Home, Kunst, Pforr-Material, Literatur, Musik, Astronomie, Links

Harry Graf Kessler - Das Tagebuch 1918-1937

Obwohl umfangreich, handelt es sich bei den im Projekt Gutenberg vorhandenen Tagebuch doch nur um einen kleinen Teil des Materials. Die Lektüre empfand ich durchgehend als spannend, auch die Berichte aus den Zeiten, da politische Themen in den Vordergrund rückten, denn Kessler hat auch zu solchen Zeiten genug allgemeine Beobachtungen und Anmerkungen gemacht. Die politischen Notizen mögen eine reiche Quelle für Historiker sein; für "allgemein-menschliche" und philosophisch-kulturelle Fragestellungen sind die anderen Texte interessanter. Das spürt man beispielsweise beim Übergang 1925 zu 1926.

Charakterisierungen sind eine von Kesslers Stärken. Mit einem Satz kann er einen Menschen beschreiben, auch fertig machen, hier einen "Kommandierenden":

"ein fetter, müder Mann, der aus dem Kriege heimgekehrt und hier den Verhältnissen nicht gewachsen ist" (7.11.1918)

Der „Osten“ hat auch für mich eine besondere Anziehungskraft. Mir gefällt deswegen Kesslers Notiz bei der Abfahrt von Berlin nach Warschau, zum Antritt des Gesandschaftspostens:

So fahre ich in meinen neuen Wirkungskreis ein, in diesen Osten, den ich liebe, der irgendeine unformulierbare, tiefe Schönheit für mich hat. (19.11.1918)

Wieder eine seiner schönen Charakterisierungen:

Der überwiegende Eindruck, den Haase macht, ist der einer großen Geschmeidigkeit bei fundamentaler Härte; die eiserne Faust im Gummihandschuh. Ein kleiner, verbissener, etwas jesuitischer Jude mit klugen, harten Augen. (17.12.1918)

Immer wieder Verwunderung über die Gleichzeitigkeit von revolutionären Ereignissen und Alltag:

Während dieser blutigen Ereignisse geht unbekümmert der Weihnachtsmarkt seinen Gang: Leierkasten spielen in der Friedrichstraße, Straßenverkäufer bieten Salonfeuerwerk, Lebkuchen und Silberflitter an, die Juwelierläden Unter den Linden sind sorglos geöffnet, hell erleuchtet funkeln ihre Schaufenster; in der Leipziger Straße, bei Wertheim, Kayser usw. drängt sich das übliche Weihnachtspublikum. Gewiß brennen in Tausenden von Häusern Christbäume, und Kinder spielen drum herum mit Geschenken von Papa, Mama und der lieben Tante. Daneben liegen im Marstall die Toten, und in der Weihnachtsnacht klaffen frisch gerissen die Wunden des Schlosses und des deutschen Staates. (24.12.1918)

Absolute Verurteilung von Kaiser Wilhelm bei Besichtigung des verwüsteten Schlosses:

Die Nippesschränke des Kaisers sind leer, die Glasscheiben zerschlagen. Was den Matrosen an den Plünderungen zuschulden kommt, scheint nicht festzustellen. Die Privaträume, Möbel, Gebrauchsgegenstände, übriggebliebenen Andenken und Kunstobjekte der Kaiserin und des Kaisers sind aber so spießbürgerlich nüchtern und geschmacklos, daß man keine große Entrüstung gegen die Plünderer aufbringt, nur Staunen, daß die armen, verschreckten, phantasielosen Wesen, die diesen Plunder bevorzugten, im kostbaren Gehäuse des Schlosses zwischen Lakaien und schemenhaften Schranzen nichtig dahinlebend weltgeschichtlich wirken konnten.

Aus dieser Umwelt stammt der Weltkrieg oder was an Schuld am Weltkrieg den Kaiser trifft: aus dieser kitschigen, kleinlichen, mit lauter falschen Werten sich und andere betrügenden Scheinwelt seine Urteile, Pläne, Kombinationen und Entschlüsse. Ein kranker Geschmack, eine pathologische Aufregung die allzu gut geölte Staatsmaschine lenkend! Jetzt liegt diese nichtige Seele hier herumgestreut als sinnloser Kram. Ich empfinde kein Mitleid, nur, wenn ich nachdenke, Grauen und ein Gefühl der Mitschuld, daß diese Welt nicht schon längst zerstört war, im Gegenteil in etwas andren Formen überall noch weiterlebt. (28.12.1918)

Nochmal eine Kritik am Kaiser:

Er war ein schüchtern-forscher Mensch, der laut schrie und aufgeregt redete, um seine Verlegenheit zu verbergen; seine Brutalität und kitschige Pose Selbstschutz und Selbstbetrug, eine rein persönliche Angelegenheit, die wir alle jetzt mit Vernichtung des Reiches und Ruin des deutschen Volkes bezahlen. Dieser brüllende, wie ein Löwe brüllende Hase wäre das lächerlichste Ungeheuer der Geschichte, wenn nicht Elend und Blutströme sein Werk wären. Die Verlogenheit seiner Haltung, die nichts Echtes neben sich duldete, hat Staat und Politik ausgehöhlt, Schein und Flitter an die Stelle des altpreußischen Kerns geschoben und dazu das Augenmaß fast des ganzen Volkes verdorben. (4.1.1919)

Kritik an Wedekind und die Café-des-Westen-Welt:

Abends Wedekinds ›Musik‹ im Theater an der Königgrätzer Straße. Das Haus trotz der Unruhen gut besetzt. Das Stück im Grotesk-Tragischen, als Anlauf zu Umwertungen, interessant, aber skizzenhaft: namentlich ist der letzte Akt, der die Höhe anstrebt, dünn und trocken, literatenhaft, statt menschlich; mehr ein Einfall als eine Schöpfung. Diese Wedekindsche, überhaupt berlinische Café-des-Westens-Welt mit ihren kühn gemeinten, fragmentarischen, etwas schwach-geistigen und naiven Tastversuchen nach neuer Ethik ist die, aus der Liebknecht zu verstehen ist. Für eine Weltrevolution ist das alles zu wenig, zu unreif, nicht menschlich und überzeugend genug. (16.1.1919)

Der Alltag geht weiter:

Abends in einem Kabarett in der Bellevuestraße. Rassige, spanische Tänzerin. In ihre Nummer krachte ein Schuß hinein. Niemand achtete darauf. Geringer Eindruck der Revolution auf das großstädtische Leben. Dieses Leben ist so elementar, daß selbst eine weltgeschichtliche Revolution wie die jetzige wesentliche Störungen darin nicht verursacht. Das Babylonische, unermeßlich Tiefe, Chaotische und Gewaltige von Berlin ist mir erst durch die Revolution klargeworden, als sich zeigte, daß diese ungeheure Bewegung in dem noch viel ungeheureren Hin und Her von Berlin nur kleine örtliche Störungen verursachte, wie wenn ein Elefant einen Stich mit einem Taschenmesser bekommt. Er schüttelt sich, aber schreitet weiter, als ob nichts geschehen wäre. (17.1.1919)

Aufführung von Wedekinds ›Büchse der Pandora‹:

Revolutionär ist Wedekind eigentlich nicht, sondern bloß rebellisch gegen Mächte, die er anerkennt, zum Beispiel sexuell. Er stand Liliencron näher, als er selber dachte. Der prickelnde Geschmack seiner Produktion beruht gerade auf dem Gegensatz, daß er den Bourgeois und ›die Sünde‹ im tiefsten Herzen anerkennt, ja Puritaner ist wie Barbey d'Aurevilly Katholik. Figuren wie die Geschwitz, wie der Liftjunge würden seine Aufmerksamkeit nicht so stark kitzeln, wenn die laufende Moral ihm weniger imponierte. Erst durch diese Beleuchtung bekommen sie für ihn ihr Relief. Man atmet in Wedekinds Werk daher nicht eine Atmosphäre wirklicher Freiheit. Er ist ein Sklave, der an seinen Fesseln in höchst pikanter Weise rüttelt: mehr Sadist als Freiheitskämpfer. (30.1.1919)

Bei George Grosz:

Vormittags Besuch beim Maler George Grosz in Wilmersdorf (Nassauische Straße 4). Dort Wieland und Hellmuth Herzfelde. Grosz hatte ein großes politisches Gemälde ›Deutschland, ein Wintermärchen‹, in dem er die bisher regierenden Klassen als Pfeiler der sattgefressenen, aktivitätsunlustigen Bourgeoisie verhöhnt (Schlummerrolle). Er sagte, er möchte der ›deutsche Hogarth‹ werden, bewußt gegenständlich und moralistisch; predigen, bessern, reformieren. Für abstrakte Malerei habe er kein Interesse. Dieses Bild habe er sich so gedacht, daß es in den Schulen aufzuhängen sei. Ich machte die Einschränkung, daß es nach dem Prinzip der Kräfteersparnis unwirtschaftlich sei, Dinge, die sich ohne Kunst ebensogut oder gar besser predigen ließen, durch Kunst propagieren zu wollen, zum Beispiel die Vorsicht vor Geschlechtskrankheiten. Hierzu sei ein anatomisches Kabinett geeigneter. Dagegen gebe es allerdings komplizierte ethische Erlebnisse, die sich vielleicht nur durch Kunst übermitteln und verbreiten ließen. Insoweit es diese gebe, sei eine moralistische Kunst berechtigt.

Grosz meinte dann, die ganze Kunst sei überhaupt etwas Unnatürliches, eine Krankheit; der Künstler ein Besessener, ein Mann mit einer Manie. Die Welt brauche die Kunst nicht, die Menschheit könne auch ohne Kunst auskommen.

Im Grunde genommen ist Grosz ein Bolschewist in der Malerei. Er hat einen Ekel vor der Malerei, vor der Zwecklosigkeit der bisherigen Malerei; will etwas ganz Neues mit malerischen Mitteln oder, richtiger, etwas, was die Malerei früher geleistet hat (Hogarth, religiöse Malerei), was ihr aber im 19. Jahrhundert verlorengegangen ist. Reaktionär und revolutionär, eine Zeiterscheinung. Dabei sind seine Gedankengänge intellektuell zum Teil primitiv und leicht anfechtbar. (5.2.1919)

Wieder eine nette Charakterisierung:

Nachmittags Frau Förster-Nietzsche besucht. Bei ihr saß Pachnicke, der Abgeordnete, das große Tier der Demokraten; etwas altfränkisch, etwas preziös, etwas »Zu-gut-für-diese-Welt«-Haltung; was dahintersteckt, weiß man nicht. Ich vermute, er zitiert Horaz und denkt dabei an den Bezirksverein. (23.2.1919)

Bildungsphantasien:

Im Bildungssumpf tummelt sich das Getier ahnungslos freudig, bis die ganze schöne Sumpfwelt in der Katastrophe von Weltkrieg und Revolution zusammenbricht! Die harte Berührung mit der Wirklichkeit hat unseren Studierten gefehlt. Zur Gesundung des ganzen Volkes müßte jeder Junge mindestens zwei Jahre auf sich selbst gestellt werden, abgeschnitten von allen Subsistenzmitteln: ein Handwerk lernen mit dreizehn, vierzehn Jahren und vom achtzehnten bis zwanzigsten ohne Mitleid in die Welt hinausgestoßen werden. Ersatz für die Militärpflicht. Alles andre ist Mumpitz, wenn von Einheitsschule, engerer Berührung mit dem Volke, Demokratie gefaselt wird. Die menschliche Überlegenheit des tüchtigen Proletariers beruht auf dieser Erziehung durch die Tat. Alles Gute in jeder Erziehung geht direkt oder indirekt hierauf zurück. Vielleicht ist ein solches Hinausstoßen in die Wirklichkeit allgemein nur in einer neuen Ordnung der Gesellschaft möglich. (23.2.1919)

Über die zweite Nummer der Zeitschrift "Die Pleite", die Kessler mitbegründete:

Dann war Wieland Herzfelde bei mir und brachte mir die zweite Nummer seiner Zeitschrift, die jetzt ›Die Pleite‹ heißt. Die Karikaturen von Grosz sind blendend, namentlich Ebert als Monarch im Klubsessel: ein Meisterwerk. Der literarische Inhalt dagegen zentnerschwer, das gerade Gegenteil von dem, was ich erwartet hatte: eine Sammlung von Manifesten, Kreischen und Pathos statt Witz und Farbe. Herzfelde sagt, seine Freunde und Mitarbeiter (Spartakisten) wollten es so, hätten gegen den leichten Ton der ersten Nummer revoltiert. Sie bleiben trotz internationaler Pose in den schlechten Eigenschaften deutsch: de lourds Allemands. Sie glauben nicht an die Macht und den Ernst des Witzes. Nur Keulenschläge töten nach ihrer Ansicht. Konsequenterweise ist Gewalt das einzige Mittel der Organisation. (5.3.1919)

Charakterisierung:

Um sechs bei Haase in seiner Wohnung Brückenallee 22. Bessere mittlere Bourgeoisie, Einrichtung aus den neunziger Jahren in einem anständigen, etwas schweren Geschmack, dunkel Eiche, Böcklin, Mona Lisa. Guter persischer Teppich. (9.3.1919)

Über Theodor Däubler:

Däubler befragte mich, wie er einen Paß nach der Schweiz bekäme, und erwähnte bei dieser Gelegenheit, daß er nach dem Friedensschluß Italiener sein werde. Für Deutschland optieren werde er auf keinen Fall. Die Gründe, die er für dieses passive Ausscheiden aus der deutschen Schicksalsgemeinschaft angab, schienen mir verächtlich klein: die schlechte Aufnahme oder Nichtbeachtung seines ›Nordlichts‹, üble Erfahrungen mit deutschen Verlegern und ähnliches. Er ist doch ein kleiner Mensch. Die etwas verächtliche Beurteilung, die er von Herzfeldes, Becher, Grosz erfährt, ist berechtigt. Ich brachte es nicht über mich, ihm zuzureden, deutsch zu bleiben; ich fühlte die Hemmung meines Stolzes. (27.3.1919)

Über alte Weiber:

Deutsch von der AEG bewegte sich in düsteren, reaktionären Prophezeiungen: Erst wenn die Arbeiter wieder zehn oder zwölf Stunden am Tage arbeiteten, werde unsere Wirtschaft in Ordnung kommen! Die Arbeiterräte würden alles zugrunde richten. Frau Deutsch sah schon den Augenblick, wo sie in eine Vier-Zimmer-Wohnung ziehen müßte: dann wolle sie lieber sterben! Sie und ihr Mann hätten eben erst ihr schönes neues Haus bezogen. Sehr modern! Sogar Arbeiten von Gaul. Sie hält die alte Sezession noch immer für eine Avantgarde. Diese Gesellschaftsdamen aus der Vorkriegszeit, Mumien, die ihre Perlen auf alten, vergilbten Hälsen herumtragen, wirken erschreckend im heißen Atem und Blutdunst der Massen, die keine seidenen Vorhänge mehr selbst aus Abendunterhaltungen der besten Kreise ausschließen. Die Leere eines solchen Mummenschanzes alter Weiber wirkt auf mich viel abstoßender als die Tanzerei, in der Natur und Wirklichkeit stecken. (31.3.1919)

Kessler ist gut im Schimpfen:

Abends Hauptausschuß-Essen des ›Demokratischen Klubs‹ zur Einweihung der Klubräume im ›Bristol‹. Bemstorff (der Botschafter), Nernst, Pabst-Weiße, Dr. Ullstein usw. Ein verlorener Abend. Bis auf einige Ausnahmen übelstes Philisterium; geistige Ebene der Bierbank. Eine Mischung von Fett und Gold, die nur noch Ekel erregen kann. Was daran, außer den Mittelstandsmanieren, demokratisch sein soll, mir unerfindlich. Dieselbe Klasse unterhält in Frankreich wenigstens noch kleine Mädchen oder in England Bibelklassen; hier ist es der unverblümte Sumpf, ideenloses Fett, das zu irgendwelcher Politik überhaupt kein Recht hat. Und dieses Getier kriecht jetzt dank der Revolution als Republikaner heraus. (8.4.1919)

Brillen:

Abends Vortrag von Wyneken über Schulreform im Beethoven-Saal. Viele Kinder, zur Hälfte bebrillt, was bei einer Jugendbewegung einen traurigen Eindruck macht. (15.6.1919)

Eine Vorahnung, dass es noch schlimmer als WW1 werden könnte:

Heute ist der Frieden in Paris ratifiziert worden; der Krieg zu Ende. Eine furchtbare Zeit beginnt für Europa, eine Vorgewitterschwüle, die in einer wahrscheinlich noch furchtbareren Explosion als der Weltkrieg enden wird. Bei uns sind alle Anzeichen für ein fortgesetztes Anwachsen des Nationalismus. (10.1.1920)

Baronin St. Leger

Mit André Germain, Stiedenkron und M. S. nach den Inseln, wo die legendenhafte Baronin St. Leger haust, die in der Gegend schon zu einer Art von Sagenfigur geworden ist. Sie soll Zauberkräfte besitzen, sieben Männer gehabt haben, die in der Weihnachtsnacht sie besuchen usw., usw. Eine abergläubische Scheu umgibt sie, die auf ihrer Insel allein mit einem alten Gärtner lebt. Dieser empfing uns auch am Landesteg und nahm unsere Karten entgegen, die er zur Baronin hineintrug. Nach einiger Zeit kam er mit der Erlaubnis zurück, uns den Garten zeigen zu dürfen. Dieser hat in einer scheinbaren Verwilderung und Vernachlässigung eine starke, bezwingende individuelle Stimmung; er schien uns nach wenigen Schritten unter seinen immergrünen, wilden Laubmassen und Palmenbüscheln in der grandiosen Bergumrahmung, beim eintönigen Wellenschlag des Seewassers das Abbild einer ungebändigten, großen, nach Ausdruck ringenden, nur auf Leidenschaft gestimmten Seele.

Ich kenne außer Sanssouci keinen so geistigen, einen einzigen Menschen ausdrückenden Garten. Die Circe, die ihn bewohnt und geschaffen hat, die alte, einsiedlerische Baronin, kam uns, wie es schien zufällig, in der Nähe des Hauses in die Quere, wies zuerst den Gärtner, der uns zu ihr hinführen wollte, mit heftigen kleinen Gebärden ab, kam uns dann aber, wie durch Mißtrauen angelockt, ein paar Schritt entgegen, und ich ergriff die Gelegenheit, sie anzureden und zu bitten, ihre Puppen, die sie fabriziert, zu besichtigen. Sie betrachtete mich und meine Begleiter zuerst mit unverhohlener Abneigung, die sich in dem scharfen, etwas semitischen, mit einem leichten schwarzen Kinnbart und Ringellocken geschmückten Gesicht ohne jede Höflichkeit abzeichnete. Dann wurde sie allmählich sanfter, ließ sich überreden, trippelte ins Haus und stand plötzlich mit einem täuschend lebensähnlichen Jungen auf dem Arm wieder vor uns. Sie behandelte die Puppe ganz wie ein Kind, sprach mit ihr, ließ sie vor uns schöntun und führte uns, als wir unsere Bewunderung ausdrückten, ins Haus, wo auf einem Sofa eine ganze Reihe ebenso lebenswirkliche kleine Mädchen und Knaben in phantasievollen Kostümen mit leuchtenden Puppenaugen nebeneinander saßen: man hätte meinen können, eine Kindergesellschaft. Sie nahm jedes einzelne kleine Wesen auf den Arm, stellte es vor, ließ sie Bewegungen und Verbeugungen machen; es schien ihre Welt.

Die alte Frau, die energisch und häßlich, mit diesen etwas süßlich lächelnden Puppen im Arm vor uns stand, schien wirklich wie eine Zauberin; dabei immer noch mißtrauisch und herrisch: ihr Kopf erinnerte mich jetzt an den des alten Disraeli. Dabei hing gegenüber ein Jugendbildnis, eine junge, sehr schöne Frau mit schwarzem, welligem Haar; so wie sie vor vierzig Jahren ausgesehen haben mag.

Seit dreißig Jahren lebt sie hier auf den Inseln, deren Schönheit sie geschaffen hat. Als sie herkam, erzählte sie, seien nur Steine und unglaublich freche Schlangen dagewesen, die wütend ihre Köpfe aufgerichtet und sie wie einen Eindringling angefaucht hätten. Sie hätte erst die Schlangen vertilgen müssen, dann Erde vom Festland korbweise herübergeschafft. Schließlich jeden Strauch und jeden Baum einzeln gepflanzt und gepflegt. In dreißig Jahren sei all das emporgewachsen, dieses Paradies. Jetzt kämen Menschen, photographierten, nähmen alles hin, als ob es Allgemeingut wäre. Da müßten wir begreifen, daß sie sich manchmal wie eine wilde Katze wehre: »So, so, so!« Dabei krallte sie ihre Finger zusammen, stieß sie gegen uns, fauchte, wie die Schlangen sie angefaucht haben mögen, als sie zuerst hier eindrang.

Daß früher hier ein Tempel der Venus gewesen sei, dann ein Kloster, das seit dem sechzehnten Jahrhundert verfallen war, bestätigte sie, zeigte Nachbildungen von Inschriften. War aber auf das schmerzlichste berührt, daß auch ihr Garten mitphotographiert und sogar als Reklame für die Gegend benutzt werde. Wir schieden mit einem schwer zu definierenden Eindruck von der merkwürdigen Frau. Abends höre ich, daß sie eine Schülerin von Liszt gewesen sein soll. (12.4.1920)

Zur Münchner Boheme

›Marquis Keith‹ im Schauspielhause. Tilla Durieux als Gräfin Werdenfels. Stilisierte, interessante Inszenierung und Regie nach Art eines Puppenspiels. Das Stück ist aber ältlich und wirkt ältlich: spießig, indem es ganz darauf abgestellt ist, den Spießer zu verblüffen. Eine einzige lange Reverenz vor dem Spießertum, dem es, als idealem Zuschauer, zugedacht ist. Diese Münchener Boheme ist nie aus dem Dunstkreise des Hofbräuhauses hinausgekommen. Komisch, daß solch schales Revoluzzen jemals für ›revolutionär‹ gelten konnte. Man empfindet heute hauptsächlich, daß es Leuten wie Wedekind, Strindberg, Baudelaire, Hauptmann usw. in der materiell gesegneten zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu gut ging und daß sie aus Mangel an wirklich ernsten Problemen allerlei tragigroteske Kapriolen schlugen, nur um irgendwo und irgendwie einen kleinen Schmerz sich einzubilden. Uns hat diese ganze Generation nichts mehr zu sagen. (6.5.1920)

Über Noske

Noske ist offenbar ein ganz ehrlicher und eingefleischter Militarist, den die Offiziere mit Hilfe seiner Vorurteile und mit Schlagworten an der Nase herumgeführt haben. Er hat etwas von einem Bären mit einem Nasenring. Sieht übrigens, obwohl ›stellungslos‹, recht wohlhabend aus, fährt erster Klasse, trägt funkelnagelneue gelbe Schuhe und vertilgte unterwegs große Mengen Schinkenbrote und Bier. Wenn nicht so viel unschuldiges Blut an seinen Fingern klebte, wäre er eine etwas komische, fast sympathische Figur. Wo er allerdings in seinem gewaltigen Körper sein soziales Gewissen und sein sozialdemokratisch rotes Herz aufbewahrt, ist sein Geheimnis. (18.6.1920)

Memellandschaft

Nachmittags war ich jenseits der Memel im jetzigen ›Memelgebiet‹. Der Schnitt durch Deutschland verläuft unmittelbar an der Tilsiter Stadtgrenze. Der stille, breite, rasche Strom ist der Abschluß. Hier begegneten sich bereits einmal in einem weltgeschichtlichen Augenblick Orient und Okzident, Napoleon und Alexander. Große, melancholische Landschaft, steppenartig, mit flachen Hügeln am Horizont. Dazwischen Flußarme, verlassene, glitzernde, über denen heute Zugvögel, schwere Regenwolken. Volksliedhafte Schwermut in lauter Molltönen. Dieser Eindruck entschädigte für Hotel und Versammlung. (26.11.1920)

Über seinen Nietzsche-Aufsatz:

Meinen Nietzscheaufsatz wieder vorgenommen. Abends Nietzsches ›Genealogie der Moral‹. Literarisch hinreißend, geschichtlich sehr brüchig. Seine Darstellung des Kampfes zwischen Rom und ›Judäa‹ als eines ›Sklavenaufstandes‹ gegen ›die Starken und Vornehmen, wie sie stärker und vornehmer bisher auf Erden nie dagewesen, selbst niemals geträumt worden sind‹, ist nur richtig, wenn man vornehm = mächtig setzt ohne Rücksicht auf den Zweck, zu dem die Macht gebraucht wird.

An diesem ›Wozu?‹ geht Nietzsche ganz vorbei. Aber der Ausgangspunkt des Kampfes war gerade die (richtige oder falsche) Ansicht, daß Macht an sich nichts bedeute, was ihre Kosten wert sei, das Gefühl des Unbefriedigtseins durch die Macht, und zwar durch die größte Machtanhäufung, die es je auf Erden gegeben hat (wie Nietzsche ganz richtig sagt), bei den Mächtigen selbst.

Der ›Sklavenaufstand‹ spielte bei der Ausbreitung des Christentums nur insofern eine Rolle, als er diesem Gefühl der Mächtigen einen geistigen Rückhalt bot. Aber das Wesentliche, das, was weltgeschichtlich wirkte, war nicht das Ressentiment der ›Sklaven‹ (Juden), sondern die Enttäuschung der ›Herren‹ (Römer), die mit der größten Machtanhäufung der Geschichte experimentiert und sie unfruchtbar gefunden hatten. Ohne diese Enttäuschung der Herren der Welt über die Früchte ihrer Macht wäre der christliche ›Sklavenaufstand‹ ergebnislos verpufft wie so viele andre; nicht einmal die Evangelien und Paulusbriefe wären auf uns gekommen. Die obskure Sekte wurde weltgeschichtlich infolge der Enttäuschung der Mächtigen, die an den Früchten der Macht verzweifelten. Sie hatten erprobt, daß große Macht keineswegs notwendig den Menschen bereichert, daß aber hierauf allein alles ankommt. Die Bereicherung des Menschen, die Veredelung und Rettung seiner ›Seele‹ erschien ihnen, gerade weil sie mächtig waren, aus ihren Erfahrungen von der Macht heraus, als das Wesentliche; deshalb (und nicht aus Ressentiment, nicht weil sie ›Sklaven‹ waren, sondern gerade umgekehrt, weil sie ›Herren‹, enttäuschte Herren waren) wurden sie Christen.

Nietzsche stellt die Dinge auf den Kopf und hat natürlich keine Erklärung dafür, wie dieser »Sklavenaufstand« gegen die größte Macht der Welt triumphieren konnte. Kann keine Erklärung hierfür haben anders als die eines Wunders. Um die paar orientalischen Wundertäter und die ihnen anhängende Plebs hätte sich der römische Staat auch sicher nicht viel gekümmert. Eine Gefahr wurde die Abkehr vom römischen Machtideal vom vergöttlichten Imperium und Imperator erst, als die Vornehmen, die Träger der römischen Staatsmacht, die Hohlheit des Idols erkannten. Erst dann wird es zu Verfolgungen gekommen sein. Und wie bald das geschah, bezeugt Tacitus, bezeugt die wahrscheinlich doch wahre Tradition vom Märtyrertod der Apostel Petrus und Paulus. (1.7.1921)

Caruso

Gutes Hotel und Zimmer. Viele Menschen. Unter andren der Tenor Caruso mit einer ungeheuer großen und starken amerikanischen Frau. Er sieht aus wie Napoleon auf St. Helena. Immer finster und nachdenklich. Starker durchgearbeiteter neapolitanischer Typus. (24.7.1921)

Charakteristik des verstorbenen Papstes

Eiskalt, klug, aber mit der nötigen Borniertheit begabt, ziemlich temperamentvoll und unter der Eiskruste des Weltmanns und Diplomaten sogar gütig. Ich sehe ihn noch als kleinen, weißen, hinkenden Landpfarrer hereinkommen, eine Spur Veitstanz im Gesicht, dann kurz und scharf sprechend, ein Männchen ohne jeden souveränen Glorienschein. Man bekam den Eindruck, daß er viel Ärger im Leben gehabt habe und daß etwas von diesem Ärger, wie Pulverdampf noch lange nach einer Schießerei, immer in seiner geistigen Atmosphäre mitschwebte. (22.1.1922)

Gaffer beim aufgebahrten Papst

Um so unsäglich roher und empörender diese gaffende Menschenmenge, die völlig teilnahmslos, lachend, Witze machend sich vorbeischob. Ich sah nicht ein ergriffenes Gesicht. (23.1.1922)

Charakterisierung (Wirth)

Ein typischer ›Boche‹; blond, fett, schlagflüssig, ein weichlicher Fleischkoloß ohne innere Haltung: launisch, formlos, Trinker, ja, sichtbar alkoholgetränkt (Gastwirtssohn). Hinter Nebeln von Selbstberäucherung und Wein hält er sich scheints für einen Olympier. (13.4.1922)

Das Schicksal der Welt hängt vom Geld ab:

Ganz realistisch (unsentimental, unpolitisch) betrachtet, sind nur zwei große Finanzoperationen oder Geldsummen nötig, um die Welt zu befriedigen und wieder auf die Beine zu stellen: vier Milliarden Goldmark = zweihundert Millionen Pfund für die Reparationen und eine halbe bis eine Milliarde Goldrubel = fünfzig bis einhundert Millionen Pfund, um Rußland wiederaufzubauen. Alles in allem rund zweihundertfünfzig bis dreihundert Millionen Pfund. Und über dieses Geld, das reichlich da ist, verfügen die kleinen und großen anonymen, unfaßbaren »investors« in England, Deutschland, Amerika, Frankreich, Neutralien. Die Summe ist kleiner, als was in einem Jahr für Militärbudgets ausgegeben wird. Aber es besteht kein Mittel (anscheinend), den kleinen oder großen Kapitalisten sie abzulocken. Ungeheure, unangreifbare Macht des Kapitals! Nochmals: Das Schicksal und die Zukunft der Welt liegen in der Hand von verantwortungslosen, anonymen, in allen Staaten verstreuten, nur nach der City und nach Wallstreet zu sich dichter konzentrierenden zahllosen einzelnen großen und kleinen Geldmachthabern. Dasselbe wiederholt sich natürlich bei allen Unternehmungen und Fortschritten (Geschichte der Erfindungen), nur erscheint es in diesem Falle bei dem kolossalen Ausmaß der Verhältnisse und Schicksalsfragen, die hier im Spiele sind, besonders deutlich und verhängnisvoll. (11.5.1922)

Über Toller und die Münchner Räterepublik

Abends Tollers ›Maschinenstürmer‹ im Großen Schauspielhaus. Talentloser Kitsch, der die Tendenz, die er vertritt, nur kompromittieren kann, ebenso wie die talentlose, kitschige Münchener Räterepublik den republikanischen Gedanken in Bayern kompromittiert hat. (6.7.1922)

Frauen auf Capri

Raffaele erzählt, daß seine Mutter (achtundfünfzig Jahre alt) nie Capri verlassen habe, noch keine Eisenbahn, keine Straßenbahn, keine Stadt, nicht einmal Sorrent kenne. Ebensowenig seien die meisten andren Frauen und Mädchen aus Capri herausgekommen. Ja, die Mütter der Marina Grande erlaubten ihren Töchtern kaum, nach Capri selbst hinaufzugehen. So sei es nun einmal Sitte bei den Fischerfamilien der Marina Grande. Im ganzen seien es dreihundert Fischer, einschließlich der Knaben; davon zweihundert Erwachsene. Die Familien bestehen meist aus zehn bis zwölf Personen; zahlreiche Kinder. (14.9.1922)

Charakteristik

Der Clou des Abends war aber die Frau von Wassilko, die ukrainische Gesandtin, eine kleine, magere Frau, die ganz aus knallrot gefärbtem Haar und Brillanten zu bestehen schien, dazwischen nur, wo das Gesicht sitzt, sehr viel Schminke und Emaille. Sie soll früher Wiener Chansonette und dann Mätresse des Schahs von Persien gewesen sein und ist jetzt Gesandtin der Ukraine in Berlin und Bern. An den Fingern waren die Brillanten so groß wie Taubeneier und von reinstem Wasser; vom Hals und bis zum Schoß hinunter hingen ihr Reihen von Brillanten, untermischt mit großen Perlensträngen. Ich dachte zuerst, sie trüge als Sowjetgesandtin den ganzen konfiszierten Schmuck des Ukraineadels. (28.11.1922)

Über Bückeburg und andere Residenzen

Nachmittags nach Bückeburg zurück, das mir immer unsympathischer und unheimlicher wird. Eine ranzige Kleinstadt-Atmosphäre dringt erschütternd auf einen ein, sobald man aus dem Bahnhof heraustritt: giftige Fäulnis-Bazillen einer toten Vergangenheit. Die ›Kleine Residenz‹ in ihrer korrumpiertesten Form. Ein übermäßig reiches Fürstengeschlecht und sonst nur dienende Kleinbürger vom pensionierten General bis zum Hofgärtner und Leibzahnarzt herunter.

(...)

Diese kleinen Residenzen haben gewiß viel Gutes getan für die allgemeine Bildung in Deutschland, sind kleine Kulturzentren gewesen: Bückeburg mit nur sechstausend Einwohnern hat noch heute ein gutes Theater und Orchester. Aber ich weiß nicht, ob nicht der Schaden, den sie angerichtet haben, indem sie mit der Kultur die allgemeine Servilität und Rückgratsverkrümmung in Deutschland auf das wirksamste gefördert und wie Pestzentren auf das platte Land und die Provinz verbreitet haben, noch viel größer gewesen ist. Sie haben die Kultur gefördert, aber den Menschen gebrochen. Die Jämmerlichkeit des deutschen Bürgertums ist zum großen Teil auf die intensive Förderung der Servilität durch die vielen deutschen Höfe zurückzuführen. Und dieser Einfluß dauert noch an in einer Stadt wie Bückeburg, wo das Fürstengeschlecht seinen Reichtum trotz der Revolution behalten hat.

Deutschland verdankt es seinen Fürsten, daß es das gebildetste, aber rückgratloseste Volk Europas ist. (26.11.1924)

Anekdoten über Anatole France und seine Freundin Mme. de Caillavet, u.a.:

France sei ein unscheinbarer, auffallend unsauberer alter Mann gewesen. Mme. de Caillavet habe bei Gelegenheit ganz laut gesagt: »Je sais qu'il va voir une maitresse aujourd'hui, car il s'est lavé les pieds ce matin.« (3.1.1925)

Studienbedingungen in Oxford:

Der Kontakt zwischen den Studenten und Lehrern ist hier viel enger als bei uns. Die unverheirateten Professoren wohnen im College, und abends versammelt sich um jeden in seinem Zimmer ein Kreis von jungen Leuten; ganz sokratische Methode. (24.2.1925)

Kritik der englischen Oberflächlichkeit

…Kein Zweifel: eine sympathische Atmosphäre, aber was zu denken gibt, daß die tiefen Gespräche nicht aufgelöst, sondern überkleistert, ja nur überzuckert werden. Für ein paar Ausnahmenaturen mag diese Zuckerkruste genügen, um darauf außerordentliche Leistungen, ein außerordentliches Leben aufzubauen; eine Brücke für die Menschheit kann sie aber nicht sein. Sie teilt das Schicksal der Oberflächlichkeit mit der englischen präraffaelitischen Kunst. (25.2.1925)

Reingelegte Arbeiter oder nicht?

Bournville besucht unter Führung der achtzehnjährigen, sehr niedlichen Tochter der Mrs. Cadbury. Riesenanlage, zehntausend Arbeiter, Mädchen und Männer, alle appetitlich weiß gekleidet. Trotzdem riecht es so nach Kakao, daß mir fast übel wurde. Ringsherum haben die Cadburys eine Musterstadt gebaut, lauter reizende Cottages, parkartige Gärten, Bäder, Speisehallen, eine ideal schöne und praktische Schule, ein reizendes, altes englisches Herrenhaus, das Stein für Stein hierher geschleppt und wiederaufgebaut worden ist. Die Arbeiter sind glücklich. Auch haben sie einen Arbeiterrat, der nach den neuesten Methoden funktioniert. Es ist die vollkommenste Ausdehnung der bourgeoisen, kapitalistischen Kultur mit allen ihren Segnungen und Annehmlichkeiten auf die Arbeiterschaft. Weiter läßt sich diese Methode materiell und geistig nicht treiben. Vor allem steckt dahinter bei den Cadburys zweifellos ein wirkliches Ideal, der allerbeste und gütigste christlichste Wille.

Und doch bleibt ein großes Fragezeichen; ob nicht doch letzten Endes die Arbeiter bestohlen und betrogen, das heißt ausgebeutet werden, indem sie trotz aller Freigebigkeit der Besitzer weniger bekommen, als ihnen nach ihrem Anteil am Gesamtergebnis zukommt; und noch mehr, ob dadurch das ganze System, das für den Profit und nicht für den wirklichen Bedarf arbeitet, irgendwie besser, rationeller und moralischer wird. Führt von dieser Methode der Weg irgendwie weiter oder nicht nur tiefer in eine irrationelle und unmoralische Wirtschaft hinein? Handelt es sich nicht bloß um eine Art von Inzucht des hochkapitalistischen Systems, die zum Absterben, nicht zur Mutation in neue Formen der Produktion führt?

Die kleine blonde Miß Cadbury als letzte Blüte und Rechtfertigung dieser ungeheuren Produktionsmaschine ist etwas dünn. Und ebenso sogar die schöne internationale Liebestätigkeit der Mrs. Cadbury, die schließlich nur einer gütigen Laune der Herrin im Hause entspringt. (26.2.1925)

Über die englische Landschaft

Auf der Reise von Manchester nach Huddersfield machte auf mich die kalte, harte, baumlose Hügellandschaft, die einem scharfgeschnittenen, erbarmungslosen Gesicht gleicht, einen starken Eindruck. Sie ist die Geburtsstätte der englischen Industrie, des englischen weltumspannenden Industrie-Kapitalismus und auch des englischen politischen Radikalismus. Sie hat antike Größe, grau und trüb, eine Seele wie aus Kohlenstaub, und doch eine harte, unbezähmbare Energie wie die, die man in der römischen Campagna fühlt. Hier ist endlich England, das überall sonst nur Masken trägt. Selten hat mich eine Landschaft in so kurzer Zeit so durchdrungen und erschüttert. Wie wenn ein Schleier gelüftet wird von einem Geheimnis, das man immer geahnt, aber nie sich selber klar formuliert hat. (28.2.1925)

Gleichgültigkeit der Massen im Friedensprozess

Alles in allem, nachdem ich jetzt in mehreren großen Städten gesprochen habe, ist mein stärkster Eindruck der der Gleichgültigkeit der großen Masse des Publikums hier gegen die Frage des Völkerbunds, des ›Protokolls‹, der Sicherheit usw. Die Veranstalter versuchten die Gleichgültigkeit vor mir zu verschleiern, aber sie besteht und ist mindestens ebenso groß wie in Deutschland. Die große Masse interessiert sich in England ebensowenig wie in Deutschland oder in Frankreich für den Frieden; man ist und bleibt ein Prediger in der Wüste trotz einzelner rührend eifriger Vorkämpfer wie Hudson (der offenbar der Führer und Erwecker aller dieser einzelnen in der Provinz ist) und Morell, der ihr Prophet gewesen ist. Die meisten besitzen zu wenig Phantasie und zu wenig Ernst, um sich für die Sache zu interessieren. Wenn unter diesen Umständen aus der Sache etwas wird, wird sie das Werk einzelner sein, einzelner Märtyrer, Vorkämpfer, Diplomaten, Staatsmänner, nicht des Volkes der verschiedenen europäischen Länder. Andernfalls wird die Hammelherde genauso ahnungslos und wehrlos zur Schlachtbank im künftigen Kriege eilen wie 1914. In dieser grundlegenden Frage der europäischen Zukunft ist das ›Volk‹ überall willenlos. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, bekommen auch die kleinen und sonst so elend und geistig arm erscheinenden pazifistischen Vereinigungen (Liga für Menschenrechte, Friedensgesellschaften, Quäker usw.) ein andres Aussehen und eine andre Bedeutung, und auch die einzelnen Vorkämpfer des Pazifismus wie Hudson, Morell, Quidde, Gerlach oder Frauen wie Mme. Jouve, Jane Adams, Katherine Marshall, Wilma usw. Ohne sie wäre überhaupt nichts da, und bei der allgemeinen Gleichgültigkeit ist der Widerstand auch relativ schwach, so daß geringe Kräfte mehr erreichen können, als man zu erwarten eigentlich berechtigt wäre. (2.3.1925)

Über das dreizehnte Jahrhundert

Vormittags ins Münster. Wieder erschüttert von seiner Kühnheit, Grazie und Größe. Dieses dreizehnte Jahrhundert, das uns überall die gewaltigsten Bauten, die farbenprächtigsten Kunstwerke, eine Fülle von Dichtungen ersten Ranges, Heilige wie Franz von Assisi und der heilige Dominicus und Herrschergestalten wie Friedrich von Hohenstaufen, Ludwig den Heiligen, Innozenz III. und zur Krönung von allen noch Dante geschenkt hat, ist vielleicht das reichste und geschlossenste Jahrhundert der europäischen Geschichte gewesen, das Jahrhundert, das Europa eigentlich geschaffen und die weiße Rasse über alle andren Rassen erhöht hat. (4.3.1925)

Amerikanisches Händedrücken

Vormittags bei Mrs. Snowden im Hotel Victoria, wo sie jetzt wohnen. (…) Sie ist eben von einer Vortragsreise in Amerika zurückgekehrt, wo es ihr ähnlich gegangen ist wie mir; man hat sie vor lauter Freundlichkeit fast umgebracht. Sie erzählte unter andrem, bei einem Vortrag vor zweitausend Menschen, nachdem sie vorher siebzehn Nächte auf der Eisenbahn verbracht hatte, hätten alle zweitausend ihr die Hand drücken wollen. Beim tausendsten oder zwölfhundertsten sei sie ohnmächtig geworden. Man habe sie hinausgetragen, mit Wasser oder Eau de Cologne besprengt, zu sich gebracht und dann wieder in den Vortragssaal zurückgeführt und gezwungen, trotz ihrer Empörung noch den übrigen achthundert die Hand zu geben. (20.3.1925)

Wahl Hindenburgs als Katastrophe für Deutschland

Hindenburg ist gewählt. Was folgen wird, dürfte eins der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte sein. (26.4.1925)

Mit der gestrigen Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten beginnt ein neuer Abschnitt der deutschen und europäischen Politik und Geschichte, der dem deutschen Volke zweifellos schwere Schläge und Demütigungen bringen wird. (27.4.1925)

Reichstagsschmuck beim Eid Hindenburgs:

Der Saal war ziemlich sparsam ausgeschmückt. (…) Der frühere Staatssekretär Lewald sagte zu mir: »Ein Saalschmuck wie bei der Einführung eines neuen Bürgermeisters in Kyritz an der Knatter!« (12.5.1925)

Über die Zeit mit Hindenburg

Alle Philister freuen sich über Hindenburg; er ist der Gott aller derer, die sich ins Philistertum zurücksehnen und die schöne Zeit, wo man nur zu verdienen und zu verdauen brauchte mit einem nach oben gerichteten Augenaufschlag. Hindenburg soll die Verhältnisse ›konsolidieren‹, das heißt wieder auf den Philister zuschneiden. Adieu Fortschritt, adieu Vision einer neuen Welt, die das Lösegeld der Menschheit für den verbrecherischen Krieg sein sollte; endlich wird man wieder als dicker Hammel oder gemästete Gans bequem leben können, bis der Schlächter kommt und den Blutlohn fordert. Der widerwärtige Eindruck, den die Verbrüderung von ›Gartenlauben‹-Militarismus mit engstirnigem Generalstäblertum bei Frau Förster-Nietzsche heute nachmittag machte, dauert fort. (15.5.1925)

Schicksal eine jungen Tänzers des Russischen Balletts

[Diaghilew hat] die grausige Geschichte von seinem spanischen Tänzer erzählt. Einmal habe er einen neuen Nijinski entdeckt, einen jungen Spanier, García. Schon als er ihn in Barcelona aufsuchte, habe die alte Frau, bei der er wohnte, ihn ›el loco‹ (den Verrückten) genannt. Er habe aber darauf nicht achtgegeben und ihn nach London mitgenommen (im Kriege, 1916). Eines Tages sei García ausgegangen, und als er vor der Sankt-Martins-Kirche am Trafalgar Square eine rote Laterne brennen sah, habe er eine alte Bettlerin gefragt, die vor der Kirchentür saß, ob dies ein Bordell sei? Dann habe er ihr sein ganzes Geld geschenkt und gesagt: Es sei doch spaßig, daß selbst der liebe Gott in London im Bordell wohne. Darauf habe er versucht, in das ›Bordell‹ einzudringen, und schließlich die Tür aufgebrochen. Als er abends nicht zur Vorstellung kam, habe Diaghilew ihn gesucht und die Polizei benachrichtigt, weil er ein Unglück vermutete. Spät nachts hat ihn dann die Polizei in der Kirche, nackt vor dem Altar hangend, gefunden; vollkommen wahnsinnig. Im Irrenhaus, in das er geschafft wurde, soll er inzwischen gestorben sein. (28.12.1925)

Charakteristik (Paulinchen Strauß)

Ein ziemlich groteskes Weib; maßlos ordinär mit einem sentimentalen Herzen. Alles in allem eine Köchin. (19.1.1926)

Stolz

Die Bibliothek, das Eßzimmer und mein Arbeitszimmer schienen wieder auf alle einen starken Eindruck zu machen. Sie sahen mit den schönen Frauen auch wirklich festlich und geistig aus. (8.2.1926)

Über Josephine Baker

Um eins, nachdem gerade meine Gäste gegangen waren, rief Max Reinhardt an, er sei bei Vollmoeller, sie bäten mich beide, ob ich nicht noch hinkommen könne? Miß Baker sei da, und nun sollten noch fabelhafte Dinge gemacht werden. Ich fuhr also zu Vollmoeller in seinen Harem am Pariser Platz und fand dort außer Reinhardt und Huldschinsky zwischen einem halben Dutzend nackter Mädchen auch Miß Baker, ebenfalls bis auf einen rosa Mullschurz völlig nackt, und die kleine Landshoff (eine Nichte von Sammy Fischer) als Junge im Smoking. Die Baker tanzte mit äußerster Groteskkunst und Stilreinheit, wie eine ägyptische oder archaische Figur, die Akrobatik treibt, ohne je aus ihrem Stil herauszufallen. So müssen die Tänzerinnen Salomos und Tut-ench-Amuns getanzt haben. Sie tut das stundenlang scheinbar ohne Ermüdung, immer neue Figuren erfindend wie im Spiel, wie ein glückliches Kind. Sie wird dabei nicht einmal warm, sondern behält eine frische, kühle, trockene Haut. Ein bezauberndes Wesen, aber fast ganz unerotisch. Man denkt bei ihr an Erotik ebensowenig wie bei einem schönen Raubtier. Die nackten Mädchen lagen oder tänzelten zwischen den vier oder fünf Herren im Smoking herum, und die kleine Landshoff, die wirklich wie ein bildschöner Junge aussieht, tanzte mit der Baker moderne Jazztänze zum Grammophon.

Vollmoeller wollte für die Baker ein Ballett schreiben, das er noch in dieser Nacht fertigzumachen und Reinhardt zu geben vorhatte. Eine Kokottengeschichte. Zwischen Reinhardt, Vollmoeller und mir, die darum herum standen, lagen die Baker und die Landshoff wie ein junges, bildschönes Liebespaar umschlungen. Ich sagte: ich würde für sie eine Pantomime nach den Motiven des Hohen Liedes Salomonis schreiben, die Baker als Sulamith, die Landshoff als Salomo oder als der junge Liebhaber der Sulamith. Die Baker im Kostüm (oder Nicht-Kostüm) orientalisch antik, Salomo im Smoking, eine ganz willkürliche modern-antike Phantasie nach halb Jazz-, halb orientalischer Musik, vielleicht von Richard Strauß.

Reinhardt war von der Idee begeistert, ebenso Vollmoeller. Wir verabredeten, daß sie beide und die kleine Landshoff am Vierundzwanzigsten bei mir essen sollten. Vollmoeller bat, noch Harden einzuladen. Nachher die Baker. Wir wollen dann das Weitere besprechen. Nach vier nach Hause. (13.2.1926)

Über Einstein

Einstein majestätisch trotz seiner übergroßen Bescheidenheit und Schnürstiefeln zum Smoking. Er ist etwas fetter geworden, die Augen aber immer noch fast kindlich strahlend und schalkhaft. Seine Frau erzählte mir, ihr Mann habe neulich nach vielen Mahnungen endlich die beiden goldenen Medaillen, die ihm von der englischen Royal Society und Royal Astronomical Society verliehen worden sind, im Amt abgeholt, und nachher hätte sie sich mit ihm in einem Kino getroffen. Als sie ihn fragte, wie die Medaillen aussähen, habe er geantwortet, er habe das Paket noch gar nicht geöffnet. Er hat kein Interesse für solche Kinkerlitzchen. Sie gab mir davon noch andre Beispiele. Als die amerikanische Barnard-Medaille, die nur alle vier Jahre an einen hervorragenden Naturforscher verliehen wird, in diesem Jahre Niels Bohr verliehen wurde, stand in den Zeitungen, das letzte Mal habe sie Albert Einstein bekommen. Einstein zeigte ihr eine Zeitung und fragte: Ist das denn wahr? Er hatte es vollkommen vergessen. Er ist nicht dazu zu bringen, den Pour le mérite umzuhängen. Bei einer der letzten Akademiesitzungen machte ihn Nernst darauf aufmerksam, daß er seinen Pour le mérite nicht umhabe, ›die Frau hat es wohl vergessen, ihn Ihnen umzuhängen; Toilettenfehler‹. Aber Einstein antwortete: »Nicht vergessen, nein, nicht vergessen. Ich habe ihn nicht anlegen wollen.« (15.2.1926)

Nochmal zu Josephine Baker

Abends wieder in die Negerrevue bei Nelson (Josephine Baker). Sie sind ein Mittelprodukt zwischen Urwald und Wolkenkratzer; ebenso ihre Musik, der Jazz, in Färbung und Rhythmus. Ultramodern und ultraprimitiv. Die Weite der Spannung erzeugt den zwingenden Stil; ebenso wie bei den Russen. Wir kommen im Vergleich dazu aus der wohlumhegten ›guten Stube‹; ohne innere Spannung und daher ohne Stil: eine schlappe Bogensaite. (17.2.1926)

Schöner Text über Elsa Brandström

Elsa Brandström, die während des Krieges und nachher unseren Kriegsgefangenen in Rußland und Sibirien eine Vorsehung gewesen ist. Äußerlich ein auffallend hübsches, vornehmes, schlankes, blondes Mädchen, eine nordische Jeanne d'Arc. Ganz unkompliziert, aber stark. Ein erschütterndes Beispiel dafür, was ein einfacher Mensch mit gutem Willen, Mut und Takt erreichen kann. Für Hunderttausende ist sie jahrelang der einzige Mensch gewesen. Eine wahre Heldin. Sie machte auf mich denselben tief erregenden Eindruck wie Nansen. Die schönen, klaren blauen Augen, die etwas schwere, willensstarke Nase, das schmale, vornehme Gesicht, die Einfachheit des Tones, als ob alles selbstverständlich wäre. Fünfeinhalb Jahre war sie in Sibirien, zwei Jahre vollkommen abgeschnitten von ihrer Familie und jeder Nachricht, am Flecktyphus schwer erkrankt und doch gleich wieder weiterarbeitend, zweimal als Spionin zum Tode verurteilt, und doch noch so einfach, so voller Güte wie am ersten Tage und so schön wie eine Ballkomtesse. Solche Menschen, wo Kraft zur Güte wird und doch noch Kraft bleibt, sind die wahren Übermenschen. Nicht, daß sie Tausenden das Leben gerettet hat, sondern daß sie ihnen den Glauben an die Menschheit gerettet hat, ist das tief Bewegende an ihr.

Sie erzählte: einmal habe sie die Nachricht erhalten, ihr Vater sei todkrank; sie hätte zurückgekonnt, aber sie blieb, denn ihr Vater hätte alles, was nur möglich sei an Hilfe, aber draußen um sie herum verlören Tausende ihre letzte Hoffnung, wenn sie fortginge. Und ihr Vater wurde gerettet wie durch ein Wunder. Als sie zurückkam nach Jahren, habe er ihr gesagt, er hätte sie verachtet, wenn sie zurückgekommen wäre. Sie sagte mir, ihre früheren deutschen Kriegsgefangenen aus Sibirien seien heute noch wie eine Familie. Sie hätten von den Russen das Beste gelernt: die Anerkennung des Gegners, die tiefe, warme Menschlichkeit, die unterschiedslose Kameradschaft. Die Bolschewiki seien besser gewesen als die kaiserlichen Beamten. Über die Schlampigkeit des kaiserlichen Regimes erzählte sie Entsetzliches. 1915 hätten sie einen Zug mit gefangenen Türken in Moskau auf ein Nebengeleise geschoben, wo die Gefangenen in plombierten Waggons erfroren seien; als man die Waggons öffnete, habe man die Leichen mit Hacken aus dem Eise heraushauen müssen. So sei es auch in Pensa und andren Orten gegangen. Nicht aus Bosheit, sondern aus Schlampigkeit: Nitschewo. Vieles andre noch. Alles mit erschütternder Einfachheit und Selbstverständlichkeit erzählt, während sie eine Tasse Tee trank und einen kleinen Kuchen mit der Gabel zerkleinerte oder mit der Perlenkette spielte, die sie am Halse trägt. Sie unterhält noch ein Kinderheim in Sachsen für Kinder von Kriegsgefangenen, denen sie auf ihrem Totenbett versprochen hat, für ihre Kinder zu sorgen. Ich hatte den Eindruck: ein einfacher, aber ganz großer, hinreißender Mensch, eine weltliche Heilige, vor der man knien möchte. (22.2.1926)

Eindruck von Barcelona

Überraschender Eindruck der ganz modernen Stadt, die nichts südlich Verschlafenes oder Opernhaftes an sich hat. Lauter fleißige, hastende Menschen in großen, breiten, modernen Straßen und Alleen, die von Platanen beschattet werden. Man gewinnt den Eindruck: halb Paris, halb Buenos Aires! Eine ganz andre, weit modernere und echtere Atmosphäre als in Italien. (17.4.1926)

Negativer Einfluss vom Kino

Abends mit Max in die Tingeltangel am Parallelo, um spanische Tänze zu sehen. Leider hat das Kino viel verdorben. Die Arbeiter wollen nicht mehr die Vollendung des Volkstanzes sehen, sondern die halbnackten Gesellschaftsdamen und Kokotten, die sie im Film gewohnt sind. Daher drittklassige provinziale ›Pariser‹ Tänzerinnen statt der rassigen, einzigen spanischen Tänze, die man früher in den Tanzlokalen des Parallelo sah. (17.4.1926)

Kritik an Stierkämpfen

Stiergefecht. Widerwärtiger, ertötender Eindruck trotz des bunten, wild lebendigen, grandiosen Bildes. Empörend und ekelhaft die Abschlachtung der altersschwachen, hilflosen alten Pferde, denen die Gedärme aus dem Leib gerissen werden und die mit blutigen, aus dem Bauch herausquellenden Fetzen noch sporniert werden. Auch der Stier, der als schöner, junger, rassiger hereinkommt und nach einer halben Stunde als totes Fleischstück hinausgeschleppt wird, erregt bei mir nur Ärger und Mitleid. Dafür, daß immer wieder der Tod hilfloser Tiere, denen keine Chance gegeben wird, zur Sonntagsbelustigung einer rohen Menge herhalten muß, entschädigt auch der bunteste, flimmerndste Anblick nicht. Ich wurde immer müder und abgespannter. Schließlich war ich wie mit einem Beil vor den Kopf geschlagen, innerlich ganz apathisch und bis zum Rande mit Ekel gefüllt. Der ganze Abend war wie das Erwachen von einem schweren, betäubenden Rausch. (18.4.1926)

Vergleich Habsburger - Hohenzollern

Überhaupt haben die letzten Habsburger verstanden, in Schönheit zu sterben: Maximilian von Mexiko, die Kaiserin Elisabeth, der Erzherzog Rudolf, hier der Erzherzog Ludwig Salvator, sogar das bescheidene Grab des letzten Kaisers in der kleinen Dorfkirche auf Madeira nötigen zu einem ästhetischen Respekt, während die letzten Hohenzollern jeder Ästhetik, ja jeder menschlichen Achtung mit ihrer Roheit, Feigheit, Wüstheit und Geschmacklosigkeit geradezu ins Gesicht schlagen; die letzten Habsburger enden wie Gentlemen, die letzten Hohenzollern wie Rollkutscher. (26.4.1926)

Spontane Tänze (Sardañas ) in Barcelona

Abends kam Pahissa wieder zu Tisch und führte uns, Sardañas sehen, eines der überraschendsten, unwahrscheinlichsten Schauspiele. Mitten in der ganz modernen Großstadt, auf dem Bürgersteig irgendwo vor einem Cafe, fängt das Publikum an zu tanzen, Arbeiter, Kleinbürger, Kinder, Soldaten, Matrosen, einen Tanz von größter Anmut und Leichtigkeit. Das Orchester, vier Blechinstrumente, vier Holzbläser, ein Kontrabaß und ein ›Flaviol‹ (Flageolett), das einen ganz merkwürdigen, schrillen Klang hat, sitzt auf einem erhöhten Podium im Freien, setzt mit einem kurzen Vorspiel ein, und dann gerät allmählich der ganze Platz, die ganze Menge in Bewegung, aus dem grauen Alltag entwickelt sich Grazie, Rhythmus, Schönheit, aber scheinbar so selbstverständlich, daß gar kein Kontrast entsteht: nur als ob der graue Alltag einen Augenblick verzaubert wäre, Poesie würde. Das Groteske, Unnatürliche, Gemachte unserer sogenannten ›Tanzvergnügungen‹, ›Bälle‹, ›Fünf-Uhr-Tees‹ kommt einem schaudernd in Erinnerung. Hier wirken Tanz, Schönheit, Grazie wie in der Antike als Fortsetzung und Teil des Lebens. Man glaubt, keine ungraziöse Gestalt, keinen häßlichen Menschen mehr entdecken zu können; alle scheinen plötzlich anmutig. Auch ist keine Roheit, keine Sentimentalität oder grobe Lüsternheit zu sehen; wie ein Volk von graziösen, leichten Kindern schwingt sich die Menge in Reigen an Reigen. Es sind uralte Tänze; aber sie haben sich, wie Pahissa sagt, erst seit zwanzig Jahren wieder über ganz Katalonien verbreitet, von Ampurias aus (der alten griechischen Kolonie in der Nähe von Banyuls) als Bekräftigung und Symbol der katalanischen Nationalität. Die Politik hat der Bewegung die Stoßkraft gegeben, der Protest gegen Spanien (auch Pahissa gab dies zu). Ich sagte ihm, es sei die einzige geistvolle Form des Nationalismus, die mir bisher begegnet sei. (1.5.1926)

Noch einmal über Stierkämpfe, Nationalcharaktere

(…); aber die feige und rohe Art, wie die Pferde dem Stier preisgegeben werden, bleibt ekelhaft und empörend. Alles in allem ein Schauspiel von erstaunlicher Roheit, erstaunlich namentlich, weil dieselben Menschen, die diese widerliche Tierquälerei sich zum Schauspiel machen, die graziösen, leichtbeschwingten Tänzer des Sardañas sind. Roheit und Anmut, Grausamkeit und Schönheit wohnen hier dicht beieinander wie bei den Griechen.

Überhaupt scheint mir die Struktur der spanischen Seele mehr Ähnlichkeit mit der der griechischen zu haben als die irgendeines andren europäischen Volkes, vielleicht weil sie durch ähnliche geographische und historische Bedingungen geformt worden ist. Beide, Griechen und Spanier, sind in den entscheidenden Jahrhunderten ihrer Volkwerdung Grenzvölker, Grenzvölker gegen einen kulturell weit vorgeschritteneren, ihre Existenz bedrohenden Orient gewesen; beides waren sozusagen Schützengraben-Völker, für die eine fast fanatische Bejahung ihrer eigenen, roheren Kultur, eine rücksichtslose Grausamkeit in der Selbstbehauptung primäre Existenzbedingungen waren. Dazu kam bei beiden eine mystische und tragische Religiosität, die von Sinnlichkeit und Blut getränkt war, und im Gegensatz hierzu eine natürliche Heiterkeit und Anmut des Temperaments, das Bedürfnis, die Sinnlichkeit zu sublimieren, sie ins Zarte, Anmutige, Spielerische emporzuführen, aber ohne jemals die Verbindung zwischen diesen heiteren Blüten der Sinnlichkeit und ihren mystischen und tragischen Wurzeln und dem blutigen Mythus zu durchschneiden. Griechen und Spanier sind so Menschen geworden, in denen mehrere Seelen nebeneinander wohnen, von denen bald die eine und bald die andre die Oberhand gewinnt, jede aber immer auch im Augenblick ihres höchsten Triumphes durch Reflexe von den andren erhellt oder verdüstert wird. Nietzsche hätte bei den Spaniern bessere Beispiele zur Erklärung des Griechentums gefunden als bei den Italienern der Renaissance, die viel unkomplizierter, einseitiger, sagen wir das Wort, flacher waren als Spanier oder Griechen. (2.5.1926)

Wann werden Romane geschrieben, gesellschaftliche Grundlagen

Hofmannsthal frühstückte bei mir allein, wie er es gewünscht hatte. Gespräch über die Möglichkeit eines deutschen Romans, die er bezweifelt, weil als Untergrund einer Romanliteratur eine ›Gesellschaft‹ und eine wirkliche Hauptstadt nötig sei wie Paris oder London und die Pariser und Londoner ›Gesellschaft‹. Ich verwies auf die russischen Erzähler der Nachkriegszeit, die jetzige junge Generation, Iwanow, Lebedinski, Babel usw. Hofmannsthal kannte sie nicht, fragte: wo sie die Spannungen und Gegensätze hernähmen, die als Antrieb einer epischen Handlung unentbehrlich seien, da das Motiv des Geldes und im gewissen Sinne auch das der Liebe fortgefallen seien? Er wird schon recht haben, daß er jedenfalls aus der jetzigen Zeit keinen Roman herausdestillieren kann. (23.5.1926)

Seltsame Sitten…

Von dem kleinen Ort Sitges bei Barcelona erzählte Sert: er habe einen starken heidnischen Einschlag. So käme es vor, daß kleine Jungen mit zwölf bis vierzehn Jahren aus Sitges als Matrosen fortführen, nach zehn Jahren wiederkämen, sich in ihre Schwester, die sie fast vergessen hatten, verliebten, mit ihr ein Verhältnis anfingen und Kinder bekämen und, obwohl kirchlich natürlich nicht verheiratet, bis an ihr Lebensende, von der Bevölkerung geachtet, mit ihr wie Mann und Frau zusammenlebten. (15.6.1926)

Wunderschöne Charakteristik von A. Bronnen

Einen sonderbaren Eindruck machte auf mich Bronnen, den ich erst heute kennenlernte: unverbindlich, unsicher, süffisant, übel aus dem Munde riechend, im Straßenanzug (wo alle andren selbstverständlich im Frack erschienen waren), aber mit eingeklemmtem Monokel; als Salon-Revolutionär halb Knote, halb Konfektion, soweit er den Mund auftat, auf gut Glück Unsinn redend, so mir die jüngste russische dramatische Literatur anpreisend, die uns viel näherstehe als die französische, und als ich sagte, ich kennte zwar junge russische Dichter und Novellisten, aber keine Dramatiker, ganz naiv antwortend: er kenne auch keine! Eine offenbar subalterne, schwache, nervöse Natur, die Überlegenheit markieren möchte, so etwas wie ein literarischer Sommerleutnant, der mit der Stimme schnarrt, weil er sonst seine Rolle nicht durchführen könnte, ein pervertierter Spießer, flach, ohne Horizont, krankhaft eitel, kurz ›un grand homme de province‹, hinter dem nicht viel steckt. Er sprach mit niemanden, oder höchstens eine unhöfliche, rauhbeinige Antwort auf eine höfliche Anrede (so sagte er zu Wegener, der ihn ansprach: »Wissen Sie, Herr Wegener, ich mag Sie nicht, und Sie mögen mich auch nicht«), streifte mit eingeklemmtem Monokel unstet und schweigend in den schönen, hellen, rosengeschmückten Salons herum wie irgendein Nachtvogel, der aus Versehen hineingeraten wäre, verflatterte, nachdem er ein paar Leute, die sich freundlich seiner annehmen wollten, durch rüpelhafte Antworten von sich gestoßen hatte, vollkommen und wurde nicht mehr beachtet. (16.6.1926)

[Einige Monate im Sommer 1926 schwer krank]

Bedeutung der kleinen Höfe für die deutsche Kultur

Das Gespräch mit Hauptmann wendete sich, anknüpfend an den Meininger, den kleinen Höfen und ihrer Bedeutung für die deutsche Kultur zu. Ich führte aus, daß mir diese mindestens zweifelhaft geworden sei. Der Knick in der deutschen Literatur um 1780, die von der bürgerlichen und sozialen Einstellung Lessings, der »Räuber«, des »Clavigo« fortgeführt und zum »historischen« Drama Schillers und zur »klassischen« Epoche Goethes hingeführt habe, sei doch zum großen Teil durch die unumgängliche Rücksicht auf die Gefühle und Gesinnungen des Weimarer Hofes verursacht worden und habe uns um die bürgerliche und politische Dichtung betrogen, auf die wir nach solchen Anfängen Anspruch hatten; dafür seien die historischen Dramen Schillers oder der »Wilhelm Meister« kein voller Ersatz. Hauptmann, dem dieser Gedankengang neu schien, stimmte zu und fügte hinzu, deshalb hätten wir keinen deutschen Roman. (2.6.1927)

Nackte Knaben…

Vormittags besuchte mich Marcus Behmer, um den ›Petron‹, den ich von ihm illustrieren lassen will, zu besprechen. Erste Besprechung, nach einem ziemlich eingehenden Briefwechsel darüber. Da er mir schrieb, daß er wieder viele Akte in der freien Natur sehen müsse, um Figuren gut zeichnen zu können, riet ich ihm, nach Phaleron bei Athen zu gehen, wo Tausende von Knaben den ganzen Tag nackt am Strand herumlaufen. Er schien von der Idee begeistert, bemerkte jedoch: »Aber wie mache ich es mit den weiblichen Akten, die man im ›Petron‹ doch auch nicht ganz vermeiden kann. Ich kann keine weiblichen Akte zeichnen; sie sagen mir nichts.« Nebenbei bemerkte er auch, daß ihm Plastik nichts sage. Er muß vor dem ›Petron‹ für Kippenberg ein ›Rumpelstilzchen‹ und den ›Vathek‹ machen, so daß wir übereinkamen, daß er erst im nächsten Mai nach Phaleron gehen und die Vorarbeiten zum ›Petron‹ aufnehmen soll. Er ist äußerlich ein ungeheuer dicker, weichlich aufgedunsener Kerl mit einem femininen Schimmer. (19.6.1927)

Lektüre von Meyers „Jürg Jenatsch“

Im Dom stieß ich auf das Grab oder richtiger die Grabplatte von Jürg Jenatsch, die jetzt an der Wand aufgestellt ist: Georgius Jenacius, eine Inschrift und ein grobes, in Stein gehauenes Wappen. Das veranlaßte mich, Conrad Ferdinand Meyers ›Jürg Jenatsch‹ in einer Buchhandlung zu kaufen und zu lesen.

Zu meiner Überraschung entdeckte ich ein ganz großes Buch. Vielleicht kann es erst unsere Zeit, können erst wir, die wir Weltkrieg und Revolution erlebt haben, seine ganze Tiefe und Wahrheit erkennen. Jeder Nationalist und Fememörder müßte gezwungen werden, es zu lesen, damit er sein eigenes Antlitz im Spiegel sehe. Mit leidenschaftlicher Glut hat Conrad Ferdinand Meyer hier für alle Ewigkeit avant la lettre, aber erschreckend wahr das Gesicht des ›nichts als Nationalisten‹ in Erz geätzt.

Jürg Jenatsch ist ein Ungeheuer, aber ein Monstrum, das seiner Zeit weit voraus ist, dessen Nachkommenschaft im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert die Welt beherrschen sollte. Der Gegensatz Jenatsch (fanatischer Nationalist) und Rohan (Ehren- und Friedensmensch) ist der, der heute, und gerade heute, den Weltlauf formt. Es ist geradezu unheimlich, wie Meyer in diesen beiden Figuren alles zusammengefaßt und gestaltet hat, was uns heute bewegt und tief aufwühlt. Hätte er nichts andres geschrieben, er würde einen Platz für sich einnehmen als einziger großer politischer Dichter deutscher Sprache. In der Figur von Jenatsch, ihrer gigantischen Unbedenklichkeit, ihrem verbrecherischen guten Gewissen, ihrem fanatischen Machtwillen, ist der Typ vorweggenommen und vollkommen rund und tief hingestellt, der den Weltkrieg geboren hat; nur daß die eigentlichen Akteure des Weltkriegs viel kleiner, spießiger, talentloser waren, degenerierte Exemplare dieser Drachenbrut.

Bei Rohan scheint Meyer von ferne an Napoleon III. gedacht zu haben, bei Jenatsch vielleicht ein wenig an Bismarck. Aber ist dieser Typ des ›nichts als Patrioten‹ wirklich hier in Graubünden geboren worden, haben wirklich die grauen Felskolosse dieser Berge diesen Drachen auf die Welt losgelassen? Um das zu beantworten, müßte man Geschichte und Charakter des wirklichen Jürg Jenatsch kennen. War schon er wirklich, wie Meyer ihn schildert, der Mann mit dem robusten Gewissen zu jedem Verrat und jedem Verbrechen im Interesse nicht seines Königs, nicht seiner Religion, nicht seiner eigenen Person, sondern im Interesse seines Vaterlandes und seines Volkes? Ein Geschöpf der kalvinistischen Demokratie. (15.7.1927)

Nietzsche-Vortrag Oswald Spenglers, Charakterisierung

Beginn der Nietzsche-Tagung nachmittags in der ›Erholung› mit dem Vortrag von Spengler über ›Nietzsche und das zwanzigste Jahrhundert‹. Der Saal war überfüllt, so daß mir erst ein Stuhl hineingetragen werden mußte. Viele standen. Dafür wurde Spenglers Vortrag zu einem Debakel. Ein dicker Pfaffe mit einem fetten Kinn und brutalem Mund (ich sah Spengler zum ersten Mal) trug eine Stunde lang das abgedroschenste, trivialste Zeug vor. Ein junger Arbeiter in einem Arbeiterbildungsverein, der sich bemüht hätte, seine Kollegen mit Nietzsches Weltanschauung bekannt zu machen, hätte es besser gemacht. Nicht ein eigener Gedanke. Nicht einmal falsche Diamanten. Alles einförmig seicht, glanzlos, platt, langweilig. (…) Für das Nietzsche-Archiv ist es eine bedauerliche Blamage, diesen halbgebildeten Scharlatan haben sprechen zu lassen. Der Vortrag war so seicht, daß selbst Frau Förster an ihrem Spengler Zweifel bekommen haben muß. Vielleicht ist er der erste Nietzsche-Pfaffe. Aber Gott bewahre uns vor dieser Spezies. (15.10.1927)

Frau Förster-Nietzsche erzählt über Paraguay

Sie erzählte viel aus ihrer Zeit in Paraguay und von den Greueln der Herrschaft des Diktators Lopez; Geschichten, die wie von Hudson oder Cunningham Grahame klangen: Erschießungen ganzer Kompanien, die Schätze auf Befehl des Diktators vergraben hatten, damit niemand am Leben sei, der den Ort verraten könnte, eine englische Geliebte des Lopez, die später zurückkehrt, um einen Schatz zu heben, erkannt wird und als Küchenjunge verkleidet fliehen muß, eine Gesellschaft englischer Abenteurer, die sich die Erlaubnis erwirken, im Urwald nach Kautschuk zu suchen, die spurlos verschwinden und von denen es heißt, sie hätten nach den Schätzen des Lopez gesucht und seien mit einer eisernen Truhe voll Gold, die sie aus einem Urwaldsumpf gehoben hätten, abgezogen. (22.10.1927)

Vernichtendes Urteil über Prag

Mit Max Prag besichtigt. Hradschin, Dom, Alchimisten-Gäßlein, Judenfriedhof, alte Synagoge. Das einzige, was haften bleibt, ist der Blick von der Karlsbrücke auf den Hradschin. Die Stadt ist ganz proletarisiert. Alles, auch die Schaufenster, auf den unteren Mittelstand eingestellt. Die Bevölkerung auffallend häßlich; lauter vermickerte Gesichter, die Weiber mit dicken, unförmigen Beinen. Ich sah kein hübsches Gesicht; ganz im Gegensatz zu dem, was man in Wien sieht. (17.6.1928)

Über Berthold Brecht

Brecht kennengelernt. Auffallender Dekadentenkopf, fast schon Verbrecherphysiognomie, sehr dunkel, schwarzes Haar, schwarze Augen, dunkle Haut, ein eigenartig lauernder Gesichtsausdruck: fast der typische Ganove. Aber wenn man mit ihm spricht, taut er auf, wird fast naiv. Ich erzählte ihm, wie es schien, zu seinem größten Vergnügen, d'Annunzio-Anekdoten. Er ist jedenfalls ›ein Kopf‹, wenigstens äußerlich, und nicht unsympathisch (wie Bronnen). (30.10.1928)

Noch einmal Kritik an Kaiser Wilhelm

Die von Ponsonby herausgegebenen Briefe der Kaiserin Friedrich an ihre Mutter gelesen. Trotz allem, was man vom Verhältnis des Kaisers zu seiner Mutter wußte, erweist es sich als noch viel schrecklicher, als man erwarten konnte. Der Kaiser von einer Brutalität, Bösartigkeit, Gemeinheit, Grausamkeit gegen sie, die fast beispiellos sind. Man muß an Tacitus denken, an Nero und Agrippina. Wenn die Zeit es gestattet hätte, wäre der Kaiser vor ihrer Ermordung kaum zurückgeschreckt. Jede neue Publikation macht das Bild dieses Schwächlings, Feiglings, brutalen Strebers und Bramarbas, dieses Hohlkopfs und Aufschneiders, der Deutschland ins Unglück gestürzt hat, noch abstoßender. Nicht ein Zug ist an ihm, der Sympathie oder Mitleid erregen könnte; er ist restlos verächtlich. (11.11.1928)

Nijinski – Burn Out

Abends Vorstellung von Diaghilews Ballett in der Oper. Strawinskys ›Rossignol‹ und ›Petruschka‹. Nachher in den Gängen hinter der Bühne, wo ich auf Diaghilew wartete, kommt dieser mit einem kleinen, hageren Jungen in einem zerschlissenen Mantel auf mich zu und sagt: »Kennen Sie ihn nicht?« Ich: »Nein, wirklich, ich kann mich nicht besinnen.« Diaghilew: »Aber es ist doch Nijinski!« Nijinski! Ich war wie vom Donner gerührt. Das Gesicht, das so oft wie das eines Gottes geleuchtet hatte, Tausenden ein unvergeßliches Erlebnis ist, grau, schlaff, leer, nur noch flüchtig von einem verständnislosen Lächeln, einem kurzen Schein wie von einer verflackernden Flamme erleuchtet. Kein Wort kam über seine Lippen. Diaghilew hatte ihn unter einem Arm gefaßt; um die Treppe, drei Etagen, hinunterzugehen, bat er mich, ihn unter den andren Arm zu fassen, weil er, der früher über Häuser springen zu können schien, unsicher, ängstlich von Stufe zu Stufe sich heruntertastet. Ich packte ihn, drückte ihm die dünnen Finger, versuchte ihn durch freundliche Worte zu ermuntern; verständnislos, aber unendlich rührend blickte er mich aus großen Augen wie ein krankes Tier an.

Mühsam, langsam stiegen wir die drei endlosen Etagen hinunter, er schwer auf uns beide sich stützend, bis zu seinem Wagen, in den er, ohne ein Wort gesprochen zu haben, hineingehoben wurde. Ganz stumm setzte er sich zwischen zwei Frauen, die ihn zu betreuen schienen, und fuhr ab. Ob er Petruschka, seine Glanzrolle, erkannt hat, wußte man nicht. Aber Diaghilew sagte, er habe wie ein Kind aus dem Theater nicht wieder fortgewollt. Zum Abschied küßte ihn Diaghilew auf die Stirn. Ich ging nachher noch mit Diaghilew ins Restaurant de la Paix, wo wir mit Karsawina, Misia Sert, Craig, Alfred Savoir bis spät saßen; aber ich war nicht bei der Sache, konnte über dieses Wiedersehen mit Nijinski nicht hinweg.

Ein Mensch, der ausbrennt ... Unfaßbar! Vielleicht noch unfaßbarer, tragischer, wenn ein Verhältnis, eine Leidenschaft zwischen zwei Menschen ausbrennt, nur noch ein leises Aufflackern den hoffnungslosen Leichnam flüchtig erleuchtet. (27.12.1928)

Virginia Woolf

Virginia Woolf eine nicht mehr junge, etwas vertrocknete, etwas dekadent aussehende, ziemlich große Frau, die die angenehmen Manieren der guten englischen Gesellschaft hat. (22.1.1929)

Yehudi Menuhin

Abends im Konzert des kleinen Yehudi Menuhin. Der Junge ist ein wirkliches Wunder; sein Spiel hat die göttliche Beseeltheit des Genies und die Reinheit des Kindes. Eine tolle Virtuosität bleibt ganz sekundär, als ob sie sich von selbst verstünde. Ein wunderbares Stilgefühl, auch nicht die leiseste Spur von Kitsch oder Sentimentalität, sondern ganz reines, tiefes Empfinden. (23.4.1929)

Kritik an der Musik von Rigoletto

Abends mit Max und Guseck in ›Rigoletto‹ unter Toscanini in der Charlottenburger Oper. Ungeheure Begeisterung des Publikums, zu dem auch Stresemanns und Hilferdings gehörten; mich langweilte diese Musik, diese verstaubte, tönende Romantik, die um unmögliche Situationen anschwillt. (23.5.1929)

Kritik an Wagner-Musik

Nach Tisch sang die Gadski Isoldes Erzählung und den Liebestod. Diese Musik ist im Salon mit Klavierbegleitung heute unmöglich geworden. Man empfindet nur: was geht mich das alles an? Das Geschwollene, Unwahre, Verlogene, das im Theater bei Orchesterbegleitung der musikalische Glanz verdeckt, wird unter dem dünnen Klang des Klaviers unerträglich fühlbar. (6.12.1929)

Gegen Instrumentalisierung und Verflachung der Kunst (harte Worte)

Gegessen bei Baby Goldschmidt-Rothschild am Pariser Platz. Acht bis zehn Personen, kleines Diner, äußerster Luxus, vier unschätzbare Meisterwerke von Manet, Cézanne, van Gogh, Monet an den Wänden. Dreißig Briefe von van Gogh in einem überreichen, häßlichen Einband wurden nach Tisch zu Zigaretten und Kaffee herumgereicht. Armer van Gogh! Man empfindet schließlich pogromhaft: diese Leute müßte man totschlagen. Nicht Neid, sondern Ekel über die Verfälschung und Verflachung geistiger und künstlerischer zu bloß materiellen Werten, zu Gegenständen des ›Luxus‹. (8.12.1929)

Die Nerven machen nicht mehr mit…

Vollmoeller erzählte prickelnd farbige Geschichten von der Marchesa Casati. Eine, die von Barbey d'Aurevilly hätte erfunden sein können. Von ihrem schönen, alten, in einem großen Garten gelegenen Louis-XV.-Hotel im Faubourg St. Germain ruft sie eines Nachts um drei den Kardinal-Erzbischof von Paris an und bittet, er möge sofort zu ihr kommen, sie müsse ihm unverzüglich eine sehr wichtige Mitteilung machen; es gehe um Leben und Tod ihrer Seele. Der Kardinal, der geweckt wird, weigert sich, mitten in der Nacht sich zu bemühen, und beauftragt schließlich nach längerem Parlamentieren einen Priester, der irgendeine Stellung bei ihm einnimmt, hinzugehen. Der Priester fährt vor, klingelt, wird eingelassen und durch eine Allee des dunklen Gartens auf das Haus zugeführt. Mitten in der Allee tritt ihm plötzlich völlig nackt, in jeder Hand einen Leuchter mit mehreren Kerzen emporhebend, die Casati entgegen und will eine lange Litanei aufsagen. Der Priester, ganz entsetzt, macht kehrt und flieht, als ob er eine Verkörperung des Bösen gesehen hätte, und am nächsten Tage erstattet der Kardinal eine Anzeige bei der Polizei gegen die Casati wegen Attentat à la pudeur und Gotteslästerung. Die Sache endet damit, daß die Casati auf sechs Monate in eine Nervenheilanstalt verschwindet. (23.1.1930)

Schwierige Treffen mit Picasso

(…) Sie haben zahlreiche Bilder, Pastelle und Zeichnungen von Picasso, die in die Louis-XIV.-Umgebung nicht besonders gut, aber jedenfalls besser als moderner Kitsch hineinpassen. Ich sagte ihnen, daß ich vergeblich versucht hätte, Picasso zu erreichen. Sie sagten, auch sie sähen ihn seit einem Jahr nie mehr, obgleich sie seine intimsten Freunde seien. Wenn man ihn einlade, nehme er zwar an, aber zehn Minuten vor Tisch käme eine Absage, die Kinder hätten Scharlach oder die Frau sei ›indisposée‹ usw. Auf Briefe antworte er prinzipiell nicht, und am Telephon lasse er sich verleugnen. So gehe es allen seinen Freunden. Niemand wisse, was er eigentlich treibe. (10.4.1930)

Maillol – Flucht aus der Ehe

Es ist also eine regelrechte Flucht aus der Ehe, die bei einem siebenundsechzigjährigen Mann etwas Tragisches hat, bei der ihm Hilfe zu leisten ich aber keine Bedenken trage, weil seine Frau ihm dreißig Jahre lang mit ihrer irrsinnigen Eifersucht im Wege gestanden ist und ihn verhindert hat, jemals ein annehmbares weibliches Modell zu haben. Er hat sich mit allerlei zufälligen Photographien und Heften von Nacktzeitschriften begnügen müssen. Wenn er jetzt endlich diese Drangsalierung satt bekommen hat und etwas Freude und Freiheit sich erobern will, so kann man ihm nur recht geben. Mme. Maillol hat es sich nur selber zuzuschreiben. (16.5.1930)

(…) Im Auto sagte mir die Passavant, sie sei zuerst mit Mme. Maillol sehr gut ausgekommen, dann habe diese plötzlich die Eifersucht gepackt und sie sei unausstehlich geworden. Elle écoutait aux portes usw. Ich machte der Passavant Komplimente über ihre kleinen Tonfiguren, sie erzählte, ihre Mutter sei Malerin, habe aber als fast Vierzigjährige einen zwanzigjährigen Mann geheiratet, das Leben sei dadurch im Hause für sie als junges sechzehnjähriges Ding unerträglich geworden, sie sei deshalb auf und davon gegangen, habe sich irgendwie durchgeschlagen, bis sie bei Maillol als Modell gelandet sei. Sie ist mir nicht unsympathisch, gehört aber zu dem Typus von kleinbürgerlichen, dicklichen, geschminkten Pariserinnen, den ich als äußere Erscheinung nicht mag. (16.5.1930)

Liebesgeschichte zwischen Maillol und L. Passavant

Kurz und gut, es handelt sich um die alte Tragikomödie zwischen einem alternden Mann und einem hitzigen Mädchen; ältester Komödienstoff. Madame Maillol ist gerächt! Mir tut in diesem Falle er mehr als sie leid, die wissen mußte, was sie zu erwarten hatte, da sie schon ein Jahr lang mit ihm eine Liaison hat. Merkwürdig ist, daß mir Goertz gleich am Donnerstag, nachdem er die Passavant zuerst gesehen hatte, sagte, sie sei ein liebes, reizendes Wesen, gehöre aber zu den Frauen, die den Mann nicht lange hielten, weil sie zu sinnlich seien und zu viel von ihm verlangten. (11.6.1930)

Sonnen- / Licht- / Nacktheitskult in Deutschland

Früh um drei Viertel acht holte der Staatssekretär Lewald Maillol, Fräulein Passavant und mich ab zu einer Besichtigung der Hochschule für Leibesübungen im Grunewald; die ganze großartige Anlage im herrlichen Sonnenschein von fast nackten jungen Menschen belebt, die allerlei Sportübungen machten; im hellen Licht und der warmen, würzigen Luft war der Eindruck ganz griechisch.

Es ist schon richtig, was Frau Sarre (geb. Humann) mir später beim Frühstück sagte, daß wir uns, namentlich in Deutschland, wieder in vielen Dingen dem Griechentum zuwenden, aber diesmal (im Gegensatz zum Klassizismus) unbewußt und unabsichtlich, aus dem Leben heraus. Nacktheit, Licht, Luft, Sonne, Anbetung des Lebens, der körperlichen Vollkommenheit, der Sinne, ohne falsche Scham, ohne Prüderie. Auch ist es erstaunlich, wie der Körper, die körperliche Wirklichkeit bei der jungen Generation diesem Drange gehorcht, wieviel schöner die jungen Menschen heute sind als vor dem Kriege. Es ist ein Aufblühen des Volkskörpers, seitdem die Menschen sich nicht mehr scheuen, nackt zu gehen. (…)

(…) In Wannsee ins Freibad, wo Maillol plötzlich zeichnen wollte, hier seien Menschen, die ihm noch mehr sagten als die heute früh in der Hochschule, die zu sehr alle nach einem Muster geformt seien, zu ähnlich einander und zu akademisch. (14.7.1930)

Vorahnung nach den Ergebnissen der Reichstagswahl 1930

Ein schwarzer Tag für Deutschland. Gegen vier teilte mir ein Telegramm von Guseck das Wahlresultat mit. Die Nazis haben ihre Mandatszahl fast verzehnfacht, sind von zwölf auf hundertsieben Mandate gekommen und so die zweitstärkste Partei des Reichstags geworden. Der Eindruck im Ausland muß katastrophal sein, die Rückwirkung außenpolitisch und finanziell verheerend. Wir stehen damit (bei hundertsieben Nazis, einundvierzig Hugenbergern und über siebzig Kommunisten, also etwa zweihundertzwanzig Abgeordneten, die den heutigen deutschen Staat radikal verneinen und revolutionär beseitigen wollen) vor einer Staatskrise, die nur durch die straffe Zusammenfassung aller die Republik bejahenden oder wenigstens tolerierenden Kräfte überwunden werden kann, wenn diese Kräfte außerdem noch das Talent aufbringen, die wirtschaftliche und finanzielle Lage bis zur nächsten Reichstags-Auflösung zu sanieren. Allerdings wird das nächste Resultat wohl (falls kein Putsch kommt) die Bildung einer ›Großen Koalition‹ zwischen den jetzigen Regierungsparteien und den Sozialdemokraten sein müssen, da anders die Regierung überhaupt nicht fortgeführt werden kann. Ein beunruhigendes Detail ist der Mißerfolg der Staatspartei, die nur zwanzig Mandate, also weniger als die Demokraten im vorigen Reichstag, aufgebracht hat trotz des Zugangs des Jungdo. Das deutsche Bürgertum (in ›Staatspartei‹ und Volkspartei verkörpert) scheint endgültig im Aussterben, politisch. Es wird bald zwischen all den aufgeregten Leuten und den sozialdemokratischen Arbeitern überhaupt keine Rolle mehr spielen.

Bemerkenswert ist auch, daß nur die ›Weltanschauungs‹-Parteien im Gegensatz zu den ›Interessenten‹-Parteien gewonnen haben, also das Zentrum, die Kommunisten und die Nazis, die zusammen dreihundertsechsundzwanzig von fünfhundertdreiundsiebzig Abgeordneten stellen. Das ist immerhin, bei aller Verrücktheit und Verruchtheit der nationalsozialistischen Weltanschauung, kein schlechtes Zeugnis für den deutschen Wähler.

Der Nationalsozialismus ist eine Fiebererscheinung des sterbenden deutschen kleinen Mittelstandes; dieser Giftstoff seiner Krankheit kann aber Deutschland und Europa auf Jahrzehnte hin verelenden. Zu retten ist diese Klasse nicht; sie kann aber ungeheures neues Elend über Europa bringen in ihrem Todeskampf. (15.9.1930)

Schräge reiche Leute

Vormittags Jacques an. Abends bei unseren Nachbarn, steinreichen Amerikanern, Clews, gegessen in der mittelalterlichen Burg, die sie sich am Meer gebaut haben. Ein Kino-Mittelalter, das aber von der traumhaften Landschaft irgendwie aufgesogen und geadelt wird. Henry Clews selbst ist Bildhauer, nicht ohne Talent, und hat die zahlreichen Säulen und Säulchen seiner Burg mit Kapitellen geschmückt, die durch groteske Masken und Tierfiguren seinen Abscheu vor der modernen Welt der Bourgeoisie, Demokratie, Herdengesinnung usw. ausdrücken; ein reaktionärer Revolutionär, dessen schöpferische Triebfeder ein fanatischer Haß gegen alles, was heute ist, zu sein scheint, obwohl er alle modernen Erfindungen und offenbar auch den modernen Kapitalismus ausnutzt, Telephon in jedem Zimmer, Wasserleitung, vervollkommnete Badeeinrichtungen, Auto usw.: ein George Grosz mit umgekehrten Vorzeichen, das heißt ›aristokratisch‹ oder richtiger romantisch revoltierend, à la Huysmans. Er ist seit fünf Jahren, wie er sagt, nur einmal aus seinem allerdings paradiesisch schönen Garten hinausgegangen.

Der Empfang, als wir abends zu Tisch kamen, war verblüffend: er in weißen Hosen und einer Art von scharlachrotem, seidenem, gesticktem Waffenrock, der ihm bis zu den Knien reichte, seine (sehr schöne) Frau als Königin der Nacht in Schwarz mit Goldsternen; hinter ihnen drei Lakaien in Weiß mit den Händen an der Hosennaht und hinter den Lakaien zwei wunderschöne große weiße Bulldoggen, die wie chinesische Groteskgötzen aussahen. Beim Essen, das in einer großen, mit Kerzen beleuchteten gotischen Halle an einem steinernen Tisch eingenommen wurde (gute Küche und ausgezeichneter Champagner), in die durch eine offene gotische Loggia ein romantisch vom Mond beleuchtetes Meer hereinglitzerte, sprach Clews geistvoll und tief über Nietzsche den er sehr richtig von der Seite der Gütigkeit, ›tenderness‹, versteht), über die Beziehung zwischen dem Künstler und dem ›Bösen‹ usw. und zeigte sich als feiner, tiefer Mensch, wenn er auch viel Unsinn über Mussolini, Demokratie, Krieg und Pazifismus, Nationalismus usw. redete, wobei ich trotz allem das Gefühl nicht los wurde, wir würden gefilmt. (22.9.1930)

Graue Masse, Läuse - Revolution…

Abends Staatsbankett der preußischen Regierung im Schloß. Der Eindruck auf mich schauerlich.Wo früher ein farbenprächtiges Bild, schöne oder in ihrer Aufmachung schön erscheinende Menschen die Säle festlich füllten, eine einförmige, formlose graue Masse, wie Läuse, die sich wie ein trüber Alltag durch die alte Barockpracht hindurchschoben. Die englische Botschafterin Lady Rumbold, die ich durch einige Säle begleitete, bis Weismann sie an einen Tisch heranholte, sagte (und ich empfand genau wie sie): »I feel like a ghost.« Meier-Graefe meinte in seiner schnodderigen Art: »Na, früher waren die Köpfe doch besser, was?« Es war, als ob sich in einem üppigen Hoftheater eine Schmiere etabliert hätte. (2.10.1930)

Wir haben, und das ist fast ein Wunder, in den zwölf Jahren seit der Revolution eine neue Schönheit geschaffen, die mit der Arbeitsdemokratie in Einklang steht, ja sogar schönere Menschen, feinere, schlankere, strahlendere hervorgebracht; die heutige Jugend ist, namentlich nackt, schöner als die Vorkriegsjugend. Man soll aber diese neue Welt nicht in Kontakt mit der alten Barockwelt bringen; dann beißt sich alles, und der Mißklang, der entsteht, ist unerträglich. Nie ist es mir so sinnenfällig geworden, daß die frühere Epoche abgeschlossen und unmöglich geworden ist, die Revolution nicht nur äußerlich gewesen ist, sondern wirklich das Fazit aus einer epochalen Umwälzung, aus einer unwiderruflichen Umwälzung der grundlegenden Lebensbedingungen gezogen hat. Das Politische daran ist nur Oberfläche; die wirkliche Umwälzung geht weit tiefer. Wenn man genauer zusieht, ist das ›Schmieren‹hafte das Dekor, die verlogene wilhelminische Pracht des Weißen Saals; das Echte, ganz Untheatralische die graue, befrackte, völlig unromantische Masse.

Die Barockwelt hat sich ihren Hintergrund geschaffen, vor dem sie sich bewegen konnte; wir sind dabei, uns unseren Hintergrund in Architektur, Gartenkunst, Malerei, Plastik zu schaffen; unsere Welt wird wahrscheinlich nicht weniger schön sein als die barocke, wenn sie erst einmal ausgereift ist. Man kann aber nicht unsere Welt vor den Barockhintergrund stellen, ohne jedes ästhetische Gefühl zu verletzen.

Über „Stahlhelm“-Leute

Abends nach Weimar gefahren. In unserem Zuge und in einem Nebenzuge, der nachher in Weimar auf einem andren Geleise hielt, Transporte von Stahlhelmern, die nach Koblenz zu einer ›Befreiungsfeier‹ fuhren. Alle in Uniform, feldgrau, von der Reichswehr kaum zu unterscheiden. Schon in Halle grölten sie die ›Wacht am Rhein‹ und andre ›vaterländische‹ Lieder; in Weimar ergossen sie sich über den Bahnsteig, die Treppen, die Wartesäle, meistens ganz junge Burschen, ›Rotznasen‹, großenteils offenbar besoffen, die Uniformen halb aufgeknöpft, randalierend, grölend, Reisende anpöbelnd, völlig ohne jede Disziplin; von Soldatentum keine Spur. Ob und wo irgendwelche Führer waren, trat nicht in Erscheinung. In ihrer Verwahrlosung und Disziplinlosigkeit erinnerten sie mich an nichts mehr als an die wilden Truppenteile, die in der Revolution führerlos von der Front zurückfluteten. Trotz ihrer Uniformen haben diese grünen Jungens noch die ersten Anfangsgründe soldatischen Wesens zu lernen. Solch disziplinloses Gesindel würde jeder kleine Trupp von echtem Militär mit dem Besen auseinanderfegen. (3.10.1930)

Nazis als Lumpenproletariat

Reichstags-Eröffnung. Den ganzen Nachmittag und Abend große Nazimassen, die demonstrierten und am Nachmittag in der Leipziger Straße die Fensterscheiben der Warenhäuser Wertheim, Grünfeld usw. einschlugen. Abends auf dem Potsdamer Platz Ansammlungen, die ›Deutschland erwache‹, ›Juda verrecke‹, ›Heil, Heil‹ riefen und fortwährend von der Schupo, die auf Lastwagen und zu Pferde patrouillierte, auseinandergetrieben wurden. Ich ging um halb zwölf Uhr nachts durch die Leipziger Straße bis zur Friedrichstraße und stand nachher drei viertel Stunden vor dem ›Fürstenhof‹. Die Nazis, die demonstrierten, bestanden zum größten Teil aus halbwüchsigem Lumpenproletariat, das johlend auskniff, sobald die Schupo mit dem Gummiknüppel vorging. Nie habe ich soviel richtiges Lumpenproletariat in dieser Gegend gesehen.

Vor dem ›Fürstenhof‹ beobachtete ich, wie einzelne von diesen Burschen einen richtigen Patrouillendienst versahen, derselbe Junge immer wieder zwischen Prinz-Albrecht-Straße und Potsdamer Platz wie eine Schildwache auf und ab patrouillierte, offenbar bezahlte Arbeitslose. Von Zeit zu Zeit kam ein Trupp Halbwüchsiger, von Schupos verfolgt, in wilder Flucht vorbeigerannt, arme Teufel, die von den Thyssenschen Geldern zwei, drei Mark für die Dokumentierung ihrer ›vaterländischen‹ Gesinnung bezahlt bekommen hatten. Das Straßenbild erinnerte mich an das in den Tagen kurz vor der Revolution, dieselben Ansammlungen, dieselben katilinarischen Gestalten herumstrolchend und demonstrierend.

Wenn die Regierung jetzt nicht fest zupackt, schlittern wir in den Bürgerkrieg hinein. Sowieso schätze ich, daß uns die heutigen Unruhen eine halbe bis zu einer ganzen Milliarde in Kursverlusten und Zurückziehung ausländischer Guthaben kosten werden. Daß die Unruhen organisiert waren, bezeugten nicht nur die patrouillierenden Burschen, sondern auch die Zerstörungen in der Leipziger Straße, die nur Geschäfte mit jüdischen Namen getroffen und sehr demonstrativ die äußerlich christlichen Geschäfte ungeschoren gelassen hatten (so Herpich, die Porzellan-Manufaktur, die Goethe-Buchhandlung). In das Palast-Hotel sind die Nazis eingedrungen und haben in der Halle ›Deutschland erwache‹ und ›Juden heraus‹ gebrüllt. Der Ekel überkommt einen vor so viel verbohrter Dummheit und Bosheit. (13.10.1930)

[1931 viele langdauernde Krankheiten]

Wahnsinnig gewordene Henker

Nachmittags der Italiener Caffi, der bei der Fürstin Bassiano Hauslehrer und mir von dieser wärmstens als Gelehrter (Historiker und Gräzist) empfohlen worden ist (Schüler von Mommsen), zum Tee Avenue Kléber. Eine interessante, faszinierende Persönlichkeit. Er war vier Jahre unter dem Bolschewismus als Korrespondent des ›Corriere della Sera‹ und nachher an der Botschaft in Rußland, zweimal in den Tscheka-Gefängnissen gefangen, einmal sechs Wochen, immer bei schlechtester Verpflegung (hundert Gramm Schwarzbrot und eine stinkende Fischsuppe, die von einer syphilitisch zerfressenen lettischen Frauensperson einmal am Tage gebracht wurde, diese Lettin außerdem schwer bewaffnet, le fusil en bandoulière). Jeden Sonnabend wurden im Keller unter seiner Zelle Gefangene erschossen, was so klang, als ob Türen laut zugeschlagen wurden. Zu Dserschinskij hat er sogar ganz gute persönliche Beziehungen gehabt, da er mit ihm studiert hatte. Er meint, er sei pathologisch gewesen, im übrigen integer und ganz unfähig, selbst einen Menschen umzubringen, ganz im Gegensatz zum Henker Peters. Dieser sei übrigens nachher wahnsinnig geworden. Länger als zwei Jahre habe es überhaupt kein bolschewistischer Henker ausgehalten; spätestens nach zwei Jahren sei jeder verrückt geworden. In allen Irrenhäusern hätten sie gesessen; die Sanatorien an der Krimküste seien voll von wahnsinnig gewordenen Henkern gewesen. (2.12.1931)

Sorgen materieller Art

Drei Wochen in Pontresina bei strahlend schönem Wetter. Im Hotel Rosegg. Die erste Szene des ersten Aktes meines Stücks geschrieben; viel Sorgen (materieller Art). (2.-24.2.1932)

Um Leute einzuschätzen, wird oft auch die Wohnung gemustert, wie hier bei Briand:

Kleine Vierzimmer-Wohnung im zweiten Stock, kleinbürgerlich, fast ärmlich eingerichtet. Interieur eines kleinen, mittleren Beamten, wenig Bücher, triviale, mittelmäßige Drucke an den Wänden. Man merkt nichts von irgendwelchen intellektuellen oder künstlerischen Bedürfnissen, von Luxus gar nicht zu reden. Typisch die Wohnung eines ›kleinen Mannes‹. Sonderbar! Man fragt sich, ob er wirklich gar keine über das mittlere Niveau hinausgehenden Bedürfnisse gehabt. (…) Der Eindruck war da auch der eines sehr klugen, ja schlauen Kleinbürgers. Vielleicht war es dieses Kleinbürgertum, das den Boden abgab für das gegenseitige Verständnis von Briand und Stresemann; beides Gastwirtssöhne aus sehr kleinen Verhältnissen. (9.3.1932)

Unterschätzung der Nazis

Allgemeine Demobilisation und Desarmierung der verschiedenen Bürgerkriegs-Armeen; radikale Liquidierung der Situation, die mich bei meiner Rückkehr nach Deutschland (siehe 23. März 1932) so überrascht und beunruhigt hatte. Wir standen in der Tat damals, vor einem Monat, unmittelbar vor dem Bürgerkrieg mit vollkommen gedrillten, organisierten, bewaffneten, mit allem Nötigen ausgestatteten Armeen von mehreren hunderttausend Mann auf beiden Seiten, die nur auf das Signal zum Losschlagen warteten. Daß diese Situation durch einen Federstrich so leicht gelöst worden ist, daß sich die SA und SS (angeblich vierhunderttausend Mann) mit solcher Lammsgeduld entwaffnen und auseinandersprengen ließen (irgendwie nennenswerten Widerstand haben sie nirgends geleistet), sieht fast verdächtig aus!

Wenn die Aktion aber wirklich mit vollem Ernst und gründlich durchgeführt worden ist, dann bedeutet sie den größten Umschwung in unserem öffentlichen Leben seit der Niederwerfung des Spartakisten-Aufstandes im März 1919. Cicero hat bei der Niederwerfung Catilinas und der Catilinarier ganz andre Machtmittel verwenden müssen, um sie kleinzukriegen, und ebenso Noske bei der Niederwerfung der Spartakisten. Die Haltung Hitlers und seiner Leute erscheint im Vergleich dazu recht jämmerlich, entspricht aber wohl dem schwächlichen, stark femininen Charakter Hitlers und seiner Umgebung; auch darin Wilhelm II. ähnlich, ein großes Maul und nichts dahinter, wenn die Sache ernst wird. Eine voll ausgerüstete Armee von vierhunderttausend Mann (so behauptet Hitler selbst, und wahrscheinlich glaubt er es auch) und dann so ohne den leisesten Widerstand bedingungslos kapitulieren! Man weiß nicht, ob es zum Lachen oder zum Weinen ist! Das der ›deutsche Wehrwille‹(?), den Hitler angeblich wieder wecken und stark machen will? Ein Jammer! (16.4.1932)

Über junge Deutsche: sie brauchen Stränge:

Bei Simons gefrühstückt. Er war dem Ausgang der Wahlen gegenüber ziemlich ratlos. Meinte, das deutsche Volk bleibe für ihn ein Rätsel; diese Innigkeit und Zartheit in Lyrik, in Werken der Kunst des Mittelalters (Madonna aus Homburg im Liebig-Haus), und daneben diese Barbarei. Ich sagte, mit der Zeit hätte ich zwei Grund-Wesenszüge des Deutschen, namentlich des jungen Deutschen, als absolut und unveränderlich erkannt, die bei jedem, ob er links oder rechts stehe, ob Kommunist, Nazi, Sozialdemokrat oder Spießer, immer durch alle Umhüllungen und Weltanschauungen hindurchbrächen: die Flucht in die Metaphysik, in irgendeinen ›Glauben‹ (Marxismus, Kommunismus, Hitlerismus, Philosophie oder was immer), und den Trieb zum Drill, zum Strammstehen und Kommandiertwerden oder Kommandieren; im Gegensatz zum jungen Franzosen habe der junge Deutsche gar keinen Trieb zur wirklichen Unabhängigkeit, zur persönlichen, unbeschränkten Freiheit. Der junge Deutsche schlägt auch über die Stränge wie jeder junge Mensch, verlangt aber eben nach Strängen, sonst macht ihm die Freiheit keinen Spaß. (25.4.1932)

Zur Technik des Memoiren-Schreibens

Zur Technik des Memoiren-Schreibens. Memoiren: Sinngebung der Zeit aus der Perspektive einer Persönlichkeit. Eben darum Perspektive, Rangordnung der Dinge und Geschehnisse im Hinblick auf die Persönlichkeit und ihr Drama, ihre wechselnden Situationen, ihre Tragik oder Tragikomik. Dadurch Überwindung der bloßen Chronik, der Rangordnung der Personen nach ihrer bloßen ›Berühmtheit‹; dafür Einordnung in die Situation und den dramatischen Aufbau des Ganzen; Organisierung des Stoffes. Jede Person, mag sie noch so ›berühmt‹ sein, gilt nur so viel, wie sie in diesem höchstpersönlichen Drama des Verfassers gilt, nur so viel, wie in diesem Drama ihre Rolle gewesen ist; ihr Wert für das Werk resultiert nur aus der scharfen Umreißung ihrer Besonderheit (ihres ›Charakters‹) und der Bedeutung dieses Charakters für den Fortgang des Dramas, nicht der Weltgeschichte; sie müßte ebenso interessant sein, wenn sie anonym aufträte.

Die große Mehrzahl der Memoiren, namentlich der Kriegs- und Nachkriegszeit, ist nur chronistisch, primitiv in Aufbau und Sinngebung; sie bemühen sich nicht um die organische Funktion der in ihnen auftretenden Personen im persönlichen Erleben des Verfassers. Weiße Raben sind Montaigne, Retz, St. Simon, Casanova, Goethe, Bismarck, dieser letztere, weil er alles und alle aus der Perspektive eines leidenschaftlichen Machthungers und politischen Wollens beleuchtet und umdichtet. Ehrliche und durchdachte Memoiren müßten immer tragisch wirken, Mitleid, Furcht und innere Befreiung auslösen.

Die Gefahr des Memoirenschreibers (und um so größer ist diese Gefahr, je reicher und bewegter das Leben des Schreibers gewesen ist) – die Gefahr ist die Übermacht und Zähigkeit des Stoffs, den der Verfasser zu kneten und durch seine Kunst zu bändigen hat. Meines Erachtens kann nur, wer dramatisch, und zwar leidenschaftlich dramatisch erlebt, gute Memoiren schreiben. Das ist auch der letzte Grund, warum die Memoiren des kalten Fisches Bülow trotz allen amüsanten anekdotenhaften Aufputzes und boshaften Charakterskizzen nicht gut sind und letzten Endes nur ein Gefühl des Ekels hinterlassen, als ob man eisigen Schleim geschluckt hätte. St. Simon hatte seinen leidenschaftlichen Adelsstolz, Casanova seinen leidenschaftlichen Trieb zu Liebesabenteuern, Bismarck seinen leidenschaftlichen Machthunger; sie alle haben mit ihrer Leidenschaft den Stoff geknetet und zur Form gemacht. Bülow war flach und faul und ohne Leidenschaft (außer der greisenhaften des impotenten Hasses), und deshalb hat er trotz allen feuilletonistischen Talents versagt und nur ein (noch dazu verlogenes) Aktenstück zum Archiv der Historie zusammengeschrieben (cf. 30. April 1932). (28.4.1932)

Jugendbanden in Berlin (Besprisornijes)

Plievier schreibt ein Buch über die Zeit gleich nach dem 9. November. (…) Er und Herzfelde erzählten über die Not in den Arbeitervierteln in Berlin eine Einzelheit, die ich nicht wußte: daß es in Berlin schon zwanzig- bis dreißigtausend ›Besprisornijes‹ gebe, verwahrloste Kinder von elf bis fünfzehn Jahren, die in Rudeln lebten, vollkommen organisiert seien in kleinen Banden, zu denen man nur nach sehr komplizierten Aufnahmezeremonien, zum Teil sadistischer Art, zugelassen werde. Der Chef einer solchen Bande heiße, wenn es ein Junge sei, ›der Bulle‹, und wenn es ein Mädchen ist, ›die Kuh‹. Sie seien vollkommen amoralisch, auf alle Verbrechen eingestellt, zum großen Teil syphilitisch und kokainsüchtig. (12.5.1932)

Architektur als Ausdruck eines Lebensgefühls

André Gide ist hier. (…) Wir fuhren dann hinaus und an den neuen Siedlungen bei Onkel Toms Hütte vorbei, die Mme. de Margerie Gide zeigen wollte: la cité magique nannte sie sie, und auch Gide empfing offenbar einen starken Eindruck von dieser neuen deutschen Siedlungs-Architektur. Er seufzte über die Zurückgebliebenheit Frankreichs. Warum hätten die Franzosen vollkommen den Sinn für Architektur verloren, während er plötzlich in Deutschland aufgeblüht sei? Ich sagte, man könne diese Architektur nicht verstehen, wenn man sie nur als Architektur, abstrakt, sozusagen als ›l'art pour l'art‹ betrachte. Sie erkläre sich nur als Teil eines neuen Lebensstils, einer neuen Auffassung vom Sinn und Zweck des Lebens, die sich diese Lebensformen schaffe. Übrigens sei jede Architektur, wo und wann auch immer, Ausdruck der herrschenden Lebens- und Weltanschauung gewesen; daher die scheußliche, mickrige und protzige Architektur der Jahrhundertwende, die genau das spießbürgerliche Lebensideal jener Zeit widerspiegele. (28.5.1932)

Besuch bei Frau Förster-Nietzsche

Nachmittags bei Frau Förster-Nietzsche. Das Nietzsche-Archiv ist jetzt, wie sie selbst sagt, ›mitten in der Politik‹. Zu seinem Vorsteher haben sie einen Nazi-Professor Emge aus Jena berufen, einen Professor der Rechtsphilosophie, der sogar als Nazi-Minister in der thüringischen Regierung in Aussicht genommen ist. Im Archiv ist alles vom Diener bis zum Major hinauf Nazi. Nur sie selbst ist noch, wie sie sagt, deutschnational.

Sie erzählte, wie Hitler sie besucht hat nach der Premiere von Mussolinis Stück im National-Theater. Während mehrere italienische Korrespondenten bei ihr saßen, habe er sich melden lassen und sei mit einem riesigen Blumenstrauß und begleitet von seinem Stabe bei ihr eingetreten. Es habe sich in Gegenwart der Italiener eine lebhafte politische Konversation entsponnen, bei der Hitler sich, wie sie sagt, in einer für ihr Gefühl unvorsichtigen Weise über Österreich und den Anschluß geäußert habe. Er habe betont, daß er den Anschluß nicht wünsche, weil Wien keine rein deutsche Stadt sei. Sie habe das nicht für richtig gehalten, daß er das vor den Ausländern sagte. In seinem Gefolge befand sich unter andren auch Schulze-Naumburg.

Ich fragte sie, welchen Eindruck Hitler menschlich auf sie gemacht habe? Ob er nach ihrem Gefühl Format habe? Sie sagte: aufgefallen seien ihr vor allem seine Augen, die faszinierend seien und einen durch und durch blickten. Aber er habe mehr den Eindruck eines religiös als politisch bedeutenden Menschen auf sie gemacht. Den Eindruck, daß er ein großer Politiker sei, habe sie nicht gehabt. Winifred Wagner, die mit dem italienischen Botschafter Orsini-Baroni während der Goethe-Feiern bei ihr war, stehe auch den Nazis sehr nahe. Kurz, diese ganze Schicht des intellektuellen Deutschlands, das in der mehr goethischen, romantischen Periode seine Wurzeln hat, ist ganz Nazi-verseucht, ohne zu wissen warum. Das Nietzsche-Archiv hat von seinem Faschismus wenigstens einen materiellen Vorteil, indem Mussolini ihm, wie Frau Förster erzählte, gegen Ende des vorigen Jahres zwanzigtausend Lire überwiesen hat. Am nächsten Donnerstag hat sich die ›Kaiserin‹ Hermine bei ihr zum Tee angesagt; es wird ein ›Dichtertee‹, wie sie sagt: Börries Münchhausen liest Gedichte vor, und Walter Bloem ehrt das Fest durch seine Gegenwart. Man möchte weinen, wohin Nietzsche und das Nietzsche-Archiv gekommen sind!

Noch eins: daß dieser alten, sechsundachtzigjährigen Frau der mächtigste Mann Deutschlands und die Frau des früheren Kaisers heute den Hof machen. Letzteres fast grotesk nach der Einstellung S. M. zu Nietzsche vor dem Kriege! Sie erzählt noch zu diesem Umschwung, daß die Offiziere des in Weimar garnisonierenden Reichswehr-Divisionsstabes ihr bei ihrer Herversetzung offiziell einen Antrittsbesuch machen. Wie war es in meiner Jugend in Potsdam, als ich mit Bernhard Stolberg und meinem Kreise Nietzsche las? Stolberg wurde deshalb von seinem Vater aus Potsdam fortgeholt und sechs Monate mit einem Pfarrer eingesperrt. Damals war Nietzsche Revolutionär und fast ebensosehr vaterlandsloser Geselle wie die Sozis.

Das Gespräch, das in der kleinen guten Stube im ersten Stock vor sich ging, mit dem Blick durch die offene Verbindungstür nach dem Ecksofa, auf dem ich zum letzten Mal Nietzsche wie einen kranken Adler sitzen sah, machte mir einen tiefen Eindruck. Geheimnisvolles, undurchsichtiges Deutschland. (7.8.1932)

Haltung Frankreichs zu den Entwicklungen in Deutschland

In den französischen Zeitungen, sowohl denen von Paris wie auch in den Provinzblättern, wie ›Eclaireur de Nice‹, ›Petit Marseillais‹, steht die deutsche Innenpolitik, das Duell Schleicher-Hitler, im Mittelpunkt ihres Nachrichtendienstes; zwei, drei Spalten jedesmal nur über Hitler, Papen, Schleicher. Die französische Politik und französischen Politiker treten demgegenüber ganz zurück.

Der Durchschnittsfranzose, le Français moyen, wird heute über deutsche Innenpolitik ausführlicher und farbiger informiert als über seine eigene. Die Franzosen haben offenbar ein Gefühl, als ob sich in ihrer nächsten Nachbarschaft ein Vulkan aufgetan hätte, dessen Ausbruch jeden Augenblick ihre Felder und Städte verwüsten könnte und dessen kleinste Regungen sie daher mit Staunen und Angst verfolgen. Ein Naturereignis, dem sie fast hilflos gegenüberstehen. Deutschland ist heute wieder (leider!) wie im Kriege der große internationale Star, der in jeder Zeitung, in jedem Kino die Massen fasziniert aus einer Mischung von Furcht, Nichtverstehen, widerwilliger Bewunderung, in die sich auch nicht wenig Schadenfreude mischt; die große tragische, unheimliche, gefährliche Abenteurerfigur, die sogar Rußland auf der internationalen Bühne an die Wand gespielt hat. Etwa die Rolle, die Frankreich während der Dreyfus-Affäre spielte. Aller Augen sind auf sie gerichtet in banger Erwartung dessen, was kommen wird.

Trübe Elemente wie das Nacktbaden (›le nudisme‹), die Animierkneipen mit hübschen Jungens statt Mädchen, die Umwertung der moralischen Werte bei der deutschen Jugend spielen in dem fast krankhaften Interesse für Deutschland eine Rolle. Und, wie gesagt, auch die letzte Zuflucht des Verängstigten und Machtlosen, die Schadenfreude. Man wittert eine neue Welt, die für Frankreich noch unmittelbarere Gefahren heraufbeschwören könnte als die bolschewistische, und hofft dunkel, daß sie vielleicht doch noch vor ihrer Geburt im Mutterleib zugrunde gehen wird.

Die Rolle, die in der französischen Phantasie vor und gleich nach dem Kriege Rußland spielte, ist heute auf Deutschland übergegangen. Der Franzose hat sich von der Bühne ins Parkett begeben, von wo aus er das deutsche Drama mit angsterfüllter Spannung verfolgt. Er empfindet die Ohnmacht des Zuschauers vor einer antiken, etwas zu blutrünstigen, etwas widerlichen Tragödie, die ihn zugleich abstößt und anzieht. Frage: Was ließe sich für Deutschland politisch aus dieser Situation gewinnen?

Deutsche Tonfilme in deutscher Sprache, wie ›Mädchen in Uniform‹ und ›Emil und die Detektive‹, laufen hier schon seit Wochen täglich vor ausverkauften Häusern. ›Mädchen in Uniform‹, wie ich meine, schon neunzehn Wochen! (26.8.1932)

Über die Manet-Gedächtnisausstellung

Nachmittags in der großen Manet-Gedächtnisausstellung im Pavillon de l'Orangerie in den Tuilerien. Dominierender Eindruck der der Sauberkeit dieser Kunst, die ausschließlich fast mit einer naiven Ehrlichkeit nur einem Gott, dem der reinen Farbe, dient. Man kommt sich wie gebadet vor; als ob man aus dem Schmutz des Alltags auf irgendeine Höhe, wo die Luft rein und der Himmel klar ist, emporgezaubert worden sei. Damit sind aber auch die Grenzen abgesteckt, die Grenzen jedes Puritanertums, hier vernebelt durch den Charme Pariser Geistigkeit und Erotik. Das zarte Licht der Île-de-France versilbert dieses Puritanertum, leiht ihm einen falschen Schein von Leichtsinn und Boheme.

Was die Erotik betrifft, so wirken diese Akte und Frauengesichter auf uns Heutige merkwürdig grob und undifferenziert. Es würde uns schwer, uns in eine dieser Manetschen Frauen zu verlieben. Nur die Luft, die sie durch die Farbe um sich bereiten, riecht nach Liebe; das Parfüm sticht einem in die Nase, die Frau selbst bleibt ziemlich gleichgültig und sozusagen › vertretbarer Gegenstand‹. Die Vergöttlichung dringt nicht bis unter die Haut, sie bleibt in der Oberfläche stecken. Wie anders bei Maillol, dessen Kopie meiner hockenden Figur ich mit Wehmut einen Augenblick im Garten sah. – Lisette! (27.8.1932)

Französische Kleinbürgerlichkeit

In den Wäldern bei St. Cloud viele Ausflügler, meistens en famille, Vater, Mutter und Kind oder Kinder, im Sonntagsstaat auf dem Rasen liegend. Der Gegensatz zu Deutschland ist auffallend. Bei uns tun sich sonntags die jungen Leute zusammen und wandern, spielen, baden, vom bourgeoisen Sonntagsaufputz sieht man selten eine Spur mehr, sondern schöne, kräftige Körper, unbekleidet oder halbbekleidet. Hier herrscht dagegen noch der kleinbürgerliche Stil in Kleidung und Sonntagsvergnügen durchaus vor. (28.8.1932)

Dumme Nazi-Sympathisantin

Wanda Prittwitz, die ich zuletzt vor dreißig Jahren im Salon ihrer Mutter gesehen hatte, saß neben mir. Sie erzählte beglückt, daß alle ihre Verwandten Nazis seien; das Schöne an der ›Bewegung› sei, daß alle diese jungen Leute, ob hoch oder niedrig, sich als Kameraden fühlten; es sei ein wunderbarer Geist der Kameradschaft unter ihnen. Sie selbst sei nicht Nazi, sondern nach wie vor deutschnational, aber allerdings auch Antisemitin; das sei ich doch wohl auch? Ich antwortete: Nein, denn sonst würde ich nicht heute abend hier bei Juden zu Gaste sein. Sie war so doof, daß sie nicht einmal die Spitze fühlte, sondern ruhig weiterschwärmte. Die Rebay, deren Vater im Kriege General war und die bis zum Jahre 1918 in Straßburg gelebt hat, sich als Elsässerin fühlt, hat auch starke Sympathien für die Nazis, macht ihnen allerdings zum Vorwurf, daß sie das Bauhaus in Dessau aufgelöst haben, meinte aber, die ›Bewegung› sei doch darin großartig, daß sie das gewöhnliche Volk dazu erziehe, daß es auch Opfer bringen müsse, während im Kriege nur ›unsere Kreise› Opfer gebracht hätten. Ich sagte, immerhin seien doch auch einige Millionen gewöhnlicher Leute gefallen und einige hunderttausend verhungert; von meinen Bekannten sei niemand verhungert.(1.9.1932)

Neudeutsche Architektur aus Arbeiterbewegung hervorgewachsen

Ich setzte ihm auseinander, daß die neudeutsche Architektur aus der Arbeiterbewegung hervorgewachsen sei, aus dem neuen Lebensstil des deutschen Arbeiters, der viel Wasser (zum Baden), Licht und Blumen verlange. Wenn man sie nicht in diesem Zusammenhang sehe, könne man sie überhaupt nicht verstehen. (13.10.1932)

Staatsidee der Nazis

Im Saarbrücker Abendblatt stand ein Artikel aus einer Pfälzer Nazi-Zeitung abgedruckt, in dem ein gewisser v. Leers die Nazi-Politik gegen die Arbeiter definiert. Sie geht darauf hinaus, aus Deutschland eine wirkliche Heimat für die deutschen Arbeiter zu machen, a land fit for heroes to live in. In Wirklichkeit kann es sich dabei nur um einen neuen Gimpelfang handeln, ein Wiederaufleben des patriarchalisch für seine Arbeiter sorgenden Herrn im Hause, der Arbeiter mehr oder weniger gehätschelt, aber wie ein minderjähriges Kind ohne Selbstbestimmungsrecht. Also nie und nimmer eine ›Links-Politik‹, deren Wesen eben das Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen ist, nicht seine Stallfütterung. Kampf dem ›Marxismus‹ heißt bei Hitler nichts anderes als Kampf dem Selbstbestimmungsrecht des Arbeiters und der persönlichen Freiheit aller, Kampf dem freien Menschen! Der Staat soll ein komfortabler Stall werden, in dem alle gehorsamen Haustiere sich wohl fühlen und sich bei Bedarf artig schlachten lassen. Ich wüßte nicht, welche Konzeption mir entwürdigender und verhaßter sein könnte. (8.3.1933)

Nazis als ressentimentgeladene Kleinbürger

Dem widersprach allerdings, was Keyserling weiter sagte: daß in Deutschland jetzt nur noch der Bauer und der kleine Butiker, der mit Käse oder sauren Gurken handele, etwas gelte. Es sei die Herrschaft des kleinen Mittelstandes, die Diktatur des Ungeistes. Der Geist, der Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller gelte nichts mehr, sei ganz bedeutungslos geworden. Das sei aber gerade, was der Spießer sich immer gewünscht habe, was ihm als der Idealzustand erscheine. Daher seien siebzig Prozent des deutschen Volkes begeistert und stünden geschlossen hinter Hitler. Dieses Regime werde deshalb bleiben. Er, Keyserling, habe zum ersten Mal seit drei Tagen, das heißt, seitdem er in Paris sei, wieder ruhig schlafen können. (23.5.1933)

Misshandlungen durch Nazis

Nach dem Frühstück zu Pierre Viénots, wo eine kleine Gesellschaft deutscher Flüchtlinge: Annette Kolb, Hilferding, Kracauer (an dessen monströse Häßlichkeit ich mich nicht gewöhnen kann), ein junger Schriftsteller Helmer, der ganz plötzlich hat fliehen müssen und noch ganz verstört aussieht. Dieser und Hilferding nach den Erzählungen von Sollmann schilderten die eiskalte Methodik der Nazi-Mißhandlungen; die Arbeiter und Intellektuellen, die sie in die Finger bekämen, würden ganz individuell und wie nach einer jedem vorgeschriebenen Kur mißhandelt, tage- und wochenlang, täglich etwa dreimal, morgens, mittags und abends, geprügelt und geistig gequält. Helmer sagte, was die Opfer am meisten herunterbringe, sei, daß man sie zwinge, bei den Mißhandlungen andrer dabeizusein und zuzusehen. Man bringe sie dadurch zum vollkommenen Zusammenbruch.

Hilferding schilderte die viehischen Mißhandlungen, denen Sollmann unterworfen worden sei. Offenbar spielt Sadismus dabei eine wesentliche Rolle; ein hysterischer Genuß an Blut und Leiden, ein krankhaftes Machtgefühl beim Quälen, eine dekadente Grausamkeit, wie sie immer wieder in der Geschichte bei nervenschwach gewordenen Völkern durchbricht, ein letztes Sich-Aufkitzeln der Impotenz, die kranke Seele des Lustmörders (Kürten, Jack the Ripper), die plötzlich in Hunderttausenden von Menschen tätig wird. (24.5.1933)

Charakteristik

Nachmittags bei Guy de Pourtalès in seinem Studio in Passy. Großes, helles Atelier, alte Möbel, Ostasiatisches, viele Bücher in hohen Regalen, was man eine ›kultivierte Umgebung› nennt, ohne viel Originalität. So etwa wie seine Bücher. (16.6.1933)

Gottfried Benn

Nachmittags bei Frau von Porada, die eben aus Berlin zurückgekehrt ist. Sie hat dort Gottfried Benn gesprochen, der ein fanatischer Nazi geworden ist und behauptet, die Nazi-›Revolution› sei ein geschichtliches Ereignis ersten Ranges, eine totale Neugeburt des deutschen Volkes, die Rettung Europas, das alles mit allerlei Metaphysik durchmischt. (10.7.1933)

Haushaltsauflösung (Weimar)

Heute wird meine arme Hauseinrichtung in Weimar versteigert. Ende der Hauptepoche meines Lebens und eines mit großer Liebe aufgebauten Heims. (20.7.1935)

Brüning über Hitler, Göring, Goebbels

Hitler sei feige und das Gegenteil eines ›Führers‹, unentschlossen, schwankend, leicht beeinflußbar, so daß er, je nachdem, wen er zuletzt gesprochen habe, immerfort umfiele; aber bauernschlau, gerissen und, wie nur schwache Menschen, grausam. Mörder seien immer schwache Menschen. Hitler mache darin keine Ausnahme. In der Reichskanzlei habe er natürlich in Bismarcks Schlafzimmer schlafen wollen. Aber vor diesem Schlafzimmer seien ihm noch elf weitere Zimmer reserviert. Im ersten schlafe sein Adjutant Brückner, die zehn andren seien von seiner persönlichen Leibgarde besetzt, große stramme Jungens, die keinen durchließen. Trotzdem wage Hitler sich nachts nicht weiter als bis ins dritte Zimmer. Er habe nachts auch schreckliche Angstzustände. Dann schreie er nach Brückner. Dieser gehe aber gelegentlich hinüber in den ›Kaiserhof‹ ein Glas Pilsener trinken. Dann brülle Hitler nach ihm, schnauze die Leibgarde-Leute an, wo Brückner sei? Warum sie ihn fortgelassen hätten?

Einmal sei deshalb ein Mann von der Leibwache zu Brückner in den ›Kaiserhof‹ hinübergegangen und habe ihn holen wollen. Brückner habe sich aber nicht stören lassen, sondern dem Mann nur gesagt: »Mensch, hast du denn noch nicht gemerkt, daß der Führer verrückt ist?« Die Ermordung mit ihm befreundeter Personen lasse er sich immer ›abringen‹. Er wühle dann in seinem Haar wie ein Wagnerscher Bühnenheld, stelle sich verzweifelt, ›das kann ich doch nicht zulassen‹, und ›erlaube‹ dann, was er bereits vor acht Tagen sich vorgenommen hatte. Ich sagte: »Richard III.« Aber Brüning meinte: »Viel schlimmer«, weil das Theatralische, sentimental Romantische, ›Richard Wagnersche‹ dazukomme.

Göring sei ein Massenmörder, brutal, blutrünstig, aber nur, wenn er eine Morphiumspritze genommen habe. Sonst sei er eher weich und ziemlich vernünftig.

Goebbels schätzt Brüning geistig sehr hoch. Er sei von einer diabolischen Klugheit. Seine Rednergabe sei ganz außerordentlich; turmhoch der von Hitler überlegen. In der Tragödie vom 30. Juni habe er eine dämonische Rolle gespielt. Er habe die telegraphischen Gespräche Görings mit Hitler abgehört, in denen Göring Hitler zur ›Exekution‹ Röhms und seiner Freunde aufreizte. Als er gemerkt habe, daß die Sache ernst werde und er selbst gefährdet sei, habe er sich schnell entschlossen in ein Flugzeug gesetzt, Hitler aufgesucht, Göring in seinen Schilderungen des ›Komplotts‹ übertrumpft und dann mit Hitler zusammen das Blutbad in München geleitet. Erst nachträglich, nachdem Röhm und Heines schon erschossen waren, sei ein ermordeter nackter Junge in ihre Zimmer geschafft worden. (Wahrscheinlich Goebbelsscher Propagandatrick.) Er, Brüning, sei aber nicht von Goebbels, dem er einmal das Leben gerettet habe, sondern von Göring und Hitler auf die Liste der ›Umzulegenden‹ gesetzt worden.

Brünings Klagen

(…) Ihm, Brüning, sei es sehr fraglich, ob die katholische Kirche die Kraft aufbringen werde, die katholische Jugend moralisch wieder aufzubauen. Ein allgemeiner Skeptizismus gegen alles und jeden sei eingerissen, sehr ähnlich wie gegen Ende des Römischen Reiches, vor Diokletian. Die Ähnlichkeit zwischen den Zuständen damals und heute sei überraschend. Die Entsittlichung der Jugend in den Arbeitslagern habe erschreckende Dimensionen angenommen. Die Mädchen zwischen fünfzehn und sechzehn Jahren, die dort geschwängert würden, zählten nach Hunderten und Tausenden. Die jungen Leute würden geradezu systematisch pervertiert. Wie solle man eine solche Jugend moralisch wieder aufbauen? Alles in ihr zerbröckele. Nirgends sei ein Halt. Theorien und Predigten hülfen da nichts; nur große Menschen könnten da einen Wandel schaffen, einen neuen Idealismus erwecken, Menschen, die die Überzeugung erweckten, daß sie ihr Leben für ihre Ideen einsetzten. Die beiden Kirchen seien zu sehr bürokratisiert, der Pfarrer sei ein Beamter mit auskömmlichem Gehalt, Pension usw. geworden; solche Leute hätten keine Überzeugungskraft. Vielleicht werde ihre Verfolgung, indem sie viele Pfarrer zu äußerster Armut und Not reduziere, ein Wiedererwachen bringen. Aber die neuheidnischen Ideen machten nicht nur in Deutschland, sondern auch in England und Holland Fortschritte. Die Tochter von Lord Redesdale sei aus Deutschland begeistert von diesen Ideen zurückgekehrt. Sie habe die Sonnwendfeier bei Hermann Göring mitgemacht und die ganze Nacht mitgefeiert. (22.8.1935)

Weimarer Haus verkauft

Mein liebes Haus in Weimar heute verkauft. Wie viele Erinnerungen, wieviel von meinem Leben ist mir damit verlorengegangen. (6.7.1936)

Die elende „schwarze Kleidung“

Abends in der Comédie-Française, die ich zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder besuchte. (…) Das Publikum sehr bourgeois. Alle Frauen, bis auf ganz wenige, ganz in Schwarz, zum Teil elegant, aber alle diese schwarzgekleideten Frauen erweckten den Eindruck einer Trauerversammlung; man suchte unwillkürlich jemanden, dem man sein Beileid aussprechen könnte. (13.1.1937)