Wald Tankredens Schwert den Baum verletzt, Blut nach dem Hiebe fließt und eine Stimme ihn ans Herz trifft, daß er hier Chlorindens Wunde wieder aufreiße, und er vom Schicksal bestimmt zu sein scheint, das, was er liebt, unwissend zu verderben, ging unserm Wilhelm ganz das Herz über; es bemächtigte sich die Geschichte so seiner Einbildungskraft, daß sich ihm, was er von dem Gedichte gelesen hatte, dunkel zu einem Ganzen in der Seele bildete, ihn hinriß, und er, ohne zu wissen wie, ernstlich dran dachte, es vorzustellen. Er wollte Tankred und Reinalden spielen und fand dazu zwei Rüstungen ganz bereit, die er schon gefertigt hatte. Die eine von dunkelgrau Papier mit Schuppen sollte den ernsten Tankred, die andre von Silber- und Goldpapier den glänzenden Reinald zieren.

In der Lebhaftigkeit seiner Vorstellung erzählte er alles seinen Gespanen, die davon ganz entzückt waren und nur nicht wohl begreifen konnten, wie es an den Punkt kam, daß es aufgeführt, und zwar von ihnen aufgeführt werden sollte. Allen diesen Zweifeln half Wilhelm mit vieler Leichtigkeit ab. Er disponierte gleich über ein paar Zimmer in eines benachbarten Gespielen Haus, ohne zu berechnen, daß die alte Tante sie nimmermehr hergeben werde; ebenso war's mit dem Theater, wovon er auch keine bestimmte Idee hatte, außer daß man's auf Balken setzen, die Kulissen von geteilten spanischen Wänden hinstellen und zum Grund ein großes Tuch nehmen müsse. Woher aber alles kommen sollte, das hatte er nicht bedacht. Für den Wald fanden sie eine gute Auskunft, sie gaben einem alten Bedienten aus einem der Häuser, der nun Oberförster geworden war, gute Worte, daß ihnen der junge Birken und Fichten zukommen ließ: die wurden auch wirklich herbeigebracht, und nun fand man sich in großer Verlegenheit, wie man das Stück, eh die Bäume verdorrten, aufführen wolle. Nun war guter Rat teuer, es fehlte an Platz, am Theater, an Vorhängen. Die spanische Wände waren das einzige, was sie hatten. In dieser Verlegenheit gingen sie einen Vetter an, dem sie eine weitläufige Beschreibung von der Herrlichkeit machten, die es geben sollte; der wußte es zwar nicht zu verbinden, doch war er ihnen behülflich, schaffte in eine kleine Stube, was von Tischen im Haus und Nachbarschaft war, aneinander, stellte die Wände drauf, machte eine hintere Aussicht von grünen Vorhängen, die Bäume stunden auch gleich mit in der Reihe. Die Lichter waren angezündet, die Mädchen und Kinder hatten sich versammelt, es sollte angehn, die ganze Heldenschar war angezogen, nun spürte aber jeder zum erstenmal, daß er nicht wisse, was er zu sagen habe. In der Hitze der Erfindung, da Wilhelm ganz von seinem Gegenstand durchdrungen war, hatte er vergessen, daß doch jeder wissen müsse, was und wo er's zu sagen habe, und in der Lebhaftigkeit der Ausführung war's den übrigen auch nicht beigefallen. Sie glaubten, sie würden sich leicht als Helden darstellen, leicht so handeln und reden können wie die Personen, in deren Welt sie Wilhelms Gabe versetzt hatte.

Sie stunden alle erstaunt, fragten sich einander, was zuerst kommen sollte, und Wilhelm, der sich als Tankred vornenan gedacht hatte, fing, allein auftretend, einige Verse aus dem Heldengedicht herzusagen an. Weil aber das gar zu bald ins Erzählende überging und er in seiner eignen Rede endlich als dritte Person vorkam, auch der Gottfried, an dem die Sprache war, nicht herauskommen wollte, so mußte er eben unter großem Gelächter seiner Zuschauer wieder abziehen, ein Unfall, der ihn tiefer als manche folgende Leiden in der Seele kränkte. Das war nun verunglückt. Die Zuschauer saßen da und wollten was sehen. Gekleidet waren sie, Wilhelm raffte sich zusammen und entschloß sich kurz und gut, "David und Goliath" zu spielen. Einige der Gesellschaft hatten ehmals das Puppenspiel mit ihm aufgeführt, alle hatten es oft gesehen, man teilte die Rollen aus, es versprach jeder sein Bestes zu tun, und ein kleiner drolliger Junge malte sich einen schwarzen Bart, um, wenn ja eine Lücke einfallen sollte, sie als Hanswurst mit einer Posse auszufüllen; das sah Wilhelm sehr ungern, als dem Ernste des Stücks zuwider, mußte es aber diesmal zugeben. Doch schwur er sich, wenn er nur einmal aus dieser Verlegenheit hauß wäre, sich nie, als wohl vorher überlegt, an ein Stück zu wagen.

Zehntes Kapitel

Wilhelm kam nunmehr in die Jahre, wo die körperliche Kräfte sich meist zu entwickeln anfangen und wo man oft nicht begreifen kann, warum ein witziges und munteres Kind zusehends dumpf und unbetulich wird. Er las nunmehro viel und fand in Komödien immer seine beste Befriedigung, und was er von Romanen las, konnte er nicht umhin, in seinem Sinne zu Schauspielen umzubilden. Er war in dem Wahn, daß alles, was in der Erzählung ergötze, vorgestellt noch viel treffender sein müsse. Auch wenn er etwa den Abriß einer Welt- und Staatengeschichte in der Schule durchlesen mußte, zeichnete er sich sorgfältig aus, wo einer auf eine besondere Weise erstochen oder vergiftet wurde, weil sich, nach seiner Vorstellung, dieses zu einem fünften Akt gar trefflich qualifizierte, denn die vier vorhergehende bracht er in seinen Kompositionen nicht leicht in Anschlag, weil er sie in keinem Stück jemals gelesen hatte. Seine Kameraden, die in den Geschmack vom Agieren gekommen waren, veranlaßten ihn manchmal, Rollen auszuteilen, und er, der eine sehr lebhafte Vorstellungskraft hatte und sich in alle Rollen denken konnte, glaubte, er könne sie auch alle vorstellen; er nahm daher meistens die sich am wenigsten für ihn schickten, und, wenn's nur einigermaßen angehen wollte, gewöhnlich ein paar Rollen. Es ist ein Zug der Kindheit, aus allem alles machen zu können, sich die augenscheinlichsten Quiproquos nicht irren zu lassen. So spielten unsere Knaben fort, und jeder dünkte sich genug. Sie führten erst Stücke von bloß Mannspersonen auf, deren es nun nicht viel gibt, verkleideten nun bei andern einige aus ihrem Mittel und zogen zuletzt die Schwestern mit ins Spiel. In einigen Häusern sah man's als eine nützliche Beschäftigung an, lud Gesellschaften drauf. Ein verwandter Hagestolz, der sich Kenner zu sein ausgab, mischte sich drein, lehrte sie, wie sie sich stellen, deklamieren und abgehen sollten, mit welchem Unterricht Wilhelm meist übel zufrieden war, weil er sich dünkte, es immer noch besser zu machen als der es anwies. Sie fielen gar bald aufs Trauerspiel, sie hatten gar oft sagen hören und glaubten es selbst, es sei leichter, ein Trauerspiel als ein Lustspiel zu machen und vorzustellen, und waren auch durchgehends bei jenem zufriedner als bei diesem, weil hier das Platte, Abgeschmackte, Unnatürliche gar schnell in die Augen fiel, dort aber sie sich selbst als erhabne Wesen vorkamen und nichts war, das ihnen das Schwülstige, Affektierte, Übertriebne ihrer tragischen Aktion mißbilligte, besonders da sie im gemeinen Leben bemerkt hatten, daß viele Personen, die nichts bedeuten, sich durch steifes Betragen und fremde Grimassen ein Ansehen zu geben glauben.

Knaben und Mädchen waren in diesem Spiele nicht lange beisammen, als die Natur sich zu regen und die Gesellschaft sich in verschiedene kleine Liebesgeschichten zu teilen anfing, da denn meistenteils Komödie in der Komödie gespielt ward. Die glücklichen Paars kneipten sich hinter den Theaterwänden die Finger fast ab und verschwammen in Glückseligkeit, wenn sie sich einander so geschminkt und aufgebändert noch einmal so idealisch und schön vorkamen, indes gegenüber auf der andern Seite die unglückliche Nebenbuhler sich für Neid verzehrten und oft in kindischem Trotz und Schadenfreude ein- und andre Stellen verdarben oder verderben machten. Bei solchen Gelegenheiten zeigte sich immer Wilhelms Direktorialqualität in ihrem Glanze, denn wenn er in den Proben dergleichen Zwiste in Güte beizulegen suchte, nachgiebig war und über manches ein Auge zutat, wenn sie nur sonst sich Mühe gaben und ihre Rollen wohl auswendig wußten, so verstund er doch am Tage der Ausführung keinen Spaß, und sobald er in Halbstiefeln, in königlichem Mantel und Diadem hinter dem Vorhang stund, durfte nichts Profanes und Läppisches vorfallen, und wehe dem, der ihm etwa in einer Neronischen Stimmung in die Quere kam, der wurde gewiß mit so einem gräßlichen Blick, mit so viel Würde des Arms und Festigkeit der Stimme in seine Schuldigkeit zurückgeschröckt, daß für diesmal wenigstens Ruhe ward.

Je mehr und wichtigere Stücke sie spielten, je weiter sich ihre Gesellschaft ausbreitete, desto schwerer ward Wilhelm das Amt eines Direktors, das er als Stifter mit dem besten Willen aller hergebracht hatte. Wenn ein Stück vorgeschlagen und ausgesucht war, gab's manchen Verdruß, bis sie sich in die Rollen teilten; jeder machte an die ersten, an die Liebhaber und glänzenden, Anspruch, daß Wilhelm, dem's nur drum zu tun war, daß ein Stück gespielt wurde, oft selbst zurücktrat und großmütig eine geringere nahm, nur daß er sich nicht entschließen konnte, den Vertrauten zu spielen. Wenn nun überdies gar eins und das andere in den Proben verdrießlich ward und etwa aus abgeschmacktem Trutz kurz vor dem bestimmten Tage der Aufführung seine Rolle absagte, da hatte er nun freilich alle Gelegenheit, seine Geduld, seine Nachgiebigkeit, seine Überredensgabe zu üben. Es ging denn doch. Sein Eifer, seine Unverdrossenheit, seine Liebe zur guten Sache, die durch die leidlichste Eigenliebe genährt wurde, die Treue, womit die Vorzüglichsten von der Gesellschaft an ihn gebunden waren, erleichterten ihm alle Mühe, und wie sollte der nicht seinen Vorsatz zustande bringen, der, sobald davon die Rede war, keine andre Leidenschaft hatte, durch nichts abseits gebracht werden konnte, sondern der auf seinen vorgesetzten Zweck mit der möglichsten Gradheit und dem besten Mute losging und die Mitwanderer durch Freundlichkeit und Gutheit auf seinen Pfad lockte.

Ein besonder Schicksal war's, das hierin Wilhelms guten natürlichen Eigenschaften zu Hülfe kam, daß keine von den Mädchen, für die er zeitig genug eine Neigung empfand, mit von der theatralischen Gesellschaft sein konnten; seine Liebe zum Theater blieb ganz rein, und er konnte es ohne Mitwerben ansehen, wenn jeder von den andern seine Prinzessin auf den Thron setzen wollte. Diese Unparteilichkeit mehrte das Zutrauen der Seinigen, und öfters beruhigten sie sich bei seiner Entscheidung, die sie in unzuvergleichenden Fällen anzugehen pflegten.

Eilftes Kapitel

Das Knabenalter ist, glaub ich, darum weniger liebenswürdig als die Kindheit, weil es ein mittler, halber Zustand ist. Das Kindische klebt ihnen noch an, sie noch am Kindischen, allein sie haben mit der ersten Beschränktheit die liebevolle Behaglichkeit verloren, ihr Sinn steht vorwärts, sie sehen den Jüngling, den Mann vor sich, und weit auch ihr Weg dahin geht, eilt die Einbildung voraus, ihre Wünsche überfliegen ihren Kreis, sie ahmen nach, sie stellen vor, was sie nicht sein können noch sollen. Ebenso ist‘s mit dem innern Zustand ihres Körpers, ebenso mit ihrer Gestalt. Und so wurd‘s auch mit dem Theater unsrer jungen Freunde. Je länger sie spielten, je mehr Mühe sie sich gaben, wie sie nach und nach hie und da etwas aufhaschten, wurd ihr Spiel immer langweiliger, das Drollige ihrer ersten Unbefangenheit fiel weg, wo sie oft die Stücke, ohne es zu wissen, herrlich parodierten, es ward eine steife, einbildische Mittelmäßigkeit draus, die um desto fataler war, weil sie sich‘s selbst sagen konnten und oft gar von ihren Zuschauern hörten, daß sie sich um vieles gebessert hätten. Den größten Verderb brachte eine Gesellschaft Komödianten, die zu der Zeit in ihrer Stadt anlangte, unter sie. Die deutsche Bühne war damals in ebender Krise; man warf die Kinderschuhe weg, ehe sie ausgetreten waren, und mußte indes barfuß laufen. Unter diesen Schauspielern war zwar manches Natürliche und Gute, das unter der Last von Affektation, angenommenen Grimassen und Eigendünkel erstickt; und wie alles Unwahre am leichtesten nachgeahmt werden kann, so wie es am stärksten in die Augen fällt, so hatten unsere Liebhaber gar bald diese Krähen der fremden Federn berupft, um sich selbst damit auszustaffieren. Tritt, Stellung, Ton wurden unmerklich nachgeahmt, und sie machten sich allerseits wohl hinterher eine Ehre draus, wenn jemand ihrer Zuschauer so fein war zu finden, daß sie akkurat wie dieser oder jener Schauspieler anzusehen seien.

Zwölftes Kapitel

Der alte Meister setzte bei zunehmenden Jahren und immer gleichem Verdruß im Haushalt seine einzige Hoffnung auf Wilhelmen, dessen schöne Fähigkeiten ihm mitunter einen heitern Ausblick machten, nur wünschte er, daß der Knabe sie besser anwenden und sich zeitig und ganz dem Handelsgeschäfte widmen möchte. Auch hatte er in verschiedenen Stücken Ursache, mit seinem Sohne zufrieden zu sein. Französisch und Italienisch hatte er bald gelernt, im Lateinischen wußte er seinen Casum zu setzen, die Korrespondenz führte er mit vieler Leichtigkeit, außer daß hie und da, und besonders in den fremden Sprachen, ein theatralischer Ausdruck mit unterlief. Im Englischen gab er sich auch Mühe und im Laden war er unverbesserlich. Erstlich hatte er nie Langeweile, weil er an ruhigen Stunden gleich sein Buch oder seine Rolle unter dem Ladentisch hervorholte, zweitens weil er durch seine Leutseligkeit und gutes Betragen viele Leute herbeizog, zur rechten Zeit etwas zuzugeben wußte und über das unendliche Wählen der Frauenzimmer nie verdrießlich ward, ihnen vielmehr mit gutem Rate beistund und sie ehrlich abzuhalten suchte, wenn sie endlich für aller Wahl auf das Schlechteste zu fallen pflegten. Die Mädchen, die ihn auf dem Theater gesehen hatten, kamen meistenteils kurz drauf, um sich bei Tage zu überzeugen, wie er aussähe, und kamen meist miteinander darin überein, daß er zwar nicht so schön sei als bei Licht, geschminkt und in der Ferne, ihnen aber doch immer noch ganz wohl gefiel. Denn das ist gewiß, das Theater tingiert den Schauspieler mit einem gewissen Glanz, der auch sogar im gemeinen Leben nicht ganz von ihnen wegschwindet. Ihre Imagination suchte immer das schöne Bild, das ihnen vorschwebte, und wenn sie gleich anfangs unbefriedigt umkehrten, so kamen sie so lange wieder, wozu ihnen die Weitläufigkeit seines Handels erwünschte Gelegenheit gab, bis sie endlich alles zu finden glaubten oder wohl gar den frischen, wahren Burschen dem geschminkten, erlogenen Prinzen in der Ferne vorzogen.

Bei allen diesen guten Eigenschaften mangelte es ihm am wahren Geiste des Handelsmanns. Die Liebe zu Zahlen und besonders die Liehe zu Brüchen, in denen so viel zu stecken pflegt, ging ihm ab, Aufmerksamkeit auf kleine Vorteile, Gefühl von dem hohen Wert des Geldes. Mit großen Schmerzen bemerkte das der Alte oft, daß sein Sohn nie ein Rechner und vollkommner Wirt werden könne, ob er gleich ziemlich gut rechnen konnte und nichts verschwendete.

Wilhelms Geist war lang über diese niedre Bedürfnisse weg, besonders da ihm in seines Vaters Haus nichts abging, und er war viel zu lebhaft und aufrichtig, als daß nicht manchmal, selbst gegen seinen Vater, die Verachtung des Gewerbes durchgeblickt hätte. Er hielt es für eine drückende Seelenlast, für Pech, das die Flügel seines Geistes verleimte, für Stricke, die den hohen Schwung der Seele fesselten, zu dem er sich von Natur das Wachstum fühlte. Manchmal gab's über irgendeine solche Äußerung Streit zwischen Vater und Sohn, an dessen Ende der Alte meist erzürnt, der Junge bewegt und die Sache dadurch nichts besser ward, indem jede Partei nur ihrer Meinung gewisser zu werden schien und Wilhelm, der seinen Vater liebte, auch nicht gerne angefahren war, sich mehr in sich selbst verschloß. Sein Gefühl, das wärmer und stärker ward, seine Einbildung, die sich erhöhte, waren unverrückt gegen das Theater gewendet, und was Wunder? In eine Stadt gesperrt, ins bürgerliche Leben gefangen, im Häuslichen gedrückt, ohne Aussicht auf Natur, ohne Freiheit des Herzens. Wie die gemeinen Tage der Woche hinschlichen, mußte er mitunter hingehn, die alberne Langeweile der Sonn- und Festtage machte ihn nur unruhiger, und was er etwa auf einem Spaziergange von freier Welt sah, ging nie in ihn hinüber, er war zum Besuch in der herrlichen Natur, und sie behandelte ihn als Besuch. Und mit der Fülle von Liebe, von Freundschaft, von Ahndung großer Taten, wo sollte er damit hin? Mußte nicht die Bühne ein Heilort für ihn werden, da er wie in einer Nuß die Welt, wie in einem Spiegel seine Empfindungen und künftige Taten, die Gestalten seiner Freunde und Brüder, der Helden und die überblinkende Herrlichkeiten der Natur bei aller Witterung unter Dache bequem anstaunen konnte? Kurz, es wird niemand wundern, daß er wie so viele andere ans Theater gefesselt war, wenn man recht fühlt, wie alles unnatürliche Naturgefühl auf diesen Brennpunkt zusammengebannt ist.

Dreizehntes Kapitel

Mancherlei Schicksale zerstreuten die Gesellschaft, die sonst zusammen das kleine Theater belebt hatte. Doch Wilhelm blieb die Wurzel davon, die manchmal wieder ausschlug. Es währte nicht lange, so versammelte er eine Anzahl, ein oder ein paar Stücke wurden aufgeführt, bis die gewöhnlichen Theaterzwiste sie wieder zerstreuten. Wilhelm war der glücklichste Werber und Parteimacher; wo er hinging, folgte seine Theaterwelt ihm nach, wo in Gesellschaft Langeweile war, ersuchte man ihn, einen Monolog zu deklamieren, er tat's, und der Beifall, den er erhielt, war mit dem heimlichen Wunsche eines jeden verknüpft, es auch so machen zu können. Wenn nun der Vorrat von Monologen all war, mußte eins hintreten und die andere Rolle lesen, das gab Anlaß, Szenen zu zweien auswendig zu lernen, damit wurden mehre interessiert, und das Stück war beisammen.

Je lebendiger das Gefühl Wilhelmens wurde, desto mehr fingen ihm die meisten Stücke an zu mißfallen. Er hatte nun den ungeheuren Plunder teutsch- und französischen Theaters durchgelesen und kam immer mehr aus denen Jahren, wo man alles Gedruckte verschluckt, wo man an mittelmäßigen Sachen zwar nicht leicht Freude hat, doch aber alles um etwa einiger Stellen, eines rührenden Endes willen passieren läßt. Er suchte sich jetzo die heftigsten, höchst zärtlichen oder wütenden Szenen aus, und weil er von malerischer Stellung vieles gehört hatte, suchte er seine Deklamation mit mannigfaltigen Gebärden zu begleiten, die ihm nicht übel gelangen, weil er gut gebaut und von beweglichen Gliedern war, auch von Natur einen edeln Anstand hatte. Doch konnte es nicht fehlen, daß meist der Ausdruck etwas gewaltsam schien und die Zuschauer mehr ängstigte und in Verlegenheit setzte als vergnügte. Dabei muß nicht vergessen werden, daß in müßigen Stunden das Erstechen, Totniederfallen und verzweiflungsvolle Hinstürzen eifrigst geübt wurde; er brachte es auch wirklich so weit, daß nicht leicht ein Schauspieler die aufsteigende Abwechslung von zweiunddreißig Leidenschaften in einem Monolog stärker ausgeführt hat.

Vierzehntes Kapitel

In der gärenden Zeit dieser natürlichen Kunstbemühungen wollte das Schicksal, daß die Liebe ihn mit noch festern Banden ans Theater knüpfte. Bisher waren seine kleine Geschichtchen wie Präludien zu einem großen Musikstücke gewesen, wo man in mannigfaltigen Harmonien aus einem Tone in den andern übergeht, ohne eine bestimmte Melodie vorzutragen und ohne einen andern Zweck zu haben, als das Ohr zu mehr Empfänglichkeit für das Folgende vorzubereiten und den Zuhörer unvermerkt an die Pforte zu führen, wo sich ihm die ganze Herrlichkeit auf einmal offenbaren soll. Den meisten Menschen geht's so in der Liebe, und wen das Schicksal liebhat, den leitet's so zu Glück und Unglück.

Wilhelm, der das Schauspiel, das etlichemal des Jahrs in ihre Stadt kam, so oft besuchte, als es mit leidlichem Verdruß zu Hause angehen konnte, hatte sich unter allen Spielenden ein Mädchen gemerkt, die ihm öfters aufgefallen war, weil sie vor den übrigen etwas in ihrem Ton hatte, das manchmal ans Herz ging, besonders wenn sie klagte oder etwas drollig Gutherziges sagte. Sie gefiel ihm nicht immer, und wenn er sie oft nicht leiden konnte, warf er die Schuld auf die Rollen, und das feine Gesichtchen und die volle Brust redeten ihr wieder mächtig das Wort; er beneidete jeden Bedienten, der im Stück, frei mit ihr tun durfte. Die übrigen machten's ihm selten recht. Um ihrentwillen schienen die Stücke aufgeführt zu werden, und er verglich den einem Gott, der seine Arme um sie werfen und bei einer fröhlichen Wiedererkennung sie als Bruder oder Gatte an sich drücken durfte. Ja es ging so weit, daß, wenn sie halbweg in ein Stück verflochten war, daß er, der sonst eine Vorstellung mit Kunst- und Kenneraugen ansah, in die wahre kindliche Täuschung aufgehoben ward und manchmal wie aus einem Traum auffuhr, wenn ein langweiliger Akt oder eine von andern schlecht vorgetragne Szene ihn sehr unsanft fallen ließ.

So ging es eine Weile fort, ohne daß er mit ihr bekannt wurde, seine bürgerliche Schüchternheit hielt ihn ab, wenn er auch aufs Theater kam, sich ihr zu nähern, und sooft er sie wiedersah, schien sich eine neue Ader in ihm zu bewegen; er machte gewiß immer einen schiefen Bückling, wenn er hinter den Theaterwänden nicht weit von ihr zu stehen kam, oder stieß irgendwo an oder verbrannte ehrerbietig ausweichend seinen Rock. Sie sah ihn auch etlichemal mit so einem bedeutenden Blick an, daß er glauben mußte, sie bemerke ihn, und es tat ihm äußerst wohl, ob sie gleich nicht im geringsten auf ihn achthatte. Denn auf dem Theater und in der großen Welt gewöhnt man sich, die Augen bedeutungsvoll auf Gegenstände zu richten, von denen man oft gar keine Notiz nimmt, und einer Frau besonders, die aus der Erfahrung hat, daß ihre Augen mannigfaltig wirken, aufreizen, lebendig machen, wird's mechanisch, mit den Leuten Katzenmäusches zu spielen, ohne sie zu bemerken.

Fünfzehntes Kapitel

Unter dieser Zeit hatte Wilhelm abends in einem Gasthause, wo er Fremde auf ein Glas Wein traktierte, Bekanntschaft mit zwei Schauspielern gemacht. Sie fanden ihn so wohl vom Theater unterrichtet, so einen guten Begriff von der Kunst des Schauspielers, daß sie an ihm den rechten Mann zu finden glaubten, dem sie ihre Meisterschaft in verschiednen Rollen mit Ehren vortragen könnten. Sie luden ihn daher auf nächstens zu sich, wo sie ihm verschiedenes zu deklamieren versprachen; schwer verbarg er seine Freude, als sie ihm beiher sagten, Madame B. würde auch wohl von der Gesellschaft sein. – Ich nenne sie hier Madame und erinnre mich, sie vorher als Mädchen eingeführt zu haben. Um alles Mißverständnis aufzuheben, will ich gleich hier entdecken, daß sie eine Gewissensheurat mit einem Menschen ohne Gewissen eingegangen war; er verließ kurz drauf die Gesellschaft, und sie war, bis auf weniges, wieder Mädchen wie vorher; den Namen, den sie einmal hatte, behielt sie und galt wechselsweise für Jungfrau, Frau und Witwe. Wilhelmen war dran gelegen, sie für das letzte zu halten, und er fand wirklich die stärksten Gründe auf dieser Seite.

Verlegenheit und Herzklopfen, als er sie sah, machten ihn lebhafter und angenehmer, er war sehr gefällig gegen sie, und das würde sie auch ohne seine sonst gute äußerliche Eigenschaften aufmerksam auf ihn gemacht haben. Man fing damit an, was nächstens sollte gespielt werden, sprach von neuen Stücken, vom deutschen Theater, daß wir's dem französischen bald gleichtäten, daß es Sünde sei, nur übersetzte Stücke drauf zu spielen, daß große Herren anfingen, sich seiner anzunehmen, und vom Stande der Schauspieler, daß er täglich ehrbarer und geehrter werde. In Ausführung dieses letzten übertraf Wilhelm sie alle. "Es ist ein unerhörtes Vorurteil", rief er aus, "daß die Menschen einen Stand schänden, den sie um so vieler Ursachen zu ehren hätten. Wenn der Prediger, der die Worte Gottes verkündiget, darum billig der Hochwürdigste im Staat ist, so kann man den Schauspieler gewiß ehrwürdig preisen, der uns die Stimme der Natur ans Herz legt, der mit Fröhlichkeit, Ernst und Schmerz wechselnde Anfälle auf die harte Brust der Menschen wagt, um ihr dunkel eingehülltes Gefühl rein zu stimmen und den göttlichen Klang der Verwandtschaft und Liebe untereinander hervorzulocken. Wo ist ein Sicherplatz gegen die Langeweile wie das Schauspielhaus, wo verbindet sich die Gesellschaft angenehmer, wo müssen die Menschen eher gestehen, daß sie Brüder sind, als wenn sie, an der Gestalt, an dem Munde eines einzigen hangend, alle in einer Empfindung schwebend emporgetragen werden? Was sind Gemälde und Statuen gegen das lebendige Fleisch von meinem Fleisch, gegen das andre Ich, das leidet, fröhlich ist und jede gleichgestimmte Nerve in mir unmittelbar berührt? Und wo läßt sich mehr Tugend vermuten, bei dem gedrückten Bürger, der in ängstlich schmutzigem Gewerb seine Nahrung zusammenschleppt, oder bei dem, dessen Kunst, die ihm Brot gibt, zugleich die edelsten, größten Gefühle der Menschheit durchdringt, der Tugend und Laster täglich in seiner Blöße studiert und darstellt und die Schönheit und Häßlichkeit am lebhaftesten fühlen muß, eh er sie andre so lebhaft empfinden lassen kann? Ich glaube wohl, daß bei manchen durch ein herumschweifendes Leben, Mangel und Druck sich diese Würde verdunkelt, aber eben drum, wie grausam ist es, die übrigen, die dem Bessern entgegenstreben, durch beschränkten Stolz zurückzustoßen." Er fuhr noch eine Weile recht herzlich fort, daß alle sehr verwundert dastanden, und ob ihnen gleich mitunter manches eingefallen war, worauf seine Apologie nicht zu passen schien, waren sie doch durchaus zufrieden und versicherten am Ende, daß es sehr wahr sei, wie ihnen Unrecht geschähe, dazu Madame B. auch eins und das andre sagte, bald aber den Diskurs auf die treffliche Art, wie Wilhelm es vorgetragen hätte, zu lenken wußte und ihm das Kompliment machte, er müßte schon mehr agiert haben. Obgleich dies ihm etwas unerwartet kam, weil er hier weder zu agieren noch deklamieren geglaubt, sondern frischweg, wie's ihm ums Herz war, ausgeschüttet hatte, so nahm er doch gleich das Wort auf, hielt's für einen Übergang zu einem andern Diskurs und versicherte sehr ehrlich, daß er immer viel Liebe zum Theater hätte, könnte sich aber leider nie gnug tun. Die andern versicherten, daß es für einen Liebhaber schon immer viel, wenn er einigermaßen ein- oder die andre Rolle gut spielte, allein Theater zu haben, wie man's heißt, dazu gehöre ein großes Studium, das nur dem Akteur aufbehalten sei. Das war Wilhelmen nicht ganz recht, er bildete sich ziemlich ein, was sie Kunst nennten, zu besitzen, doch ließ er's vorübergehn. Jeder bot nunmehr einen Monolog an vor Wilhelmen zu deklamieren; der eine, der im tragischen Affekt weder Vater noch Bruder kannte und das Kind im Mutterleib nicht schonte, drang vor und setzte mit dem belobten Selbst- und Geistergespräch aus "Richard dem Dritten" sich in Schweiß und seinen Gast in Schröcken; die übrigen, die auf das Ende paßten, fielen teils mit komischen, teils mit empfindsamen Stellen ein, und jeder tat sein möglichstes, dem jungen Kenner vor den andern in die Augen zu fallen; er war so aufmerksam, als er's bei der doppelten Hindernis, der Nähe seiner Geliebten und dem Monolog, den er auch zu rezitieren im Kopf herumwarf, sein konnte, lobte erstlich alles im ganzen und dann noch besonders jede Stelle, von welcher sie ihn fragten, ob er auf diesen oder jenen Ausdruck wohl achtgegeben habe? Es war bei ihm dies weder Lüge noch Kurzsichtigkeit, vielmehr verleitete ihn der Wunsch, viel Gutes zu finden, dahin, daß er vieles gut fand, und wenn's ihm auch sehr schwante, es sei nicht ganz just, ließ er's doch meist aus Gutmütigkeit durchwischen, warf die Schuld auf sich, seinen Humor, oder dachte wohl gar nicht weiter drüber. Madame B. und Wilhelm konnten nun nicht einig werden, wer zuerst seine Probe ablegen sollte; endlich fand sich's im Diskurs, daß er die Rolle Meilefonts und sie Miß Sara gespielt hatte, auch ein Gegenwärtiger ungefähr den Norton auswendig wußte; so wurden sie gar bald eins, zusammen zu probieren. Wilhelm zog sich so viel möglich in unbehagliche Düsternheit zusammen, Sara schwebte in sanften Klagen und trug den fürchterlichen Traum recht ängstlich vor, wußte es auch dabei so gut zu machen, daß in den schmeichelnden Stellen zu unterscheiden schwer war, ob sie dem Helden des Stücks oder dem Schauspieler schönetat; darüber war Wilhelm von ihrer Aktion so bezaubert, daß er sie für die erste Aktrice von Deutschland hielt. Man wechselte nach geendigtem Versuch Lob und Zufriedenheit, und gewiß, Wilhelm hatte einige Stellen, wo sein Gefühl hinreichte, fürtrefflich ausgedruckt, auch würde sich die Bewunderung der Zuschauer mit Neid vermischt haben, wenn sie sich nicht selbst hätten sagen können, daß er an allen Orten, wo er in ihre Künste einen Eingriff wagte, weit hinter ihnen zurückbliebe. Man blieb noch eine Zeit beisammen, Wilhelm begleitete Madame nach Hause, wo er ihre Einladung, ob er noch mit heraufkommen wollte, leider ausschlagen mußte, um regelmäßig abends an seinem Familientische zu sein, doch behielt er sich diese Erlaubnis vor; und nachts und nächsten Tags kam ihr Bild ihm so oft vors Gesicht, daß er ganz zerstreut und ungeschickt in seiner Arbeit war. Abends, da er den Laden zumachte, faßte ihn eine unsichtbare Hand beim Schopf, er fühlte sich fortgeführt und fand sich wie im Traum auf dem Kanapee sitzend, an der Seite seiner Angebeteten.

Sechzehntes Kapitel

Ein Mädchen, das zu mehrern Liebhabern, die es unter sich gebracht hat, noch einen frischen gewinnt, gleicht der Flamme, wenn auf bald verzehrte Brände ein neu Stück Holz gelegt wird. Geschäftig schmeichelt sie dem ankommenden Liebling, leckt sich an ihm betulich hinauf, rings an ihn herum, daß er in vollem, herrlichem Glanz leuchtet; ihre Gierigkeit scheint nur an ihm hinzuspielen, aber mit jedem Zuge faßt sie tiefer und zehrt ihm das Mark bis ins Innerste aus. Bald wird er wie seine verlaßne Nebenbuhler am Grunde liegen und in angeschmauchter Trauer, in sich glühend, verglimmen.

Madame B. wußte im Anfange nicht recht, was sie mit Wilhelmen machen sollte. Die ersten Zeiten ihrer Bekanntschaft gingen unter ziemlicher Gesprächigkeit hin, bis diese sich endlich verlor und er in eine selige Stille verfiel, in der wir neben dem geliebten Gegenstande selbst aus der Langenweile eine unaussprechliche Wollust saugen. Seine Gutheit, Ergebenheit, Beschränktheit, Unschuld, Genügsamkeit, Verehrung und Herzlichkeit machten sie anfangs verlegen. Sie hatte in ihren ersten Jahren gar zu bald die kindlichen Freuden der Liebe von sich weggescheucht gesehen, sie war sich so mancher Erniedrigungen bewußt, denen sie sich in den Armen eines und des andern hatte hingeben müssen, auch gegenwärtig opferte sie sich den heimlichen Vergnügungen eines reichen und unausstehlich platten Muttersöhnchens auf, und da sie von Natur eine gute Seele war, wurd's ihr niemals recht wohl, wenn Wilhelm ihr die Hand mit treuem Herzen hielt und küßte, wenn er ihr mit dem vollen, reinen Blick jugendlicher Liebe in die Augen sah; sie konnte den Blick nicht aushalten, sie fürchtete, er möchte Erfahrenheit in den ihrigen lesen; verwirrt schlug sie die Augen nieder, und der glückliche Wilhelm glaubte Ahndung, liebliches Geständnis der Liebe zu finden, und seine Sinnen gingen durcheinander wie Saiten auf dem Psalter. Glückliche Jugend! glückliche Zeiten des ersten Liebebedürfnisses! Der Mensch ist dann wie ein Kind, das sich am Echo stundenlang ergötzt, die Unkosten des Gesprächs allein trägt und mit der Unterhaltung sehr wohl zufrieden ist, wenn der unsichtbare Gegenmann auch nur die letzten Silben seiner eignen Worte wiederholt. Mariane half sich eine Zeitlang mit dieser Art. Sie hatte geliebt, war liebefähig, und vor Wilhelmen hatte sie, wie vor einem fremden Wesen, ein Gefühl, das der Ehrfurcht glich. Sie wußte sich halb natürlich, halb theatralisch in die Stimmung zu versetzen, in der er war, ihre drollige Art half ihr vieles, und es währte nicht lange, so war sie mit ihm bekannt; sie kam sich selbst in seiner Gegenwart besser vor, sie erinnerte sich wenig glücklicher, reiner Stunden ihrer Jugend, und die ganze Liebe, mit der Wilhelm sie umfaßte, der hohe Wert, den diese gute Seele auf sie legte, ihre eigne Neigung zu ihm verwischte bald, besonders in seiner Gegenwart, alles widrige Gefühl ihrer Unwürdigkeit. Ihr andrer Liebhaber war abwesend, und sie schob das Verhältnis mit ihm im Gedächtnisse seitwärts, wie man das Andenken von irgendeiner Schuld aus dem Reiche der lebhaften Erinnerungen in das Fach der historischen Kenntnisse verscheucht.

Er sah sie nur, sooft er konnte, das für einen Liebenden zwar selten war; die Abendstunden hatte er wohl manchmal frei, er vernachlässigte seine Freunde und müßigte sich sonst was ab; aber da war sie meistens auf dem Theater beschäftigt, und länger als achte, höchstens halb neune, da gewöhnlich das Schauspiel aus war, durfte er, ohne böse Gesichter von Vater und Mutter, nicht außen bleiben. Sie wußte es denn doch zu machen; entweder er war bestellt, wenn er ihren Namen auf dem Zettel nicht sähe, oder sie ließ sich unter dem Ballett nach Hause führen, und da konnte er verweilen, bis ihn das Rasseln der Kutschen von seinem Glücke zu scheiden nötigte.

Aus dem Parterre konnte er ihren Anblick fast gar nicht mehr aushalten, es saß ihm gleich an der Kehle. Er machte sich aufs Theater, hinter die Wände. Die perspektivische Magie war weg, aber der Zauber der Liebe blieb. Stundenlang konnte er am schmierigen Lichtwagen stehn, sich den Qualm der Unschlittlampen an die Nase gehen lassen, nach ihr hinausblicken, an einem Blick von ihr erzittern und in dem Balken- und Lattengerippe sich ein Paradies fühlen. Die ausgestopfte Lämmchen, Wasserfälle von Zindel, die pappene Rosenstöcke und die einseitigen Strohhütten rührten in ihm die lieblichsten Bilder, die er je in Dichtern von Schäferwelt gelesen hatte, sogar die hagere, langmäßige, weitbrüstige Tänzerinnen waren ihm nicht immer zuwider, weil sie auf einem Brette mit seiner Einzigen stunden. Und so ist es gewiß, daß Liebe, die selbst Rosen- und Myrtenwäldchen und Mondschein erst beleben muß, auch Hobelspäne und Papierschnitzeln beleben kann. Sie ist so eine starke Würze, daß die schalsten und ekelsten Brühen davon schmackhaft werden. Solch einer Würze brauchte es freilich, um den Zustand leidlich und in der Folge angenehm zu machen, in dem er gewöhnlich die verworrne Haushaltung ihrer Stube, auch wohl gelegentlich sie selbst antraf. In einem feinen Bürgerhause erzogen, war Ordnung und Reinlichkeit das Element, worin er atmete, und seine erhöhte Einbildungskraft hatte von jeher sein Zimmer, das er als sein kleines Reich ansah, stattlich ausstaffiert. Seine Bettvorhänge waren in großen Falten mit Quasten aufgezogen, wie die Thronen gemalt werden, mit einigen Unkosten hatte er sich einen Teppich in die Mitte des Zimmers und einen feinen auf den Tisch angeschafft. Seine Bücher und Gerätschaften legte und stellte er fast mechanisch so, daß sie meist eine schöne Gruppe machten, seine Mütze hatte er wie einen Turban zurechtegelegt und die weiten Ärmel an seinem Schlafrock nach türkischem Schnitt kurz stutzen lassen, davon er zwar die Ursache angab, daß sie ihn im Schreiben hinderten, und wenn er abends ganz allein war und niemand mehr zu fürchten hatte, trug er eine Seidenschärpe um den Leib; auch sagt man, daß er wohl manchmal einen Dolch, den er sich aus einer alten Rüstkammer zugeeignet, in Gürtel gesteckt habe und die Stube mit auf und ab marschiert sei, ja er soll nie anders sein Gebet als kniend auf dem Teppich verrichtet haben. Diese fastuose Seite seines Charakters und Betragens schadete übrigens seinem guten, natürlichen Wesen sehr wenig, sogar, wer genau achthaben wollte, würde diesen Zug in vielen Kindern und jungen Leuten antreffen. Ja was sag ich! ist's doch in der Welt hergebracht, daß man sich die Majestät kaum anders als im Schlepp- und Prachtmantel denken kann, daß das Hohe des Standes, das Edle der Tat nur in pausbäckiger Repräsentation dem Menschen sichtbar und nachahmbar wird und daß man sie nicht fühlen machen kann, daß das Große und Erhabene nur das Reinste und Wahrste des Natürlichen ist, und daß sich's eben drum weder vorzeigen noch nachahmen läßt.

Wie glücklich pries daher Wilhelm in seinem Herzen den Komödianten, den er im Besitz so mancher majestätischer Kleider, in steter Übung eines edeln Betragens sah, dessen Seele einen Spiegel des Herrlichsten und Prächtigsten, was die Welt je an Gesinnungen und Leidenschaften hergebracht, darstellte. Er dachte sich dessen häusliches Leben als eine Reihe von würdigen Handlungen und Beschäftigungen, davon die Erscheinung auf dem Theater nur die äußerste Spitze, nur wie der Blick des Silbers sei, das, vom Läuterfeuer lange umgetrieben, aus farbiger Regenbogenschönheit endlich blinkend vor den Augen des Arbeiters in einem Korne daliegt.

Anfänglich machte es ihn stutzen, wenn er bei seiner Geliebten war und durch den glücklichen Nebel, der ihn umhüllte, nebenaus auf Tische, Stühle und Boden sah; die Trümmern eines augenblicklichen, leichten, falschen Putzes lagen wie das glänzende Kleid eines Fisches, den man abgeschuppt hat, zerstreut in rascher Unordnung durcheinander. Die Werkzeuge menschlicher Reinlichkeit, Kämme, Seife, Tücher, Pomaden waren mit den Spuren ihrer Bestimmung gleichfalls unversteckt; Bücher und Schuhe, alte Wäsche und italienische Blumen, Etuis, Haarnadeln, Schminkbüchschen und Bänder, Musik und Strohhüte, keines verschmähte die Nachbarschaft des andern, alle waren durch ein gemeinschaftliches Element von Puder und Staub vereinigt. Doch da Wilhelm meist nicht wußte, wo er war, wenn er sie sah, da alles ihr gehörte, sie berührt hatte, ward ihm alles lieb und sogar fühlte er endlich in dieser unordentlichen, verworrnen Wirtschaft einen Reiz, der ihm niemals in seiner staatischen Prunkordnung das Herz geöffnet hatte. Es war ihm, wenn er hier ihre Schnürbrust wegnahm, um zum Klavier zu kommen, dort ihre Röcke aufs Bett legte, um sich zu setzen, wenn sie selbst mit unbefangner Freimütigkeit manches Natürliche, das Fremde sonst so sehr gegeneinander zu verheimlichen pflegen, vor ihm nicht zu verstecken suchte, es war ihm, sag ich, als wenn er ihr näher wäre, als wenn eine Gemeinschaft zwischen ihnen sich mit unsichtbaren Banden befestigte.

Schwerer zu verdauen war die Aufführung der übrigen Schauspieler, die er manchmal bei ihr antraf und durch sie kennenlernte. Geschäftig im Müßiggange, machten sie gewöhnlich von den äußersten Kleinigkeiten großes Aufhebens, was für Kleider sie anziehen, von welcher Seite sie herauskommen wollten, wie lange das Stück spielen würde, Klagen über die Ungerechtigkeiten des Direkteurs, der ihre Talente verkenne, daß der seine Rolle gestern nicht gewußt habe, daß jenes Stück nicht zu spielen sei, daß das teutsche Theater täglich sich verbeßre und der Komödiant immer mehr geehrt werde. Das waren die theatralische Diskurse. Im gemeinen Leben kamen die Kaffeehäuser und Weingärten, Spiel, irgendein Kamerad wegen Schulden im Gefängnis, was irgendein Akteur bei einer andern Truppe monatlich hat, ein Streit zwischen ein paar bissigen Weibern, darüber die Gesellschaft in zwei Parteien fiel, und dergleichen Dinge mehr vor. Der Schluß war immer das Publikum und seine Aufmerksamkeit und Zufriedenheit und der große, wichtige Einfluß des Theaters auf die Bildung einer Nation und der Welt.

Wilhelm wußte nicht, wie er das zurechtelegen sollte, er kam nicht zustande, sich einen deutlichen Begriff von diesen Widersprüchen zu bilden, da ihm seine Liebe zum übrigen Nachsinnen wenig Zeit ließ.

Siebzehntes Kapitel

Es geschieht gar selten, daß zwei junge, gleich unschuldige Seelen Hand in Hand den Weg der Liebe miteinander ausgehn, harmlos vor sich hinwallen und, in schlingenden Pfaden verloren, sich wider Vermuten an Orte geführt sehen, die sie sich weit entfernt glaubten. Denn wie die Natur fast durchaus Unerfahrenheit der Erfahrenheit untergeordnet hat, so ist's auch hier; ein Teil wird immer die Rolle des Freundes spielen, der, in einer Gegend schon bekannt, den Ankömmling in ihre Schönheiten einweihen will. Schweigend lenkt er ihn unmerklich hie- oder dorthin, läßt ihm bei diesem und jenem Anblick sein Entzücken, ohne zu verraten, was für Großes ihm bevorsteht, läßt ihn mühsam auf- und absteigen, wo es nicht nötig wäre, um eine angenehme Aussicht von der Seite zu zeigen, wo sie eben die meiste Wirkung tut, und der andere, er merke die List oder nicht, dankt seinem Führer für die liebevolle Mühe.

So bescheiden Wilhelm war und ganz im Glauben an Marianens Tugend, stiegen seine Liebkosungen an ihr unmerklich mit jedem Tage, und sie, ohne ihn aus dem Besitze des zu setzen, was er sich anmaßte, hielt ihn nur auf jeder Stufe eine Zeitlang auf, wo ihn seine Liebe und Ehrfurcht ohnedas ein wenig ausruhen hießen. Ihre Verlegenheit, ihr ohnmächtiger Widerstand, den sie seinen Küssen entgegensetzte, ihr tiefes Nachdenken, in das sie oft verfiel, setzte ihn in solche entzückte Leidenschaft, daß er mit allen Fasern seines Lebens an ihr hing. Mariane lernte das Glück der Liebe, das ihr fremd war, in seinen Armen erst kennen, und die Herzlichkeit, mit der er sie an seinen Busen drückte, die Dankbarkeit, der es oft an ihrer Hand gnügte, durchdrang sie, und täglich lebte sie freier auf. Oft wünschte sie nunmehr ernstlich bei sich, von jener Verbindung, die wir oben erwähnten, deren Gedanke ihr täglich widriger ward, los zu sein. Aber wie loskommen? Jeder weiß, wie schwer der Mensch angeht, einen entscheidenden Schritt zu wagen, daß Tausende eher ihr Leben in abschleichendem Schicksal kümmerlich jedem neuen Tag hinüberschleppen! Und nun gar ein Mädchen in diesen Umständen! Sie hatte sich gar bald, wie nebenher, nach Wilhelms Vermögen, nach seinen Verhältnissen erkundigt, da sie denn wohl sah, daß sie keinen Ersatz dessen, was sie ihm aufzuopfern wünschte, hoffen könnte. Schon was ihm an Interessen von einem Kapital, das die Großmutter ihren Enkeln noch bei Lebzeiten der Eltern bestimmt hatte, zufiel, hatte er alles an Marianen gewendet, sie überlegte hin und her, und wenn sie keinen Ausweg sah, überließ sie sich wieder eine Weile dem Geratewohl, dem Leben und der Liebe. Täglich aber versanken mehr die Leichtigkeit, Lebhaftigkeit, Witz, wodurch sie im Anfang ihrer Leidenschaft einander fest zu binden, zu unterhalten gesucht und jede Liebkosung gewürzt hatten. Sonst scherzten sie oft in kleinen Szenen aus diesem oder jenem Stück, verspotteten einander mit lieblichen Neckereien irgendeines Dichters, und wenn der Gereizte ihr zuletzt um den Hals fiel und sie mit einem Kuß bestrafte und sie durch so eine selige Katastrophe das Vergangne zu Lügen machten, da waren's die höchste Zeiten der Liebe, nun aber, da sie sich in diesen Freuden übernahmen, hatte es eine Wirkung auf Wilhelms Kopf, als wär er in Bier berauscht, er ward dumpf und unbehaglich in seinem Sehnen, daß er auf allerlei kleine Eifersucht und Neckereien fiel, das man ihm wohl verzeihen muß, denn er war schlimmer dran, als der einem Schatten nachläuft, denn er hielt in seinen Armen, er berührte mit seinen Lippen, was er nicht genießen, woran er sich nicht sättigen sollte. Mariane, die seine Qual nicht verkannte, hätte wohl schon in manchen Augenblicken das Glück, das er so sehnlich wünschte, mit ihm geteilt, sie fühlte in sich, daß er weit mehrers wert war, als sie ihm geben konnte, aber seine Verwirrung und seine Liebe verdunkelten ihm seine Vorteile, und ihre Stille, ihre Unruhe, ihre Tränen, ihre fliehende Umarmungen – lieblichste Töne der ergebenden Liebe – warfen ihn außer sich in überdrängten Schmerz zu ihren Füßen, bis sie beide zuletzt in dämmernden Augenblicken des Taumels sich in den Freuden der Liebe verloren, die das Schicksal den Menschenkindern aufspart, um sie für so viel Druck und Leiden, Mangel und Kummer, Harren, Träumen, Hoffen und Sehnen einigermaßen zu entschädigen.

Achtzehntes Kapitel

Wilhelm, der nun ohne Ausnahme glücklich war, überließ sich ganz den Entzückungen der Liebe. War er vorher durch Verlangen und Hoffnungen an Marianen gebunden, so war er es nunmehr durch die seligste Befriedigung, in der er immer wieder neuen Durst zu trinken schien. Das Andenken Marianens ergriff ihn in der kleinsten Abwesenheit nun immer lebhafter; denn war sie ihm sonst notwendig gewesen, so war sie ihm jetzt unentbehrlich, da er mit allen Banden der Menschheit an sie geknüpft war. In der Reinheit seiner Seele fand er, daß sie die Hälfte, mehr als die Hälfte seiner Seele sei. Er war dankbar und hingegeben ohne Grenzen. Auch Mariane konnte sich eine Zeitlang täuschen, sie teilte die Empfindung seines lebhaften Glücks mit ihm. Ach, wenn nur nicht manchmal die kalte Hand des Vorwurfs ihr übers Herz gefahren wäre! Selbst an dem Busen Wilhelms war sie nicht sicher davor, selbst unter den Flügeln seiner Liebe. Und wenn sie nun gar wieder allein war und aus den Wolken, in denen seine Leidenschaft sie emportrug, herab in die Erkenntnis ihres Zustands fiel, dann war sie zu bedauren. Denn Leichtsinn war ihre Hülfe, so lang sie in niedriger Verworrenheit lebte, sich über ihren Zustand betrog oder vielmehr ihn nicht kannte; da erschienen ihr die Vorfälle, denen sie ausgesetzt war, nur einzeln. Vergnügen und Verdruß lösten sich ab, ihre Demütigung wurde durch Eitelkeit und der Mangel oft durch augenblicklichen Überfluß vergütet. Sie konnte Not und Gewohnheit sich als Gesetz und Rechtfertigung anführen, und so lange ließen sich alle unangenehme Empfindungen von Stund zu Stund, von Tag zu Tag abschütteln. Nun aber hatte das arme Mädchen sich Augenblicke in eine bessere Welt hinübergerückt gefühlt, hatte, wie von oben herab, aus Licht und Freude ins Öde, Verworfene ihres Lebens heruntergesehen, hatte gefühlt, welche elende Kreatur ein Weib ist, das mit dem Verlangen nicht zugleich Liebe und Ehrfurcht einflößt, und fand sich äußerlich und innerlich immer am vorigen Flecke. Sie hatte nun gar nichts, was sie aufrichten konnte; wo sie hinsah und suchte, war's in ihren Gedanken leer, und ihr Herz hatte keinen Widerhalt. Ganz im Gegenteil schwebte Wilhelm, ihm war auch eine neue Welt aufgegangen, aber voll glücklicher Aussichten. Ließ das Übermaß der ersten Freuden in etwas nach, so stellte sich das licht vor seine Seele, was ihn bisher dunkel durchwühlt hatte: "Sie ist dein! Sie hat sich dir hingegeben! Sie, das geliebte, gesuchte, angebetete Geschöpf dir auf Treu und Glauben hingegeben, aber sie hat's keinem Undankbaren." Wo er stand und ging, redete er mit sich selbst, sein Herz floß beständig über, und er sagte sich in einer Fülle von prächtigen Worten die erhabenste Gesinnungen vor, er glaubte den hellen Wink des Schicksals zu verstehen, das ihm durch Marianen die Hand reichte, sich aus dem stockenden, schleppenden bürgerlichen Leben herauszureißen, das er schon so lange gewünscht hatte. Die Uneinigkeit seiner Eltern lag ihm auf dem Herzen; täglicher Zeuge von so einem Übel zu sein, greift das Herz an, das sich entweder mit verzehrt oder sich verhärtet und auf beide Art zugrunde geht. Dazu kam, daß einer seiner Freunde, ein sehr gesetzter Mensch, um seine ältere Schwester sich bewarb, und dem Vater also in seinem Handel beistehn und seine Stelle vertreten konnte.

Der Gedanke, seines Vaters Haus, die Seinigen zu verlassen, schien ihm leicht, kam gar nicht mit in Anschlag. Er war jung und neu in der Welt, und sein Mut, in ihren Weiten nach Glück und Befriedigung zu rennen, durch die Liebe erhöht. Seine Bestimmung zum Theater war ihm nunmehr klar, das hohe Ziel, das er sich vorgesteckt sah, schien ihm näher, indem er an Marianens Hand hinstrebte, und fehlen konnt es nicht, daß er in glücklichen Augenblicken den werdenden vollkommensten Schauspieler und den Schöpfer eines großen Nationaltheaters erblickte, nach den er so vielfältig hatte seufzen hören, und niemals ohne einige zufriedene Wendung auf sich selbst. Alles, was in den innersten Winkeln seiner Seele bisher geschlummert hatte, wurde reg, und aus den vielerlei Ideen mit Farben der Liebe ein Gemälde in Nebelgrund gearbeitet, wo freilich die Gestalten viel ineinanderflossen, aber auch das Ganze eine desto reizendere Wirkung tat.

Indessen lebte unser Paar mit ganz verschiedenem Drange des Herzens eine ganze Zeit weiter. Da ihnen keine Stunde zusammen lang wurde, so merkten sie kaum, wie schnell die Tage flohen, und ließen einen nach dem andern vorbei, ohne einen Entschluß zu fassen, der ihr Schicksal hätte aufklären oder bestimmen können.

Neunzehntes Kapitel

Wilhelms Freund und vermutlicher Schwager war einer von denen geprüften, in ihrem Dasein bestimmten Leuten, die gewöhnlich kalte Leute genennt werden, weil sie bei Anlässen weder schnell noch sichtlich auflodern. Auch war sein Umgang mit Wilhelmen ein anhaltender Zwist, wodurch ihre Liebe sich immer fester knüpfte. Jeder fand seine Rechnung beim andern. Werner tat sich was zugute drauf, daß er denen trefflichen, obgleich leider gelegentlich ausschweifenden Gaben Wilhelms mitunter Zügel und Gebiß anzulegen schien; und Wilhelm fühlte oft einen herrlichen Triumph, wenn er seinen bedächtlichen Freund in warmer Aufwallung mit sich fortnahm. So wetzte sich einer am andern, und sie wurden gewohnt, sich täglich zu sehen, eben darum, weil keiner was vom andern hatte, sie einander nicht verstunden, sich einander nicht verständlich machen konnten. Im Grund aber gingen sie doch, weil sie beide gute Menschen waren, nebeneinander, miteinander nach einem Ziel und konnten niemals begreifen, warum keiner den andern auf ebendie Gesinnungen reduzieren konnte. Werner spürte, daß Wilhelms Besuche seltner wurden, daß er in Lieblingsmaterien kurz und unruhig abbrach, daß er sich nicht mehr in lebhafter Ausbildung seltsamer Vorstellungen vertiefte, welches freilich immer ein Zeichen eines unbefangenen, sich selbst genügenden, in der Gegenwart eines Freundes Ruhe findenden Herzens ist. Werner, der sehr pünktlich war, suchte den Fehler in seinem eignen Betragen, so lang bis einige Kaffeehausgespräche ihn auf die Spur brachten und einige überfließende Unvorsichtigkeiten Wilhelms ihm mehr Gewißheit gaben. Er ließ sich auf eine nähere Untersuchung ein, entdeckte gar bald mit großem Entsetzen: Wilhelm habe sich an eine Komödiantin gehängt, an ein Weibsbild, das ihn verführe, ihn ums Geld bringe und noch dabei nebenher sich von dem unwürdigsten Nebenbuhler unterhalten lasse. Er unterließ nichts, sich von allem pünktlich zu überzeugen, und da er das war, formierte er eines Abends auf Wilhelm seinen Angriff, trug ihm alles haarklein erst gelassen, dann mit dem dringendsten Ernste der wohldenkenden Wahrheit vor, ließ keinen Zug unbestimmt, ließ seinen Freund alle die Bitterkeiten kosten, mit denen ruhige Menschen gegen Liebende so leicht freigiebig sind, aber er fiel auch aus den Wolken, als Wilhelm, zwar mit einiger Bewegung, doch mit großer Sicherheit versetzte: "Du kennst das Mädchen nicht! Ich weiß, daß der Schein wider sie ist, aber ich bin ihrer Treu und Tugend so gewiß als meiner Liebe." Werner blieb fest, erbot sich zu Beweisen und Zeugen, Wilhelm verwarf sie und ging bald in einer verdrießlichen Erschüttrung weg wie einer, dem ein ungeschickter Zahnarzt einen schadhaft festsitzenden Zahn gefaßt und vergebens dran geruckt hat. Mit heimlichem Unwillen schüttelte Wilhelm allen Verdacht aus seiner Einbildung, das schöne, ganze Bild Marianens, das vor seiner Seele stund, war durch Werners Erzählung auf einige Augenblicke verschoben und befleckt worden; es währte nicht lange, so hatte es Wilhelm wieder vollkommenlich gesäubert, zurechtegeruckt, und da er sie gar abends einen Augenblick wiedersah, fing es an, von neuem zu leuchten und zu glänzen.

Werner sann nun Tag und Nacht, wie er seinen Freund durch Zureden und Vorstellungen wieder zurechtbringen könnte, machte verschiedene Versuche, denen aber ganz gelinde ausgewichen wurde; darüber wurde er traurig und konnte nicht begreifen, wie die besten Gesinnungen, in reiner Wahrheit vorgetragen, auf Wilhelms gutes, treffliches Herz Eindruck zu machen nicht kräftig genug sein sollten.

Der alte Meister lag diese Zeit her an einer Krankheit nieder; Wilhelms Arbeiten nahmen ihm seine Tage, die Sorgfalt für seinen Vater die Abende weg, es blieb ihm also für seine Geliebte nur die Nacht übrig. Sie wurde auch mit ihm drauf eins, er fand eine Türe, die aus einem Holzstall in ein enges Gäßchen ging, sehr bequem, um nächtlich sein Haus zu verlassen.

Die seltsame Stimmung der Nacht, die öden Gassen, die er sonst nur voller Gewerbe gewohnt war, die flimmernde Nachtlichter seiner Bekannten und das Gefühl des Geheimnisses würzten das Abenteuer, und er schlich, in seinen Mantel eingewickelt, alle Lindors und Leanders im Busen, meist nachtnächtlich ein zu seiner Geliebten.

Zwanzigstes Kapitel

Mariane, die ihn immer lieber gewann, war indes in einem erbärmlichen Zustand. Die Freigebigkeit ihres reichen Liebhabers war durch seine Abwesenheit nicht unterbrochen worden, und nun hatte er ihr mit Überschickung eines Stück Nesseltuchs zum Nachtkleide seine nächste Ankunft gemeldet.

Sie war schon oft in Verlegenheit gewesen und konnte in das Schicksal des folgenden Tages wie in eine trübe Ewigkeit hinstarren. Nun diesmal war sie von zu viel Seiten gedrängt. Zwei Liebhaber nebeneinander, das unter andern Umständen wohl angegangen wäre, wurde hier schon schwerer. Wilhelm hatte ihr in der Treue seines Herzens den Verdacht haarklein erzählt, den man ihm gegen sie beibringen wollen, sie wußte also, er war wenigstens aufmerksam; der andre war übermütig, tölpisch in seinem Betragen, und sie war in einem Zustande, wo sie's mit keinem verderben wollte, um eines gewiß zu sein. Wilhelms Zärtlichkeit hatte über ihre Klugheit gesiegt, und sie fühlte, daß ihr das unerwünschte Glück, Mutter zu werden, bevorstehe. Sie hatte es einer alten Theaterschneiderin, die eine bewährte Vertraute in solchen Fällen war, entdeckt, die nach einigen grausamen Vorschlägen, vor denen Marianen schauderte, ihr den Rat gab, sie möchte lieber, wenn es doch einmal sein sollte, die Schuld auf den reichen als den armen Liebhaber bringen und überhaupt gegen Wilhelmen sich nur nichts merken lassen, übrigens wegen geschickter Behandlung der Sache auf sie ein vollkommnes Vertrauen setzen. Eben diese Alte hatte schon Marianen vor einer feierlichen Verbindung mit Wilhelmen bewahrt, sie hielt ihn nur vor einen Setzling, den ein kluger Fischer wieder ins Wasser wirft. "Was wollen Sie mit ihm?" sagte sie oft. "Seine Eltern werden nicht leiden, daß er Sie heuratet, und mit ihm durchzugehen wäre eine unverzeihliche Narrheit; er hat nichts, und wozu einen Mann am Hals, der. noch dazu in Sie verliebt wäre, und über das alles ist unser Direktor ein Mann, der keinen Spaß versteht, sobald ein Abenteuer éclat wird, er ist eifrig auf die Renommee seiner Truppe, wie er's heißt, und eh man sagen sollte, eine von seinen Aktricen habe einen hübschen Bürgerssohn debauchiert, er jagte sie am Tage des Aufbruchs weg. Und wo hernach hin? Ein reisender Komödiant ist ein elender Geschöpf als alle reisende Handwerksbursche. Davor, wenn Sie sich ihn erhalten, kommen Sie vielleicht übers Jahr wieder hierher, sein Vater ist indessen tot, und es läßt sich immer wieder eine alte Liebe mit Vorteil anknüpfen." Die Theaterschneiderin war von den Kindern dieser Welt, sie hatte recht bis auf einen gewissen Punkt und behielt auch in Marianens Herze recht bis auf einen gewissen Punkt, denn diese hatte doch keinen Gedanken, wie sich's von Wilhelm scheiden ließe. Indessen hat die Klugheit so was Gebietendes, daß wir ihr oft auch wider unsre Neigung folgen. Wilhelm verstund Marianens Betragen nun gar nicht; er, der sie ganz vor seine Frau ansah, sie nicht anders als sein liebes Weibchen nannte, oft durch seine Liebkosungen sie zu einer nähern Erklärung, Bestimmung dieses Verhältnisses leiten wollte, er fühlte sie immer ausweichen auf dem Punkt von Heuraten, wo die Mädchen einem so leicht entgegenkommen; und doch war er wieder delikat, vermutete wieder ganz andere Delikatesse von ihr, kam in Willens, sich zu erklären, und ging wieder weg von der Seite, wie er gekommen war, zersann sich, zerstritt sich wieder einen Tag in sich selbst, stand immer auf dem Sprung und kam niemals vom Fleck. Über das alles aber wurden seine Ideen immer mehr bestätigt, seine dunkle Aussichten, seine verworrne Hoffnungen wurden zu Planen. Er hatte während der Krankheit seines Vaters die Heurat seiner ältern Schwester mit Wernern unmerklich beschleunigt; sie war insoweit richtig, nur die notwendige Umständlichkeiten hielten sie noch eine Weile auf. Er hatte schon in Gedanken seinen wieder auflebenden Vater ganz gesund gemacht, seinen Schwager an seine Stelle im Handel und Wandel der Familie untergeschoben, und er schien sich manchmal die Füße aus den schwer geschloßnen Ketten zum Versuche herauszuziehen, wie ein künstlicher Dieb oder ein Zauberer in der Gefangenschaft manchmal tut, um sich zu überzeugen, daß seine Rettung möglich und näher sei, als die kurzsichtige Menschen glauben. Wenn er denn nun in freier, nächtlicher Stunde abschüttelnd allen Druck über einen großen Platz wandelte und seine Hände gen Himmel reichte, er fühlte alles hinter und unter sich; er los von allem, und nun entgegen den Umarmungen seiner Geliebten in verstohlner Nacht, und wieder sich denkend in den Umarmungen seiner Geliebten auf dem blendenden Theatergerüste, und so Natur und Kunst, und bewundert und beneidet, so war ihm immer der weite Weg durch die Stadt zu ihrem Hause ein Augenblick, ununterbrochen als hie und da durch eines Nachtwächters Ruf; und wenn nun wieder Mariane ihn mit Natur und Kunst empfing, ihren heimlichen Kummer bemeisterte und ihr Vergnügen aufstutzte, wenn sie das weiße Nachtkleid, darin sie wirklich recht englisch aussah, in seinen Armen unvermutet einweihte, was blieb ihm, an gegenwärtigem Vergnügen ersättigt, übrig, als seine Geliebte mit in die frohe Zukunft zu reißen, wenn sie, die nun niemals mitzuempfinden schien, auf die lieblichste Fragen, ob er sich Vater glauben dürfe, zugeschlossen und verlegen war! Er legte es freilich wieder aus und herrlich genug, bot die ganze Zeit den Überfluß seiner Empfindung und seiner Gutmütigkeit auf, um zurechtezulegen und Lücken zu füllen, nur daß ihm nie dabei wohl werden konnte.

Einundzwanzigstes Kapitel

Der Direktor unserer Schauspielergesellschaft hatte schon verschiedentlich mit dem Abzug gedroht; denn obgleich die Stadt nicht ganz gering war und sich manche wohlhabende Bürger, auch reiche Müßiggänger darinne fanden, so konnte er doch sein Konto außer den Messen nicht finden. Vielen war das Drama von Bub, Dame, König und Aß interessanter, die übrige Theaterfreunde reflektierten auf den halben Gulden oder behalfen sich mit Freibilletts; zum Abonnieren hatten sie durchaus keinen Sinn, und so ging die Kunst nach Brote, wie's in dieser Welt hergebracht ist, da man nicht leicht eine Idee vom Spaß haben kann als gratis. Dies war nun zwar oft ein blinder Lärm, der aber doch das Publikum aufs neue zu kommen und Wilhelmen dringendere Anstalten zu machen bewegte. Werner nahm nun wirklich Teil an den Handelsgeschäften, und Wilhelm, der nie aus seiner Vaterstadt gekommen war, hatte ihn, der sich auf verschiedenen fremden Plätzen umgesehen hatte, überzeugt, daß für den Unerfahrnen auch eine solche Reise höchst nötig sei. Sie waren über eine gewisse Summe Geldes übereingekommen, die Werner schaffen und sich nach und nach wieder bezahlt machen sollte; und wenn Wilhelm bei sich diesen Betrug ganz für heilig hielt und überzeugt war, daß ihn seine Eltern und Verwandten in der Zukunft dafür segnen sollten, so war doch der Gedanke an den ersten Augenblick, da sie's erfahren würden, ein Steinchen, an dem seine Imagination sich manchmal wund stieß. Endlich schien die Gesellschaft im Ernst ihren Aufenthalt nicht länger fristen zu wollen. Norman, Wilhelms Nebenbuhler, beschleunigte seine Reise, um Marianens Liebe noch wenige Tage zu genießen, und Wilhelm faßte sich nun schließlich und letztens zusammen, um sie auf ewig zu besitzen und sich ans Theater mit unauflöslichen Banden zu knüpfen.

Werner, den er nun stärker antrieb, ihm das Mittel zur vorgegebenen Reise zu erleichtern, argwohnte nichts Übels, denn die Klugheit vermutet nicht das Außerordentliche. Er dachte, es ist gut, daß es sich eben so trifft und Wilhelm einen Ort, der ihm so oft eine unschickliche Liebe ins Gedächtnis rufen muß, bald nach dem Gegenstande verläßt.

Wilhelm war die letzte Zeit in seinen Gängen geheimer geworden; dies ließ den andern eine Beßrung schließen, hielt ihn von weitern Maßregeln ab und gab ihm alle Bereitwilligkeit, die Wilhelm wünschen konnte.

Auf der andern Seite war es Marianen ein willkommnes Wort, als Wilhelm von ihr die Erlaubnis bat, sie einige Tage nicht zu sehen; sie kriegte dadurch Luft, ihren ungestümen Norman, dem ihr Herz nicht entgegenging, wenigstens in einiger Fassung zu bewillkommen. Wilhelm saß nun bei sich zu Hause, kramte unter seinen Papieren, musterte seine Besitztümer, was ihm wohl bei seiner Wanderung in die Welt nützlich sein könnte. Was nach seiner bisherigen Bestimmung schmeckte von Büchern und sonst, ward alles abseits gelegt. Nur die Werke des Geschmacks, Dichter und Kritiker, wurden als bekannte Freunde unter die Erwählten gestellt, und da er bisher sehr wenig von den letzten profitiert hatte, so erneuerte sich seine Begierde darnach, als er sie schamrot jetzo wieder durchsah und fand, daß sie vom Buchbinder her noch unaufgeblättert waren. Er hatte sie sich in der völligen Überzeugung, wie notwendig solche Werke seien, angeschafft und niemals in dem Studio derselben vom Flecke kommen können. Einen Teil der Zeit wandte er auch an, um an Marianen einen langen Brief zu schreiben; er bedurfte der Schrift, um alles recht rund und voll zu sagen, wie er's bei sich in seinem Herzen fühlte; denn ob er gleich auf dem Theater eine auswendig gelernte Rolle frischweg deklamierte und sich auch im gemeinen Leben weitläufig über Meinungen und Grillen perorierend herausließ, so stockte es ihm doch oft in der Kehle, wenn er seine Empfindungen lebhaft mitteilen sollte; er konnte nie große Worte gnug finden, um das, was er fühlte, auszudrücken, und wenn er der Worte zu viel machte, fand er doch, daß es nicht recht mit dem, wie's in ihm war, zusammenstimmen wollte; das Schreiben half ihm aus dieser Verlegenheit, denn wie wir einem abwesenden Geliebten eine herrlichere Gestalt zu geben gewohnt sind, so finden wir auch nichts Ungereimtes in einem erhöhten Ausdruck unsrer Gefühle, welchen die allem Romantischen so feindselige Gegenwart mehrenteils mißbilligt. Der Brief, den er Marianen schrieb, war folgender:

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Unter der lieben Hülle der Nacht, die mich sonst in deinen Armen bedeckte, sitz ich und denk und schreibe an dich, und was ich sinne und treibe, ist um deinetwillen. O Mariane! mir, dem glücklichsten unter den Männern, ist's wie einem Bräutigam, der ahndungsvoll, welch eine neue Welt sich in ihm und durch ihn entwickeln wird, vor den geheiligten Teppichen steht, gedankenvoll, lüstern, vor den geheimnisvollen Vorhängen, woher ihm die Lieblichkeit der Liebe entgegensäuselt. Ich hab es über mich gewonnen, dich einige Tage nicht zu sehen, es war leicht in Hoffnung einer solchen Entschädigung. Ewig mit dir zu sein! ganz der Deinige! Liebste, du weißt nicht, was ich will, und doch könntest du's wissen. Wie oft hab ich mit leisen Tönen der Treue, die, weil sie alles zu halten wünscht, nichts zu sagen wagt, an deinem Herzen geforscht nach dem Mitverlangen einer ewigen Verbindung. Verstanden hast du mich gewiß, denn in deinem Herzen muß ebender Wunsch keimen; vernommen hast du mich in jedem Kuß, in jedem Augenblicke anschmiegender Ruhe; und nun deine Ausweichungen, deine Bescheidenheit – wie lieb ich dich, meine Beste! Was eine andre durch Künste hervorzulocken sucht, den Entschluß, den meist das Mädchen durch übrigen Sonnenschein reif zu machen trachtet, dem entziehst du dich und schließest die schon halb geöffnete Brust deines Geliebten durch anscheinende Gelassenheit wieder zu. Ich verstehe dich! Welch ein Elender müßt ich sein, wenn ich an diesen Zeichen die reine, uneigennützige, mehr für mich besorgte Liebe nicht erkennen wollte! Sei ruhig! wir gehören einander an, und keins von beiden verläßt oder verliert etwas, wenn wir füreinander leben. Nimm sie hin, diese Hand, feierlich noch dies überflüssige Zeichen. Alle Freuden der Liebe haben wir empfunden, aber es sind neue Seligkeiten in dem bestätigten Gedanken der Dauer. Frage nicht, wie! sorge nicht! das Schicksal sorgt für die Liebe, und das um so gewisser, da sie genügsam ist. Mein Herz hat schon lang meiner Eltern Haus verlassen, es ist bei dir, wie mein Geist auf der Bühne schwebt. O meine Geliebte! ist leicht ein Mensch, dem so gewährt ist wie mir, seine Wünsche zu verbinden? Was mir jetzt keinen Schlaf in die Augen kommen läßt, was mich an meine Papiere heftet, was in mir wie eine ewige Morgenröte auf- und absteigt, deine Liebe und mein Glück. Ich halte mich kaum, daß ich nicht auffahre, hinrenne, und bezwinge mich, um sicherzugehen und nicht wie ein Unbesonnener törichte, verwegne Schritte zu tun. Ich habe mit Direkteur S. Bekanntschaft, meine Reise geht gerade zu ihm, er hat vor einem Jahr oft seinen Leuten etwas von meiner Lebhaftigkeit und Freude am Theater gewünscht, und ich werde ihm gewiß willkommen sein. Denn bei eurer Truppe ist's nichts, auch ist S. so weit von hier, daß ich anfangs meinen Schritt verbergen kann. Einen leichten Unterhalt find ich da gleich, ich sehe mich um im Publiko, lerne seine Leute kennen, hole dich nach und – Mariane! du siehst, was ich über mich gewältigen kann, um dich gewiß zu haben; denn dich so lange nicht zu sehen, dich in der weiten Welt zu wissen, recht lebhaft darf ich's mir nicht vorsagen – und dann wieder deine Liebe, die mich vor allem sichert! Und ich bitte dich, versag mir das einzige nicht, eh wir uns scheiden, gib mir deine Hand vor dem Priester, ich werde ruhig gehen. Es ist nur Formel unter uns, aber so eine schöne Formel; der Segen des Himmels zu dem Segen der Erde! In der Nachbarschaft, im Ritterschaftlichen geht's leicht und heimlich an. Geld für den Anfang für uns beide hab ich, wir wollen teilen, und ehe das all ist, wird der Himmel weiterhelfen. Ja, Liebste! es ist mir gar nicht bange. Was mit so viel Fröhlichkeit begonnen wird, muß ein glückliches Ende nehmen. Ich habe nie gezweifelt, daß man sein glücklich Fortkommen in der Welt finden könne, wenn's einem Ernst ist, und ich fühle mir Mut genug, für zwei, für mehrere einen Erwerb zu gewinnen. Die Welt ist undankbar, sagen sie; ich habe noch nicht gefunden, daß sie undankbar sei, wenn man auf die rechte Art etwas für sie zu tun weiß. Mir glüht die ganze Seele beim Gedanken, endlich einmal aufzutreten und den Menschen in das Herz hineinzureden, was sie sich so lang zu hören sehnen. Wie tausendmal ist's freilich mir, der ich so von der Herrlichkeit des Theaters eingenommen bin, bang durch die Seele gegangen, wenn ich die Elendesten gesehen habe sich einbilden, sie könnten uns ein großes, treffliches Wort ans Herz reden; es ist schlimmer, als was durch die Fistel gezwungen wird, eine Versündigung, wie's in der groben Ungeschicklichkeit dieser Bursche herzugehen pflegt. Das Theater hat einen Streit mit der Kanzel oft gehabt, und sie haben einander nichts vorzuwerfen. Es wäre zu wünschen, daß an beiden Orten nur die edelsten Menschen stünden, daß Gott und Natur immer verherrlicht würden. Es sind keine Träume, meine Liebste: wie ich an deinem Herzen habe fühlen können, daß du in Liebe bist und für mich bist, so ergreife ich auch den glänzenden Gedanken und sage – ich will's nicht aussagen, aber hoffen will ich's, daß auf uns herabsteigen soll die große Schönheit und die so von allen gewünschte Erscheinung des Übermenschlichen in menschlicher Gestalt. So gewiß, als mir an deinem Herzen Freuden gewährt waren, die von den Menschen immer göttlich genennt werden, weil sie in diesen Augenblicken über sich selbst gehoben sind. Ich kann nicht schließen; ich habe schon so viel gesagt und weiß nicht, ob ich dir alles schon gesagt habe, alles, was dich angeht, denn für das Rad, wie sich's in meinem Herzen dreht, sind keine Worte. – Nimm dieses Blatt indes, meine Liebe! Ich habe es wieder durchlesen und finde, daß ich von vornen anfangen sollte, indes hat's alles, was du zu wissen nötig hast, was dir Vorbereitung ist, wenn ich nun bald mit der Fröhlichkeit der süßen Liebe an deinen Busen zurückkehre. Ich komme mir vor wie ein Gefangener, der in einem Kerker lauschend seine Ketten abfeilt. Ich sage gute Nacht meinen sorglos schlafenden Eltern und bald eine längere gute Nacht - - Leb wohl! für diesmal schließ ich, die Augen sind mir zwei-, dreimal zugefallen, es ist schon tief in der Nacht."

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Der Tag wollte, da es schon gegen das Frühjahr ging, gar nicht endigen, als er, diesen Brief schön gefaltet in der Tasche, sich zu Marianen hinsehnte. Endlich erschlich er ihre Wohnung und konnte sich in ihren Armen nach einer so langen Abwesenheit kaum wieder fassen. Ihr Herz war wie in Stücken geschnitten, geteilt mit sich selbst in schwer blutenden Schmerzen von jeder seiner Umarmungen. Sein Plan war, er wollte sich auf die Nacht nur anmelden, ihr beim Weggehen den Brief in die Hand drücken und ihre Entzückungen, ihre ergreifende Freuden bei seiner Rückkehr in tiefer Nacht genießen, und eh er sich's versah, ward's ihm ganz matt in der erwünschten Nähe seiner Geliebten. Sie war krank und konnte nicht sagen wo; unbehaglich war sie nun sehr und konnte sich auch auf den Vorschlag, daß er heute nacht wiederkommen wollte, nicht einlassen. Er, der bei einem längern Umgang dergleichen weibliche Winke zu ehren gewohnt war, stund in Stille ab, es war ihm aber doch, als wenn auch sein Brief nicht in der Jahreszeit wäre, er behielt ihn bei sich, da verschiedene ihrer Bewegungen ihn auf eine leidliche Weise wegzugehen nötigten. In dem Taumel seiner ahndenden Liebe raffte er noch ein Halstuch von ihr, das er auf der Kommode liegend fand, zusammen, steckte es in die Tasche und verließ wider Willen ihre Lippen und ihre Türe. Er schlich nach Hause, konnte da nicht lange bleiben, kleidete sich um, suchte wieder die freie Luft. Er hörte in einer Straße von Klarinetten, Waldhörnern und Fagotts eine angenehme Nachtmusik, es schwoll ganz durchaus in ihm. Es waren durchreisende Spielleute, er hatte schon von ihnen sprechen gehört. Er machte sich an sie, und für ein Stück Geld schleppte er sie mit sich nach Marianens Wohnung. Es waren Bäume in der Nachbarschaft, die den Platz von alther zierten, darunter steckte er seine Sänger, er selbst ruhte weiter hin, überließ seinen Busen ganz den schwebenden Tönen, die in der labenden Nacht um ihn säuselten. Unter den holden Sternen hingestreckt, war ihm sein Dasein wie ein goldner Traum. "Sie hört auch diese Flöten", sagt' er zu seinem Herzen, "sie fühlt, wessen Andenken, wessen Liebe die Nacht wohlklingend macht. Auch in der Entfernung sind wir durch diese Melodien zusammengebunden, wie in jeder Entfernung durch die feinste Stimmung der Liebe. Ach, zwei liebende Herzen, sie sind als wie zwei Magnetuhren, was in dem einen sich bewegt, muß auch das andere mit bewegen, denn es ist nur eins, was beide bewegt, eine Kraft, die sie durchgeht. Kann in ihren Armen der Mensch eine Möglichkeit fühlen, sich von ihr zu trennen? Und doch, ich werde fern von ihr sein, werde einen Heilort für unsere Liebe suchen und werde sie immer mit mir haben. Wie oft ist mir's geschehen, daß ich abwesend von ihr, in Gedanken an sie verloren ein Buch, ein Kleid oder sonst was berührte und glaubte, ihre Hand zu fühlen, so ganz war ich mit ihrer Gegenwart umkleidet. Und jener Augenblicke mich zu erinnern, die das Licht des Tages wie das Auge des kalten Zuschauers fliehen, die zu genießen Götter den schmerzlosen Zustand gleich rein schwebender Seligkeit verlassen! – zu erinnern! – als wenn Erinnerung für den Rausch des Taumelkelchs wäre, der unsere Sinnen an himmlischen Stricken gebunden aus aller ihrer Fassung peitscht – und ihre Gestalt - - -" Er verlor sich in Erinnerungen, die Ruhe ging in Verlangen hinüber, er umfaßte einen Baum, kühlte seine heiße Wange an der Rinde, und die Winde der Nacht saugten begierig den Hauch auf, der aus dem reinen Busen bewegt hervordrang. Er suchte nach dem Halstuch, das er von ihr mitgenommen hatte, es war vergessen, es stak im vorigen Kleide. Seine Lippen lechzten, seine Glieder zitterten in Verlangen. Die Musik hörte auf, und es war ihm, als wär er aus dem Elemente gefallen, in dem seine Empfindungen bisher getragen wurden. Seine Unruhe vermehrte sich, da seine Gefühle nicht mehr an den sanften Tönen genährt und gelindert wurden. Er irrte herum und ward gegen Marianens Wohnung getragen. Er setzte sich auf der Schwelle nieder, er ward schon beruhigter, er küßte den messingenen Ring, womit man an ihre Türe pochte. Er saß wieder eine Weile stille. Wie er sie sich dachte hinter ihren Vorhängen, im weißen Nachtkleide mit dem roten Band um den Kopf in süßen Träumen! und dann dacht er sich so nahe zu ihr hin, daß ihm vorkam, sie müßte nun von ihm träumen. Seine Gedanken waren lieblich wie die Geister der Dämmerung, Ruhe und Verlangen wechselte in ihm, die Liebe lief mit schaudernder Hand tausendfältig über alle Saiten seiner Seele; es war, als wenn der Gesang der Sphären über ihm stille stünde, um die leisen Melodien seines Herzens zu belauschen.

Hätte er den Hauptschlüssel bei sich gehabt, der ihm sonst Marianens Türe öffnete, er würde sich nicht gehalten haben, würde ins Heiligtum der Liebe eingedrungen sein. Er schwankte halb träumend unter den Bäumen hin, er entfernte sich langsam; etlichemal wollte er seitwärts nach Hause und ward immer wieder umgewendet, endlich, als er's über sich vermochte und an der Ecke noch einmal zurücksah, kam's ihm vor, als wenn Marianens Türe sich öffnete und eine schwarze Gestalt sich herausbewegte; er war zu weit, um deutlich zu sehen, eh er sich faßte und hinsah, war schon wieder in der Nacht die Erscheinung verloren, nur ganz weit schien sie ihm an einem weißen Hause hinzustreifen, er stund und blinzte, und eh er sich ermannte und nachlief, war sie in den mannigfaltigen Gassen verloren. Wie einer, dem ein Blitz die Gegend in einem Winkel erhellt, der drauf vergebens mit geblendeten Augen die vorige Gestalten, den Zusammenhang der Pfade in der Finsternis sucht, so war's vor seinen Augen, so war's in seinem Herzen.

Und wie ein Gespenst der Mitternacht, das ungeheure Schröcken erzeugt, in folgenden Augenblicken der Fassung für ein Kind des Schröckens kann ausgedeutet werden und Zweifel in der Seele endlos sich auf- und abwickeln, so war's ihm, als er, an einen Eckstein gelehnt, des Morgens Lichtgrau und das Geschrei der Hahnen nicht achtete. Die frühe Gewerbe, die lebendig zu werden anfingen, trieben ihn endlich durch sein Schlupfloch nach Hause.

Er hatte sich, wie er ankam, dieses Blendwerk mit bündigsten Gründen ziemlich aus der Seele wegräsoniert, doch die schöne Stimmung der Nacht, an die er jetzt auch wie an eine Erscheinung zurückdachte, war auch dahin. Sein Herz zu letzen, ein Siegel seinem erholten Glauben aufzudrücken, zog er das Halstuch aus der vorigen Tasche; das Rauschen eines Zettels, der herausfiel, zog ihm das Tuch von den Lippen, er hob auf und las:

"So hab ich dich lieb, kleiner Narre, was war dir auch gestern? Heute nacht komm ich zu dir. Ich glaub wohl, daß dir's leid tut, von hier wegzugehen, aber hab Geduld, auf die ***Meß komm ich auch. Höre, tu mir nicht wieder die schwarz-grün-braune Jacke an, du siehst drin aus wie die Hexe von Endor; hab ich dir nicht das weiße Negligé drum geschickt, daß ich ein weiß Schäfchen in meinen Armen halten will? Schick mir deine Zettel immer durch das alte Luder; die hat der Teufel selbst zur Iris bestellt.

 N."

 

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