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Blätter der Frankfurter Zeitung, 1940

Folgende Artikel erschienen unter dem Titel "Die Frau" Blätter der Frankfurter Zeitung am Sonntag, 24. November 1940:

Fülle des Herzens.
Zu Goethes "Stella".

von Rudolf Bach

Als der erste Akt zu Ende war und der Vorhang über der Gaststube niederfiel, sagte der Freund: "Welch eine Prosa - es geht einem durch und durch. Und die Noblesse der Menschen gegeneinander!" Nachher, als Stella zu den beiden Frauen, die sie eben erst kennengelernt hat, in strömender Unbefangenheit von ihrer Liebe sprach, von nichts als von ihrer Liebe zu Fernando, dem Ungetreu-Getreuen, Abwesenden, Verschollenen - er aber ist schon nebenan im Gasthause und wird bald da sein, er ist der Gatte und der Vater von Stellas neuen Freundinnen, ohne daß jemand von den Dreien eine Ahnung von solchen Umständen hat, die wie eine elektrische Spannung im Raume geistern - in dieser wunderbaren Szene sagte der Freund wieder leise zu mir herüber: "Was für einen Blutdruck hat dieses Stück! Was für eine wunderbare Unmittelbarkeit in den Geständnissen!"

Wir saßen danach noch zusammen und ließen den Eindruck im Gespräch ausklingen: Wirklich, es war ein Ausklingen; uns war zumut, als kämen wir aus dem Bereich einer Mozartschen Oper. Selten erreicht ja eine Bühnendichtung die Höhe, wo alles Gegenständliche, Stoffliche von der sublimierten Kraft der Musik verzehrt wird. Hier aber, in der "Stella" ergeben sich Mozart-Parallelen: die makellose Reinheit der Form, die Leichtigkeit auch der ernsten, schweren Akzente, das Schweben in aller Fülle, ja Wucht des inneren Ausdrucks, die zart-durchdringende Energie der Szenenführung - wie es einen ganz gewaltlos, aber unwiderstehlich von Anfang an sozusagen beim Schopf nimmt und nicht mehr losläßt - ,auch die gesellschaftliche Kultur, aus der die Haltung und das noble Zueinander der Menschen erst möglich wird, schließlich in einem weitern Sinne die moralische Atmosphäre: der Glaube an die hellen, guten Kräfte in uns, der Glaube an die Möglichkeit rein menschlicher, versöhnender Lösungen ("er fühlte Menschheit - er glaubte an Menschheit" heißt es in dem Stück an entscheidender Stelle, - wie ist in einem solchen Wort der starke schöne Optimismus des achzehnten Jahrhunderts gegenwärtig!) - dies sind alles ganz natürliche Entsprechungen. Bei Lessing schon gibt es ähnliche Ansätze; eine vollendete Minna-Aufführung kann Mozartschen Geist beschwören, aber erst bei Goethe erfüllt sich die Analogie, vor allem auch aus dem schöpferischen Melos der Sprache. Über Lessings leuchtende, männliche Klugheit hinaus, von der Goethe so viel besitzt, erhält die Sprache noch das Hauchende, Wehende, Gelöste, den dunklen Widerglanz aus Schätzen der Tiefe.

Goethe schrieb die "Stella", man weiß, im Jahre 1775, als er sich immer tiefer in seine Liebe zu Lili verstrickte und zugleich schon das unrettbare Hinschwinden dieses Gefühls kommen sah, da das titanische Verbrausen seiner Lebenskräfte zu einer gefährlichen Krise, zum unerbittlichen Austrag drängte. Die Briefe an die "im Herzen wohlgekannte, mit Augen nie gesehene Freundin" Auguste zu Stolberg lassen den Pulsschlag jener selig-unseligen Tage spüren. In Goethe wechselten damals Stimmungen rastloser Unruhe, tiefster, schwärzester Niedergeschlagenheit mit aufblitzenden Momenten einer fast dämonischen Lebenszuversicht. Dies ist das seelische Klima der Stella-Dichtung, ihr "Blutdruck", in dem sich die gärende Hochspannung des Goetheschen Lebens zu jener Zeit offenbart. Aus ihr griff Goethe zu dem alten Mittel der Selbstbefreiung durch Gestaltung. "O wenn ich jetzt nicht Dramas schriebe - ich ginge zu Grunde.", heißt es in den Stolberg-Briefen. Dazu kam nun freilich die geistige Windstille mitten im Wirbelsturm der Empfindungen, die planende Ueberlegenheit einer mächtigen produktiven Natur, während die Stürmer und Dränger von ihren eigenen Gefühlskräften davongetragen wurden.

Nach den stofflichen Voraussetzungen der "Stella" zu fragen, ist nicht ergiebig und auch nicht sehr wichtig. Anregungen hat eine Episode aus dem Leben Jonathan Swifts gegeben; von den beiden Frauen, die darin verstrickt waren, hatte eine sogar Stella geheißen. Vielleicht hat Goethe in den letzten Monaten seiner Leidenschaft zu Lili noch ein anderes Mädchen geliebt; man glaubt in dieser Richtung einige Spuren zu erkennen. Auch mancherlei Herzenswirren im Kreise der Darmstädter Empfindsamen oder im Zirkel Friedrich Heinrich Jakobis mögen mit hineingeklungen haben. Entscheidender ist ein Wort aus Goethes eigenem Munde, wenn es auch erst später gesprochen worden ist: "Ich bin des Herzteilens überdrüssig."

Man nennt Fernando gewöhnlich einen Schwächling, einen Haltlosen. Das ist er nicht, genau so wie Werther kein Schwärmer, oder doch kein Schwärmer aus Schwäche ist, sondern, wie man einmal treffend gesagt hat, ein Titan der Empfindung. Fernando ist untreu nicht aus einem willen- und marklosen Hin- und Hergerissensein, das sich nicht zu entscheiden weiß, sondern aus einer Ueberfülle des Liebesgefühls, aus einem erotischen Reichtum, dem eine einzige Frau nicht zu erwidern und den er darum nicht zu bändigen vermag. Ein Stück Faust und ein Stück Don Juan sind in Fernando lebendig - wie sie in Goethe lebendig waren. Das erklärt auch die unbedingte, alles andere ausschließende Liebe der beiden so verschiedenen Frauen zu ihm. Es kommt in der Darstellung freilich selten genug richtig zum Ausdruck, ist aber höchst wichtig. Es darf beileibe kein falscher Zug von Gepreßtheit oder schlechtem Gewissen sichtbar werden; nur wenn wir einen von innen Umgetriebenen sehen, vermag uns Fernandos Schicksal zu erschüttern. Der Darsteller darf die Farben kühn mischen und hart nebeneinander setzen, wie sie in der Gestalt selbst manchmal ohne Uebergang wechseln: neben seinem hinreißenden Charme hat Fernando auch gefährliche Züge, die augenblicksweise ausblitzen, eine herrische Jäheit, eine gewisse Leere und Abwesenheit des erschöpften Gefühls, und irgendwo in einem Winkel der Seele nistet eine böse Kälte (versprengte Funken davon sind sogar in Lucie, seiner kleinen Tochter, lebendig, dort etwa, wo sie, als Stella vom Tode ihres Kindes erzählt, das in aller Unbefangenheit erschreckende Wort sagt: "Sie haben doch auch viel Beschwerlichkeit weniger.") Der Darsteller darf diesen Härten und Bedingtheiten der Gestalt nicht ausweichen, denn nur dann wird ganz deutlich, was auch sie in hohem Maße ist: ein Stück Goethescher Selbstbeichte und Goetheschen Selbstgerichts. Zwischen den Liebenden, Stella und Fernando, steht Cäcilie. Auch sie lebt und denkt aus der Fülle des Herzens, aber es ist eine gebändigte, in stillen tiefen Schmerzen reif und klar gewordene Fülle. "Fernando!" sagt sie in der letzten Aussprache, "mein Herz ist warm und voll für dich; es ist das Gefühl einer Gattin, die, aus Liebe, selbst ihre Liebe hinzugeben vermag." Mit den einfachsten Worten rührt diese Frau hier an ein großes Geheimnis, dessen ihr Wesen teilhaftig ist, ohne es zu wissen, an das Geheimnis der Caritas, der überpersönlichen Liebe, die alle Glut des Gefühls in ein starkes, reines Erbarmen emporzuläutern vermag.

Steht Cäcilie in einem sanften, ruhigen Schein, so ist auf Stella selbst alles Licht gesammelt. Und hält sich Cäcilie ihrem Wesen gemäß auf eine sehr hohe Weise im Allgemeinen, so hat Goethe die junge Gegenspielerin mit einer Fülle persönlicher Einzelzüge ausgestattet. Sie lebt schon vor uns, noch ehe sie auftritt, so behutsam-eindringlich zeichnet der Dichter ihr Bildnis im exponierenden ersten Akt, in dem von den handelnden Personen, mannigfach abgeschattet, über sie gesprochen wird. Und im ersten Moment des Auftretens dann offenbart sie sich aus dem Kern ihres Wesens als das, was sie ist: als ein Genie der Liebe. Gefährlich-beseligende Mitgift! Wie weiß diese Frau, die schon eine Mutter war und innerlich ein Mädchen geblieben ist, zu lieben: rückhaltlos hingegeben, frei, kühn, phantasievoll, ganz und gar unbedingt und, was das Seltenste sein mag, auch im Schmerz, in der leeren Verlassenheit ohne jedes Ressentiment, ohne bitteren Vorbehalt, mit der reinen Demut einer wahrhaft adligen Seele. Auch hat ihre Unbedingtheit, ihr alles auf die eine große Empfindung Setzen nichts Dunkles, Uebersteigertes, wohin Kleists Frauen so leicht geraten; es bleibt alles innige Schwärmerei, aller Schmerz, ja selbst die Verzweiflung, die Wirrsal des tödlich getroffenen Gefühls, der aufblitzende Haß (in dem großartigen nächtlichen Monolog vor dem Bilde des Geliebten) - es bleibt dies alles noch in der Gnade einer unzerstörbaren Anmut geborgen, einer Anmut von so hoher Art, daß wirklich etwas Unirdisches, Engelhaftes davon ausstrahlt. Auch die Komponente eines zarten, klugen Humors fehlt nicht; Stella hat in allem glühenden Erfülltsein von Gefühl einen reizenden Abstand zu sich selbst, sie weiß ihre Geschichten entzückend mit leisen Humorlichtern zu versehen, und nicht zuletzt deshalb hören wir ihr so gerne zu, wenn sie von ihrer Liebe spricht, dort etwa, wo sie dem Freunde, wie es Liebende zu sagen und anzuhören nicht müde werden, den Beginn der Bekanntschaft, das Aufkeimen ihrer Neigung in die Erinnerung ruft. Wenn Lili wirklich ein Geschöpf war wie Stella, als deren Urbild sie gilt, so läßt sich der tiefe Zauber auf Goethe vollkommen begreifen.

Schauspielerisch ist die Rolle eine der reichsten und subtilsten Aufgaben für eine echte tragische Sentimentale. Goethe hat über die Rolle aus dem Blickwinkel des Theaterpraktikers ein paar knappe, aber gewichtige Worte gesagt: "Die Schauspielerin, welche die Rolle der Stella übernimmt, muß uns eine unzerstörliche Neigung, ihre heiße Liebe, ihren glühenden Enthusiasmus nicht allein darstellen, sie muß uns ihre Gefühle mitteilen, uns mit sich fortreißen." (in Frankfurt spielt derzeit die junge Maria Pierenkämper aus einen besten Reichtun der Empfindung eine sehr persönliche Stella mit einer unvergleichbaren Sprachmelodie.)

Die Ur-Stella von 1775 hat den versöhnenden Schluß. Goethe glaubte damals an die Möglichkeit einer Lösung des Konfliktes rein aus der unmittelbaren Entscheidung des entrückten Gefühls. Auch mochten ihm damals die Figuren, in denen so viel Persönliches mitschwang, noch so nahe am Herzen sein, daß er sie nicht der Strenge einer unausweichlichen Katastrophe ausliefern konnte. So fügte er sie zu einem volltönenden, harmonischen Akkord zusammen.

Aber der Klang dieses Akkords war verweht, als der Dichter sich viele Jahre nachher, aus ernster später Lebensmitte diesem Gebilde einer fernen Jugendzeit wieder zuwandte. Härter und tiefer sah er nun das Zueinander der drei Gestalten, und mit nur scheinbar kühlen Worten motivierte er den tragischen Schluß der zweiten Fassung, in der das Stück 1806 auf der Weimarer Bühne gegeben wurde: ..."bei näherer Betrachtung kam zur Sprache, daß...das Verhältnis eines Mannes zu zwei Frauen, besonders wie es hier zur Erscheinung kommt, nicht zu vermitteln sei und sich daher vollkommen zur Tragödie qualificiere. Fruchtlos blieb daher der Versuch der verständigen Cäcilie, das Mißverhältnis ins Gleiche zu bringen." Noch zwar wie früher erzählt sie die Legende vom Grafen von Gleichen und seinen beiden Frauen, noch fällt in Fernandos Seele ein Hoffnungsstrahl, noch ruft Cäcilie die Freundin herbei, um ihr den Geliebten zuzuführen, aber inzwischen hat Stella schon Gift genommen; als Fernando es erfährt, geht er ins Freie, und dann "fällt in der Ferne ein Schuß" . So hat Goethe den Liebenden den Tod zugebürdet, Cäcilie und Lucie aber werden, wenn der Sturm der Trauer in ihren Herzen verbraust ist, wie vorher einsam durch die Lande reisen.

Derart ist das strahlende Jugendgedicht in die Nähe der großen strengen Werke gerückt, die damals in Goethe heranreiften und die nach seinem Zeugnis "das schmerzliche Gefühl der Entbehrung" ausdrückten: "Die Wahlverwandschaften" und "Pandora".

In einem zeitgenössischen Bericht über die Aufführung der tragischen Fassung heißt es: "Man blieb mehrere Minuten in Schwermut versunken auf seinem Stuhle sitzen, und nur das Wiederhinaufrollen des vorderen Vorhanges erinnerte an das Aufstehen."

 

Die Großeltern.

von Hanns Braun.

Man will festgestellt haben, daß unter Tieren das Bewußtsein der Familienzugehörigkeit nie über die Stufe Eltern-Kinder hinausreicht. Großeltern und Enkel gehören also der menschlichen Erlebnissphäre an.

Anscheinend erlischt bei Tieren sogar die Elternliebe, die anfänglich so heftige, zum Selbstopfer entschlossene, um die Zeit, da das Junge "flügge" geworden. Es mag Ausnahmen geben, aber die Regel dürfte sein: das jede aufgezogene Brut sich selbst überlassen und - vergessen wird, spätestens über der nachfolgenden.

Möchte Aehnliches nicht auch unter Menschen statthaben? Jedes Kind empfindet mit Eifersucht, wie es durch das zweite an die zweite Stelle rückt, weil alle sorgende Liebe der Mutter sich dem "Neuen" zuwendet. Auch zum Verjagen aus dem elterlichen Nest kommt es unter Menschen, wenn zwar mancherlei Bräuche den Vorgang umkleiden und mildern. Zum Vergessen aber kommt es wohl nie. Sogar der ein wenig bittere Satz, wonach leichter ein Vater zehn Söhne ernähre als zehn Söhne einen Vater, deutet nur an, daß der Zusammenhalt, wenn überhaupt, dann eher auf Seiten der Kinder ermatter (die da neue Verbindungen und Verpflichtungen eingehen müssen), als bei Vater und Mutter: bei denen ist Kindern immer ein Bett, ein Mahl, eine Hilfe bereitet.

Was aber treibt gar Großeltern, ihre Liebe - eine besonders nachsichtige, ja nachgebende Liebe, wie man weiß - Kindern zuzuwenden, die sie nicht selbt gezeugt und geboren haben? Was treibt sie, die Aeltergewordenen, die "es hinter sich haben" und der Ruhe zustreben, was treibt die sich Entfernenden, den Enkel, der ihnen dem Blute nach nur halb noch gehört, mit doppelter Zärtlichkeit aufzunehmen.

Die Stimme des Blutes allein? Gewiß, es wird den Ahn rühren, wenn er in den Zügen des Enkels das Familiengesicht wiederfindet und gewisse vertraute Eigenschaften in seinem Wesen. Der Ahn überschaut ja den Zusammenhang wie keiner sonst: ihm selbst reicht die Erinnerung zu Eltern und Großeltern zurück, selbst von den Urahnen weiß er durch Vater und Mutter; bis zum lebendigen, leibhaftigen Enkel, der da zu seinen Füßen spielt, ist das eine lange Kette. Ueberdem sagt man, daß sich Großvater und Enkel oft ähnlicher sind und einander besser verstehen als Vater und Sohn, zwischen die eine weise Natur nicht ohne Sinn den Keil der Gegensätze treibt. Gleichwohl erklären der Stolz des Wiedererkennens (ein oft doch getrübter Stolz) und das Besserverstehen, welches die letzte Probe meist nicht auszuhalten braucht, jene Verbundenheit nur annähernd, nicht ganz. Denn sie ist auch dagewesen, wenn die Stimme des Blutes hat schweigen müssen oder getrogen hat.

Aber auch dann bleibt ein Erkennen und Sichwiederfinden mächtig in dem nah-fernen Verhältnis der Großeltern zu den Enkeln: das beglückte Begreifens des Kindseins selber. Solange die Großeltern "nur" Eltern waren, junge Leute denn also mit den guten Absichten und störenden Leidenschaften ihrer Altersstufe, so lange war ihrer Liebe zu den Kindern immer auch die Aufgabe eingesenkt: etwas Rechtes aus ihnen zu machen. So suchten sie - von Vernarrtheit hier, von Ungeduld dort oft genug zu Fehlern verführt und darum von Gewissenbissen nicht frei - ihre Kinder zu formen, zu erziehen, zu bilden - heilig davon überzeugt, man könne es.

Zweifellos kann man es auch; und nie wird unter Menschen, die wissen, wozu Elternschaft berechtigt und verpflichtet, dieser gewissenhafte Trieb erlahmen oder abgetreten werden dürfen. Indessen der Großvater, dem erzieherischen Auftrag wie der störenden Leidenschaftlichkeit der Elternstufe nun ferner gerückt, verwahrt als vielleicht schmerzliches Erlebnis von dazumal seine Erfahrung. Sie hat ihn zu der Einsicht gebracht, daß sich auf ein von der Natur so oder so vorgeformtes Wesen vergleichsweise wenig einwirken läßt, weniger jedenfalls als man sich zutraut, wenn man jung ist, ja daß jedes Zuviel an Einwirken- und Aendernwollen mehr Schaden anrichtet als Zurückhaltung.

So nimmt es der Großvater jetzt, und es geht ihm leichter; denn er hat keine Verantwortung. Mag der Vater, der junge, sich grämen oder aufregen, über den "mißratenen" Sprößling, der Ahn sieht lächelnd darüber hin: ihm macht es die Pein nicht wie dem Sohn oder Schwiegersohn, daß nun abermals diese oder jene ungute Eigenschaft anklagend da ist, leibliches Zeugnis dafür, daß man unlängst wieder nicht damit fertig geworden - weswegen ja vor allem man ihr nun mit fürchterlichem Eifer "endgültig" zu Leibe gehen möchte.

Nein, der Großvater hat es nicht damit. Ungeachtet zahlreicher Fehler, ärgerlich überkommener oder erschreckend neuer, scheint ihm der eigene Sohn doch schließlich irgend etwas geworden; um wieviel lieber glaubt er an den Enkel! Auch wenn in den Kindern ihm manche Wünsche nicht haben reifen wollen, so weiß er doch, wie sichs oft still zurechtzieht mit der Zeit, was man mit Willen vergeblich zu zwingen versucht hat, er weiß um ein Waltendes, um schwer deutbare Hilfen und Verweigerungen, er weiß und hält es in Ehren, daß es im Leben so ganz anders geht als der Mensch möchte. Das macht ihn nicht hilflos und stumpf, aber duldsam, und darum erblickt er im Enkel nicht zuerst das, was sich aus ihm machen läßt. Er sieht das bloße Sein, und es erscheint ihm köstlich. Noch ein einziges Mal so sein dürfen: unbewußt aller Verhärtungen und Betrübnisse des Lebens, so sauber im Fleisch, so unschuldig in der Seele! So neu, so unverbraucht!

Solcherart entdeckt der Großvater, daß ihm das Leben hier noch einmal die unverhoffte Gelegenheit schenkt, jung zu sein: im Enkel selbst! Es ist eine wunderbare Art Jugend, die ihm da spät - und er ahnt es: zum letztenmal - vergönnt ist. Denn sie wird bewußt erlebt, sie ist von den Erfahrungen eines ganzen Lebens gewürzt, sie hat das helle Gefühl für die Werte, die Gnaden des Jungseins, die der Junge selber nicht haben kann. Es schmerzt den Ahn nicht sehr, weil es nur Mit-Erleben, übertragenes, nicht unmittelbares Jungsein ist. Schon einmal hat er dergleichen erlebt - wie er zum erstenmal Vater geworden - doch damals war er zu nahe dran, selbst noch jung und allzu beschäftigt. Jetzt endlich hat er den Abstand zu all dem: dieses dritte Mal kostet der Nacherlebende, der Erfahrene, die ganze Tiefe des Seins. Das Händchen des Enkels in der seinen geborgen haltend, feiert der Ahn auf seine stille Weise Abschied von einem nun erst völlig begriffenden Glück.

Wir haben vom Großvater geredet, weil sich von ihm aus manches zum Bedenken und Deuten drängt, doch davon die Großmutter darum nicht ausnehmen wollen. Denn sie hat das meiste ohne Besinnen, mit weit mehr Selbstverständlichkeit, aus dem Gefühl.

Das Mütterliche ist dem Kind näher, seine ganze Kindheit lang. Die Scheu, die bereits den Vater befallen hat und noch einmal den Großvater befällt vor dem Kinde als einem Lebendigen, das für-sich-da ist, ein Unergründliches, dessen man sich nie genug verwundert! - diese Scheu hat die Aeltermutter nicht so, oder wenn, dann doch überwältigt vom Trieb, zu sorgen und zu helfen. Zum andernmal fühlt sich das Mütterliche in seine Rechte eingesetzt, und während dem Großvater die Erfahrungen das Nichteinwirken nahe legen, verhält es sich bei der Großmutter schier umgekehrt: so, wie sie ihre Kinder einst gesäugt, genährt, gewickelt und vor Krankheiten behütet, aus Kranksein errettet hat, genau so möchte sie, daß mit den Enkeln verfahren werde. Sie ist darob ein wenig gefürchtet bei des Kindes Eltern, die das nach ihrem eigenen Kopfe machen wollen. "Das neumodische Zeug!" sagt da wohl die Großmutter verächtlich und hat Bitternis im Herzen gegen die grünen Eltern, die starrköpfig dem erprobten Besten widerstehen.

Doch in anderer Hinsicht ist sie selbst "neu", verhält sich gänzlich anders als damals, wo sie selber die junge Mutter war: durchaus mag sie es nicht, daß der Enkel streng angefaßt wird; mit grenzenloser Nachsicht soll ihm allezeit begegnet werden. Entschieden tritt sie dafür ein, daß man dem Kleinen seinen Willen lasse, und wo sie Verweise und Strafen nicht gänzlich verhindern kann, macht sie sich zum Schirm und Ausgleich, ja wirkt wohl gar heimlich gegen "die viele unnötige und grausame Strenge", wie sie es nunmehr nennt in ihrem Herzen, das noch einmal vor dem Kinde, dem Wunder und innersten Geheimnis des Mütterlichen, in ungestörter Andacht knien möchte.

Das Enkelchen läßt sich die hohe Verbündete wohl gefallen. Weidlich nützt es die grenzenlose Milde, läßt sich tragen und verwöhnen, schmeichelt mit Blicken und Lächeln und gewinnt sich mancherlei, was es von den Eltern nicht erreicht haben würde. Das ist nicht immer gut, und merkwürdigerweise begreift das niemand besser als der kleine Nutznießer selbst, sowie er zu einigem Begreifen erwacht ist. Und es nähert sich langsam, doch unvermeidbar der grausame Augenblick, da für ihre unbedachte Liebe die Verwöhnerin nicht den Dank ungehemmter zärtlicher Gegenliebe erntet, den sie sich erhofft, sondern jenes gewisse Zurückweichen, das Heranwachsende gegenüber allem haben, was ihnen "zu nahe sein" möchte. Denn sie wollen, müssen ja nun sie selber werden.

Diesen Schmerz gilt es auszuhalten wie so viele andere; die Weisheit kommt ihm zuvor, indem sie vor der Zeit unmerklich, sachte zurückweicht. In solcher Schwebe zwischen Nah und Entrückt bleibt das Dasein der Großeltern für den Enkel eine köstliche Schale, um das eigene junge Leben.

Wie ist die Behausung der Großeltern allein schon eine Landschaft voller Merkwürdigkeiten und ein Port der Stille für das Kind, das "dort sein darf". Die Eltern, das ist brennenden Leben, wohl herrlich, doch auch unbequem, schenkend und fordernd, ein heftiger Strom. Welche Milde aber liegt über jenen Menschen, die dem Enkel "alt" erscheinen und die doch geheimnisvoll ihm gehören so wie er zu ihnen. Hier herrscht Geborgenheit, und doch ist alles seltsam auch und bedeutend: das Ticken einer alten Uhr, ein Bild an der Wand, die Porzellanfigur im Schränkchen. Und der Geruch, schon wenn man hereinkommt! Er ist das Unbeschreiblichste und doch nie im Leben mehr zu Verkennende; noch nach Jahrzehnten führt ein ähnlicher unfehlbar all das Vertraute von einst in Bildern herauf.

Das Kind, das natürlicherweise mitten unter Geheimnissen lebt und dem der Glaube nicht die Beschwer macht wie dem Erwachsenen, der da wähnt, es gäbe für ihn keinen, weil er den in seinen kindlichen Bildern beschlossenen nicht zu wahren vermochte, das Kind weiß es noch ganz gewiß, daß jenseits des Großvaters --und nicht mehr mit Leibeshänden zu greifen - ein anderer wartet. Vater aus jenem Unsichtbaren, in das Großvaters Väter vorausgegangen sind, dem Hörensagen nach, mit vielen anderen. Aber wie denn? Aehnelt jener Ewige mit dem hohen Namen, so wie er in den halben Traumbildern des Einschlafens erscheint, nicht dem Großvater selbst? Ist nicht auch er alt? würdig? voll Güte? und dennoch allem tobenden Zudringen unsagbar entrückt?

Eines Tages ist der Großvater für immer fortgegangen, und übers Jahr ist ihm die Großmutter, die herzlich gern lebende und sorgende, nachgefolgt. Der Tod, wenn er erscheint, ist Kindern ein Unbegreifliches; ihr Schmerz ist zur Hälfte Ratlosigkeit. Aber im Kummer der Eltern ist ein tiefer Schauder aufgestanden: plötzlich sehen sie die Wand niedergebrochen, die sie vor dem Unbekannten, das da kommt, geschützt hat, sie selber stehen jetzt "vorne", ohne Ausweichen. Und für Augenblicke weiten sich ihre Augen vor Entsetzen, und sie spähen in das große Dunkel, das so völlig Nacht ist und doch nicht so finster für den, der das Licht darinnen zu ahnen und endlich zu erkennen weiß.

Auch die unmündigen Enkel spüren, daß da etwas zerbrochen ist und daß sie ärmer wurden um das Geschenk, das jeder Mensch, besonders de liebevolle, dem anderen sein kann. Aber noch sind ja die Eltern da als Blickfang und Schutz und Brustwall gegen den Abgrund Tod. Und so kehren sie zu ihren Spielen zurück, und die Großeltern gehen ein in die Erinnerung und werden unvergeßlich. Die aber, die nun an ihrer Statt Hüter des äußeren Ringens geworden sind, haben einen der Winke empfangen, wie sie das Leben behutsam und zuweilen erschreckend erteilt: mit ergrauenden Schläfen am eignen Haupt, mit dem Tod derer, die vorangehen. Sie haben ihn verstanden.

Kurze Zeit nur, und sie werden selber Großeltern sein und, den Fuß dicht am Abgrund des Unsagbaren, sich noch einmal umkehren und in denen verklären dürfen, die eben erst ins Leben getreten sind.

 

Heimische Vögel
Der Rotschwanz

von Philipp Gottfried Maler

(In dieser Reihe sind bisher behandelt: die Nachtigall, der Fink, der Pirol, die Schwalbe, das Rotkehlchen, die Singdrossel, der Stieglitz, die Grasmücke und die Meise.)

Da bei der Namengebung der Vogelwelt die auffälligen Merkmale der Stimme und der äußeren Erscheinung maßgebend waren, so mußten ein leuchtend rostrotes Schwänzchen, das bei der leisesten Bewegung des Körpers lose zitternd nach unten schlägt, zweien unserer heimischen Vogelarten den Namen geben. Zur Unterscheidung benutzt man die bevorzugten Aufenthaltsorte beider: im Wald und im Garten lebt der Garten- oder Waldrotschwanz (auch Gartenrötel genannt); steinerne Gebäude jeder Art, Ruinen, Steinbrüche und Felslandschaften sind die Reviere des Hausrotschwanzes oder Hausrötels. Europa ist beider Heimat.

Wenn der Hausrotschwanz alljährlich im halboffenen Nistkasten gleich neben unserer Gartentür brütet, wenn er sein Nest in Mauerspalten und Speichergebälk, in Gießkannen und in gedeckt stehende Blumentöpfe, ja sogar auf die Stubenuhr baut, so mag man sich wundern, diesen Vogel so häufig auf kahlen Felsenhöhen, in den Alpen bis zur Schneegrenze anzutreffen. Aber alles was aus Stein ist, zieht ihn an. Ursprünglich Gebirgsvogel, ist der Hausrotschwanz der steinernen Baukulter gefolgt. Sein dunkelgrau-schwarzes Gefieder (das Weibchen ist fahlgrau) erinnert an die Tönung des Basalts. Was ihn in seiner Umwelt außer dem Schwänzchen leicht kenntlich macht, sind die vielen hastigen Knickse, die er, stets frei - oft auf dem Dachfirst - sitzend zu machen pflegt: angesichts der Dinge, die seine Aufmerksamkeit erregen. Seine winzige, etwas gläsern klingende Strophe, eine der bescheidensten, die man sich denken kann, gehört mit ihrer melancholischen Kargheit zur Sprache der Einsamkeit. Von den Dächern unserer Häuser schon vor der Morgendämmerung in ewiger Wiederholung in unseren Schlaf dringend, hat sie etwas Geisterhaftes, etwas leise und eindringlich Warnendes. Es gibt den Glauben, daß ein von den Menschen gekränkes Rotschwänzchen Feuer in den Dachstuhl bringen könne. In der Lebhaftigkeit - die schnellen Vögel sind durchweg Insektenfresser - stehen die Rotschwänze fast den Meisen nicht nach. Diese zwar sind ruheloser, Turner und Kletterkünstler. Jene haben etwas Tänzerisch-Leichtes. Als seien sie nur Federkleid, eilen sie von Ort zu Ort, stürzen sich mit leichtem Schwung vom erhöhten Sitz, überschlagen sich in der Luft und tummeln sich mit vielerlei Wendungen im ruckweisen, schlangenlinigen Flug.

Hört man ein leichtes lockendes "füid" mit anschließendem "teck teck", so wird man alsbald einen Rotschwanz in der Nähe entdecken, am Waldrand und im Garten den Gartenrotschwanz. Er sitzt weithin sichtbar auf einem hervorragenden Ast und ist ungemein hübsch, besonders im Frühling. Hat das Männchen - das Weibchen ist bräunlichgrau - in der sommerlichen Mauser das Federkleid erneuert, so verwischen die hellen Säume der Federn die Farbkontraste. Wenn aber im Frühling die Federsäume abgenutzt sind, so zeigt sich sein Hochzeitsgewand in aller Pracht. Ein leuchtend weißes Band schmückt seine Stin (daher ist er im Volksmund auch "Bleßchen" genannt). Schwarz sind Kehle und Kopfseiten, was ihm den Namen "schwarzkehliger Sänger" eintrug. Der Rücken ist blaugrau, die Brust rostrot, der Bauch weißlich, bei den Schwingenfedern wechseln graue und braune miteinander ab - eine höchst malerische, höchst geschmackvolle Ausstattung. Während das Gelege des Hausrotschwanzes weiß, selten hellbläulich ist, finden wir im Nest des Gartenrötels Eier von kräftig blaugrüner Färbung. Es kann sein, daß eines darunter die anderen ein wenig an Größe übertrifft. Aus diesem wird ein kleiner Kuckuck gezeitigt, und die Rotschwanzbrut wird seinen Ansprüchen zum Opfer fallen. Diesmal müssen die Eltern nach Süden zurück, ohne sich vermehrt zu haben. Wenn die Blätter fallen, ist Reisezeit.

Im nächsten Frühling aber wird eines Morgens wieder das dünne, monotone Liedchen des Hausrötels in unseren Schlaf dringen, und wenn der Garten nicht weit vom Fenster ist, werden wir auch der reicheren, sanfteren, leise flötenden Strophengarnitur seines bunteren Vetters lauschen können, de einige fremde Vogelstimmen in seinen eigenen Gesang verwebt und der mancherorts in liebevoller Uebertreibung "Baumnachtigällchen" genannt wird.

Bilder: Rotschwänzchen. (links das Männchen, rechts das Weibchen.) Aus: "Deutsche Ornithologie aller Vögel Deutschlands". Darmstadt 1800

 

Die Hoffnung.

von Curt Gravenkamp

Mit diesem Werk des Johann Gottfried Schadow ward einem jungen Mädchen gehuldigt, das mit der stilhaften Grazie des 18. Jahrhunderts natürliche Anmut vereinte, in dem aber zugleich der Ernst einer neuen Zeit sich darzubieten im Begriffe stand. Man schrieb das Jahr 1802, der Schauplatz war Berlin, der Stern des Meisters, der die Statue schuf, war im Aufgehen begriffen: wenige Zeit zuvor hatte er den Prinzessinnen Luise und Friederike von Preußen jene Marmorgruppe geweiht, in welcher Hoheit und Würde mit Zartheit und Menschlichkeit verschmolzen bleiben.

Das Werk, dem Schadow selber den Namen "Die Hoffnung" verlieh, hält in bewundernswerter Weise die Waage zwischen Ideal und Wirklichkeit, und zwar aus einer Sicherheit her, die dem Meister unter allen deutschen Bildhauern seiner Zeit ganz besonders zu eigen war.

Dem jungen Mädchen, dem er diese fast einem Denkmal gleichende Bildnisstatue widmete, ist Schadow in seinem täglichen Leben damals oft begegnet: es war die Tochter des Bildhauers Christian Unger, der als Mitarbeiter in Schadows Werkstatt tätig gewesen ist. In einer von der Not der Zeit schwer heimgesuchten Häuslichkeit war Friederike Unger zu einer jener lieblichen Bildungen herangereift, wie die Natur sie manchmal auch in sonst trüber Atmosphäre erblühen zu lassen liebt. Die düstere Wohnung des Elternhauses in einem ärmlichen Winkel Alt-Berlins hat Friederike mit der Helle ihres Wesens erleuchtet. Auch in Schadows Familie war Friederike wie zu Hause. Später ist sie Gesellschafterin der Madame Börger gewesen, mit welcher Schadow abends nach des Tages Arbeit Schach zu spielen pflegte. In diesem Hause herrschte nun auch eine wahre Leidenschaft für Theater und Theaterspiel, und bei Gelegenheit bürgerlicher Soireen ließ Friederike Unger da ihr bescheidenes Bühnentalent sich entwickeln, wobei sie kleine Szenen natürlich zu vergegenwärtigen wußte. Sie hat nachher übrigens einen Schauspieler geheiratet, den wesentlich jüngeren Karl Stavinskil, um als junge Frau bald dem Berliner Gesichtskreis zu entschwinden und fortan in Breslau als Schauspielerin zu leben, allerdings ohne großen Erfolge.

Schadow hat uns selbst berichtet, wie sein Werk entstanden ist. Erst wollte er nur ein Porträt "en buste" machen; "da sie selbst nachher begehrte, die Arme möchten auch dabey seyn, so wurde ein Ballen Thon untergebaut und die Arme geschnitten, gleichsam in einer Attitüde, als lehnte sie sich an eine Brüstung und blickte freundlich runter in eine schöne Gegend. Indem sie nun dazu stand, fand ich die Stellung des ganzen Mädchens, die wohl gebaut ist, sehr anmuthig und meine Büste mit den Armen allzu fragmentarisch; es entstand so in mir ein recht brennender Eifer, die Figur ganz nachzubilden; es kamen aber Unterbrechungen. Nach einiger Zeit machte ich den übrigen Theil, und so ist es eine ganze Figur geworden, die die Hoffnung vorstellen soll, indem sie sich auf den Anker lehnt."

Zuvor hatte Schadow eine Kreidezeichnung des Kopfes angefertigt, hell gegen einen in dunklen Schraffuren getönten Grund, Schulter, Arme und Brust in leichtem, zügigem Umriß nur eben angedeutet. (Abbildung im Artikel mit der Unterschrift:Friederike Unger. Kopfstudie. Schwarze Kreidezeichnung. Berlin. Privatbesitz) Schon dieser Zeichnung gegenüber begreift man, daß Friederike mit Recht auf die Schönheit ihrer Arme stolz war. Das vollendete Werk kam 1802 auf die Berliner Kunstausstellung. In seiner Kritik stellte August Wilhelm Schlegel einiger Mängel an den Verhältnissen fest, über die sich übrigens auch Schadow selber im klaren gewesen ist. Das formale Gesetz der Statue ist ohne Zweifel einer Antike entlehnt - wohl der Polyhymnia der Lykomedes-Familie. Demgemäß ist auch - wie es der Zeitstil forderte - die Gewandung in griechischem Stil gehalten: da sie den Körper in dünnen Stoff hüllt, werden dessen schlank und doch fest gebildete Formen deutlich, wobei Schultern und Arme entblößt bleiben.

Der Anker nun, der im Sinne einer Zeit, welche Symbole über alles liebte, die Hoffnung bedeuten soll, ist nicht nur ein von außen her zugefügtes Attribut, auch verleiht er der Statue nicht nur ihre motivische Haltung. Aus geometrischen Elementen, dem Halbkreis, der Lotrechten und der Waagerechten ist er gefügt, zu einer Art Achsensystem, welche das Ethos der Statue fast architektonisch zur Schau stellt. Dies mag eben darum geschehen sein, weil der Anker ja das Sinnbild einer Idee sein sollte: weil ein Gedanke, ein Begriff in Anschauung, in Form umzusetzen war und weil sich dieses Begriffliche in wohltuenden Gegensatz zu der freien Gelöstheit der Gestalt selbst zu setzen vermochte. Begriff als Halt des Lebens, Idee als Sinn des Lebens, beides im Sinnbild vereinigt: so etwa könnte man den geistigen Antrieb kennzeichnen, von dem Schadow bei der Gestaltung des Werks getrieben war. Eine solche Durchdringung von Idee und Leben lag ja überhaupt ganz im Geist der Zeit, und Schadows Bildwerk offenbart dies wie kaum ein anderes seines Zeitalters mit vollendeter Deutlichkeit.

So steht also die junge Frau, die schönen Arme mit den zarten Mädchenhänden auf die Waagerechte des Ankers legend, als ob sie in einem Fenster lehne und - wie es jungen Mädchen ziemt - heiteren Sinns dem Leben der Straße dort unten folge. Lässig überkreuzen sich die Beine, umwallt von antikischem Gewand mit weiten Falten, die vielleicht etwas zu großen Füße mit Sandalen beschuht. Den Achsen des Ankers gemäß ergibt sich als Sinn der Komposition die strenge Anordnung nach der Antithese von Senkrecht und Waagerecht.

Zugleich aber leitet die Lotrechte als führende Stimme (und hierin mag man die geheime Gotik erkennen von welcher trotz aller Griechenbegeisterung die deutsche Kunst um 1800 durchdrungen war) - zugleich also leitet die Lotrechte empor, zu dem oberen Teil der Statue hin, wo mit den schwer lastenden und doch voller Grazie sich verschränkenden Armen der Zauber jugendlicher Weiblichkeit sich zu enthüllen beginnt: wo die zartgesunde Brust unter dünnem Gewandhauch sich regt, wo die Schultern anheben, ein Antlitz zu tragen, das sich zu der Freiheit des Lebens wendet. In diesem Antlitz aber wird ja nun die Hoffnung wirklich erst zum Leben erweckt: Hoffnung als diejenige Kraft, welche zumal die Jugend begeistert. Ein leichtes Lächeln fliegt über die Züge, vom Licht der Morgensonne scheinen sie erhellt zu sein. Wirr fallen die Haare in die Stirn, um sich am Hinterhaupt in griechischem Knoten zu sammeln, so wie die Mode der Zeit es vorschrieb.

Wie sehr in der Tat das, was die Statue als Sinnbild bedeuten wollte, im Antlitz nah wie das Leben da ist, zugleich aber auch als geistig gesammelte Kraft, das vermag ein Blick zur gezeichneten Studie hin zu lehren: wo nämlich Leben unmittelbar da ist, noch ohne Absicht einer sinnbildlich bedeutsamen Formung - wo aber freilich auch schon der feste Kontur, der Stirn, Wange und Kinn umreißt, wohl als Zeichen der Lebenszuversicht gedeutet werden dürfte, als der wesenhaften Haltung dieses jungen Menschenkindes inmitten der Schwere seines Daseins. Zu eigen war ihm der Zauber eines frohlockenden Augenpaares, dunkel im lichten Antlitz stehend, ein Mund, im Lächeln des Uebermuts beredt und schweigsam zugleich, ein Antlitz, im Leichtsinn hold und doch im Frohsinn schon an geheime Schwermut grenzend. Ueber der hohen Stirn scheint ein Wind des Frühlings mit wehenden Haaren sein zärtliches Spiel zu treiben. In solchem Angesicht schien von der Natur das bereits herangebildet, was die vom Menschengeist getriebende Zeit als hohes Sinnbild in sich trug und was einer ihrer Schöpfer in Gestalt zu bannen suchte: des Lebens Ur-Element, das in der Sprache der Menschen Hoffung heißt.

Curt Gravenkamp

Anmerkung: neben der Kreidestudie gibt es in diesem Artikel noch eine frontale Aufnahme der ganzen Statue und eine Detailaufnahme des Kopfes im Profil bis etwa zur Hälte der Brust.

Interessant wäre es, zu wissen, ob diese Statue den Zweiten Weltkrieg überlebt hat, ob sie ganz oder teilweise zerstört wurde.

 


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Gestaltet von Elke Konstandin-Hassforther. Letzte Änderung: 31.12.2007
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