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Hans Dieter Zimmermann - Kafka für Fortgeschrittene

Gelesen am 04./05.04.2007. Die Überarbeitung meiner Exzerpte ist noch in Arbeit.

Ich habe das Buch ausgeliehen, nachdem ich beim Blättern in der Stadtbücherei das Gefühl hatte: Hier schreibt jemand, der den Text kennt, und sich nicht auf das einfache und billige Psychologisieren beschränkt. Zimmermanns Buch ist aber tatsächlich noch um Klassen besser, als ich zunächst den Eindruck hatte. Hier schreibt jemand, der die Texte wirklich kennt, der den religiösen(! - ja, auch den!) und zeitgeschichtlichen Hintergrund von Kafka kennt, und der tschechisch beherrscht(!), eine Seltenheit unter den bekannteren Kafka-Forschern. Zimmermann ist Geschäftsführender Herausgeber der "Tschechischen Bibliothek" und für seine Verdienste um die tschechische Kultur schon von Vaclav Havel ausgezeichnet worden. Nicht überraschend also, dass man in seinem Buch viele interessante Einsichten zu Kafkas Werk findet - nicht unbedingt alle neu, aber hier gut präsentiert und in einem überzeugenden argumentativen Zusammenhang.

Die einzelnen Kapitel folgen locker einer Chronologie, beginnen also in Kafkas Jugend, machen sich aber - wenn erforderlich - jederzeit davon frei, um Querverweise zu zeigen.

Max Brod und andere Freunde
Besonders gefreut hat mich, dass Kafkas engster Freund Max Brod von Zimmermann auch als Künstler angemessen gewürdigt wird. Zu unrecht wird Max Brods Arbeit reduziert auf seine Rolle als Herausgeber von Kafkas Werken - und auch hier noch rumgekrittelt. Die Unterschiede der beiden Freunde Kafka und Brod werden - wie es sich gehört - anhand von literarischen Texten herausgearbeitet, und zwar anhand des gemeinsamen Textes "Richard und Samuel". Auch die anderen wichtigen Freunde Kafkas (Baum, Bergmann, Weltsch) werden entsprechend gewürdigt.

Das Urteil
Am auch meiner Meinung nach etwas überschätzten Text "Das Urteil" findet Zimmermann stichhaltige Kritikpunkte(S.67-69). In diesem Zusammenhang eine schöne Abhandlung zum Thema Vater-Sohn-Konflikt in der zeitgenössischen Literatur(S.69ff).

Die Verwandlung
Bei der "Verwandlung" weist Zimmermann auf die Person der Schwester hin, deren Bruder für sie sich zum Ungeziefer verwandelt (was den Juden im zwanzigsten Jahrhundert realiter widerfuhr). Grete Samsa als die Hauptperson der "Verwandlung" (hier folgt Zimmermann dem Prager Philosophen Karel Kosik)? Bedenkenswert(S.80).

Die Strafkolonie:
Seine Kultiviertheit hindert den Reisenden daran, der Barbarei Einhalt zu gebieten, er ist höflich, aufmerksam und freundlich dem Offizier gegenüber: humanes Engagement verkommt zu konventioneller Höflichkeit. Der Reisende duldet das Verbrechen und tritt ihm nicht entgegen, obwohl er dagegen ist(S.83/84). Kapitulation vor der Rationalität des Vorgangs. Untätigkeit aus falscher Rücksichtnahme auf sich und andere - auch eine Vorbedingung von Verbrechen.
Das Vergehen des Delinquenten ist belanglos, damit ist er unschuldig. Das Verfahren (ohne Anhörung, ohne Verteidigung) ist unrechtmäßig. Interpreten dieser Geschichte, die sich Gedanken über die Schuld des Delinquenten machen, entsprechen der hilflosen Höflichkeit des Reisenden(S.86).

"Der Reisende ist die wichtigste Figur dieser Erzählung und mit ihm der durchschnittliche Europäer, also auch der Leser. Dieser Europäer wird mit einem von Europäern, wenn auch an entlegenem Ort, praktizierten Verfahren konfrontiert, das er als höchst ungerecht und inhuman empfinden muss, und zugleich an die Grenzen seiner Humanität geführt. Er erfährt seine Humanität als eine konventionelle Form, die unter Gebildeten am Teetisch ihre Funktion erfüllen mag, aber außerhalb des gebildeten Zirkels versagt. In der Strafkolonie, einer europäischen Einrichtung außerhalb Europas, stößt er an die Grenze der europäischen Kultur, die von dieser Grenze her als in ihrem Kern höchst zerbrechlich erkannt wird. Der Reisende entflieht dieser Erfahrung. Noch am selben Tag geht er aufs Schiff, das ihn nach Europa zurückbringen wird. Dort aber wartet auf ihn - so ließe sich die Geschichte weiterspinnen - der Erste Weltkrieg, der gerade ausgebrochen ist und ihn tausendfach mit dem konfrontiert, dem er gerade entflohen ist."(S.87)

Der Verschollene
Einige Deutungsansätze für "Der Verschollene" unter Hinweis auf Comenius "Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens" - nicht ganz überzeugend(S.96ff). Andererseits sehr gut die Figurendeutung durch Zimmermann, die Beschreibung der Rollen der Protagonisten.

Unterschied Alfred Kubin - Franz Kafka
Schöne Herausarbeitung der Unterschiede zwischen Kubin und Kafka:
1) Kafka beschreibt nicht eine ganz ungeheuerliche Welt, sondert ändert nur Nuancen in seiner Beschreibung der Alltagswelt.
2) Kubin erzählt weitläufig, ausschweifend, weiß Bescheid; bei Kafka ist alles unsicher, der Leser erfährt nichts.

Der Process
Die Topographie ist ganz wichtig: K. kommt vom Land, wohnt aber in der Stadt. Das Gericht und all diese schrägen Anwälte, Zeugen und Informanten leben in der Vorstadt (in übervölkerten, verkommenen Mietskasernen(S.115). K. muss dorthin gehen, um mit dem Gericht in Kontakt zu kommen.
Die Figuren der Stadt führen ein normales Leben und reagieren normal, die Figuren in der Vorstadt führen ein merkwürdiges Leben und reagieren merkwürdig - in den beiden Bereichen herrschen unterschiedliche Regeln(S.116).

Kafka geht absichtlich durch Gassen, wo Dirnen sind(S.119). Reiz des Verbotenen, Reiz des Schmutzes.
Die Frauen im Prozeß-Roman sind fast alle niedersten Standes, die sich aber mit einer gewissen auch erotischen Aggressivität zu behaupten suchen. Im Gericht geht es zu wie in einem Bordell(S.119/120). Koppelung von Frauen und Gericht: als der Student die Waschfrau zum Untersuchungsrichter trägt, sieht K. darin seine erste zweifellose Niederlage(S.120). Kontakt zu Frauen bedeutet immer auch Kontakt zum Gericht(S.121) und umgekehrt.
"Das Endurteil kommt aus beliebigem Munde zu beliebiger Zeit [Huld zu Block](S.123). Dieser Gedanke stammt aus einem jiddisch und hebräisch geschriebenen Volksbuch ("Kav ha-Jaschar").

Sehr interessante Zusammenfassung der Interpretation von Karl Erich Grözinger, der unter anderen auf den Zusammenhang von jüdischen Feiertagen und der Entstehung von Kafkas Werken hinweist(S.125ff). Der Tag des Gerichts, im Jüdischen Kalender die Zeit um Neujahr (Rosh Hashanah). Bußzeit beginnt 30 Tage vor dem Neujahr, also 1914 am 23. August. Die zehn Tage zwischen Neujahr und Jom Kippur (Versöhnungsfest) sind die Tage der inneren Einkehr (Selbstprüfung).
Jom Kippur, Schuld und Scham. Selbstvorwürfe äußern sich als Scham, Vorwürfe der anderen als Schuld(S.127)

 

Das Schloss
Ein Beispiel für Zimmermanns Arbeit am und mit dem Text und die überraschenden Einsichten, die er gewinnt, soll die folgende längere Passage demonstrieren, die teils aus Zitaten, teils aus Paraphrasierungen besteht. Zimmermann schlägt vor, wie man "Das Schloss" lesen kann:

Eine Allegorie ist ein Zeichen, das leicht in ein Abstraktum zu übersetzen ist, das Symbol ist es nicht; seine Bedeutung ist komplex.

Das Symbol verhüllt und enthüllt zugleich, sagt Goethe. So ist auch die Bedeutung des Schlosses verhüllt, wenn auch Kafka Andeutungen gemacht hat, die eine Enthüllung nahe legen. (...) Also nicht das Werk als Ganzes ist Allegorie, es ist Symbol, aber einzelne Figuren nähern sich der Allegorie - am meisten der Graf Westwest und der Beamte Klamm.

Kafka konnte nicht (wie zum Beispiel Goethe im Faust) auf die antike oder christliche Mythologie zurückgreifen. Um dennoch das Schicksal des Menschen vor einem "metaphysischen Horizont" zu zeigen, macht er es wie Robert Walser in dessen Roman "Jakob von Gunten"(1909): Er nimmt eine alltägliche Situation und verfremdet sie derart, dass sie zum Symbol für etwas anderes wird; dieses andere wird jedoch nicht ausgesprochen, es wird durch die Darstellung selbst ausgedrückt. Doch Walser gibt Hinweise zur Enträtselung, indem er zum Beispiel Namen aus dem Alten Testament verwendet, oder auch Bilder wie "Wüste" und "Lichtraum", die freilich nur der versteht, der die Tradition kennt, die hier evoziert wird: in der Mystik sind "Wüste" und "Lichtraum" geläufige Bilder. Der Interpret, der alle Anspielungen des Textes verstehen will, muss also versuchen, sich die Kenntnisse anzueignen, von denen der Autor ausgegangen ist.

"Das Schloss" verfremdet eine alltägliche Ansiedlung in einem Dorf außerordentlich. Die "wörtliche" Bedeutung wird zu einer "sinnbildlichen" erweitert, die freilich nicht ausgesprochen wird. Aber Kafka gibt Hinweise, nicht zuletzt in den Namen, zum Beispiel Graf Westwest und der Beamte Klamm.

Graf Westwest: "West" ist die Himmelsrichtung "Westen" (man denke auch an das Hotel "occidental" im "Verschollenen". Dass der angebliche Beruf K.s "Landvermesser" in den Kontext dieser Begriffe des Kompass gehört, lioegt auf der Hand; er ist einer, der das Land, die Welt vermessen will, was "vermessen" ist. Warum aber West bzw. Westen?

Es ist die Andeutung des Problematik des Westjuden, also des Juden, der sich im Westen an den "Westen" assimiliert; diese Assimilation ist jedoch nicht möglich, er wird nie wirklich dazugehören. Die Familie des Barnabas assimiliert sich nicht, d.h. Amalia assimiliert sich nicht, während Olga sich sogar den niedrigsten Knechten unterwirft. Olga erreicht nichts außer ihrer Erniedrigung, Amalia erricht auch nichts, bewahrt aber ihren Stolz. Die Familie wird daraufhin boykottiert.

Das Gegenteil von "West" ist "Ost". Die Ostjuden assimilierten sich nicht. Kafka entdeckte schon 1911 in der Begegnung mit dem jiddischen Theater das Ostjudentum als das "wahre" Judentum.

Der Täuschung der Assimilation entspricht die Abwendung von der Religion der Väter. K. ist aus seiner angestammten Umgebung aufgebrochen, um im Dorf am Fuße des Schlosses des Grafen Westwest sich anzusiedeln. Westen ist das Gegenteil von Osten. Der Osten ist im Haus und in der Synagoge die Himmelsrichtung, nach der man sich richtet, der "Orient", nach dem man sich "orientiert"; nach dem Heiligen Land. Westen ist das Abwenden von der göttlichen Himmelsrichtung zu deren Gegenteil, dem Teuflischen. Von "Ex oriente lux" zu "Ex occidente tenebrae" (aus dem Westen die Finsternis). Momus, der Sekretär von Klamm, ist in der griechischen Mythologie der Sohn der Nacht.

Kafka beschreibt anscheinend im "Schloß"-Roman eine Situation, die zunächst eine geschichtliche ist, die Situation von West- und Ostjudentum, er beschreibt aber auch eine Situation, die gewissermaßen eine heilsgeschichtliche ist. Der Einzelne hat keine Wahl: er kann sich keine andere Welt wählen als die vorhandene; in dieser zurechtzukommen ohne Lug und Trug, ist aber unmöglich. Amalias Verweigerung ist vielleicht noch die beste Möglichkeit, sich der Täuschung ud Selbsttäuschung zu entzihen; es ist der Weg der Einsamkeit, der Isolation, also ein Sich-der-Welt-Entziehen. K. dagegen kämpft um seinen Platz und gerade das bringt ihn in engen und schwer entwirrbaren Kontakt mit der Täuschung.

[Nun lange Ausführungen über Barnabas (ein sich selbst täuschender Bote; erinnert (vielleicht) an das Neue Testament und daran, dass die Vermittlung zwischen Gott und Mensch, die von den himmlischen Boten, den Engeln, hergestellt wird, eine Täuschung ist); Momus (Bote, Dorfsekretär Klamms: Sohn der Nacht, Tadler); Jeremias (ein Gehilfe K.s); Erlanger (Schloßbeamter, über den K. Zugang zum Schloß gewinnen will); Bürgel (Schloßbeamter, Bürge, dass doch Hilfe möglich ist); Vallabene (Beamter, va bene, es wird schon gut gehen)]; Galater (Schloßbeamter, Paulus: "Brief an die Galater", darin Vorwurf, dass die Galater noch an das alte jüdische Gesetzt festhalten, hier wird das Christentum als selbständige Religionsgemeinschaft begründet); Olga und Amalia könnten Reminiszenzen an die Allegorien von Ecclesia und Synagoge sein, natürlich umgedreht: Olga als unterwürfige Ecclesia, die sich mit den niedrigsten Knechten gemein macht, Amalia als stolze Synagoge - machtlos sind aber beide.]

Der Beamte Klamm: Ein sprechender Name für die, die tschechisch können: Klam heißt Täuschung, Selbsttäuschung. Klamm wird im Text je nach Stelle, je nach Kontext vollkommen verschieden geschildert. Es ist ein Bild, das vom Betrachter abhängig ist: als dessen Wunschbild oder Angstbild? Nur wenn wir das Psychologisieren meiden und auf Kafkas Gedanken eingehen, können wir der Bedeutung Klamms im Text näher kommen. Dann zeigt sich, dass Klamm die Verkörperung der Täuschung, die Allegorie der Täuschung ist. Der Erzähler benutzt den Namen manchmal wie ein Substantiv, das eine seelische Haltung meinen könnte und nicht eine Person (Beispiel: "[...] Nun, in dem allen ist doch schon genug Klamm, sollte ich meinen.")

Der Hungerkünstler:
Bei Kafka ist das Hungern des Künstlers auf genau vierzig Tage begrenzt, danach bricht der Impresario das Hungern ab. Die vierzig Tage erinnern natürlich an biblische Zeitmaße des Fastens, es werden auch religiöse Zusammenhänge genannt. Allerdings: Hier fastet nicht ein Eremit, sondern hungert ein Künstler. Hungern ist nicht dasselbe wie Fasten, Fasten ist eine vorgeschriebene Handlung, die innerhalb eines religiösen Kultus ihre Funktion hat: die der Reinigung, die der Abwendung vom Irdischen, der Hinwendung zum Himmlischen. Bei Kafka wird gehungert, d.h. es wird lediglich nicht gegessen, und der Zusammenhang, in dem es geschieht, ist ein künstlerischer: der Künstler braucht ein Publikum. Seine Tat ist sinnlos, wenn das Publikum sie ignoriert. Er braucht die Zuschauer. Der Fastende hat Gott zum Zuschauer und braucht sonst niemanden. [S183/184]


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Gestaltet von Béla Hassforther. Letzte Änderung: 08.04.2007
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