Die Tänzerin Eugenie Eduardowa (1882-1960)
im Jahr 1913, zur Zeit der ersten Tagebücher.
Aus: Hartmut Binder "Kafka in neuer Sicht".
Schnuppert man in der Sekundärliteratur zu Franz Kafka, könnte man
ganz mutlos werden: offenbar ist die Lektüre Kafkas ohne jahrelanges Studium der Originaltexte, der Forschungsliteratur und
(dem Joker jeden Bearbeiters) "ungedruckter Dokumente" naiv, sprich:
unmöglich.
Hartmut Binders 677-Seiten-Text "Kafka in neuer Sicht" (welch ein origineller Titel - vor allem, wenn das Buch schon einige Jährchen auf dem Buckel hat (interessant und anregend ist es aber immer noch)) beispielsweise macht in seiner zehn Seiten langen Einleitung erstmal reinen Tisch mit der Konkurrenzforschung und wird auch sonst im Text nicht müde, auf deren Fehler, Verdrehungen, mangelhafte Ansätze usw usf hinzuweisen.
Wer um alles in der Welt sollte allerdings in der Lage sein, über dieses Gezänk urteilen zu können? Immerhin gibt es aber auch Aussagen wie die von Michael Kerksiek ("Kafka-Rezeption in der Krise"):
Das Ergebnis der bisherigen Kafka-Rezeption sind »inzwischen rund
11000 Experten-Meinungen, die sich den Anspruch der Kompetenz streitig machen. Zwar hat sich dabei die Kenntnis über Kafka (Geburt, Augenfarbe, Geschlechtsreife, Gewicht, Krankheit und Tod) vermehrt, »aber dem Kern seines Werkes sind wir dadurch nicht unbedingt näher gekommen.
Man sollte also pragmatisch sein: bevor man es auf sich nimmt, tausende von Seiten über Kafka zu lesen, sollte man lieber Kafka selber lesen. Der Wunsch nach Sekundärliteratur kommt dann von alleine. Das Packende an Kafka sind vielleicht gerade die unzähligen Deutungsmöglichkeiten, lassen wir uns davon vom Genuss der Texte also nicht abhalten. Vor dem Originaltext steht dann jeder allein und selbstverantwortlich vor der Frage: bringt mir diese Lektüre etwas oder langweilt sie mich?
Die Tagebücher Kafkas von 1909-1912 (Fischer TB 12449) habe ich im April 2001 gelesen und als teils amüsant, teils langweilend, teils packend, teils unverständlich erfahren. Aber jedenfalls als bereichernde Lektüre, die ich extensiv fortgesetzt habe (siehe dazu mein "Lektüretagebuch" ab 2002).
Hier einige Passagen, ausgewählt ohne die Absicht, "typisches" zu zitieren.
Beurteilt man eine Person danach, ob man sie spasseshalber bei der Nase packen könnte...?
...die große Nase – die sich wie aus einer Vertiefung erhebt –, mit der man keine Späße machen kann, wie die Härte der Spitze prüfen oder sie am Nasenrücken leicht fassen und hin und her ziehn wobei man sagt "jetzt aber kommst Du mit",...(S.12)
Empfindet man manchmal eine ähnliche Freßgier?
30. IX (Oktober 1911) Dieses Verlangen, das ich fast immer habe, wenn ich einmal meinen Magen gesund fühle, Vorstellungen von schrecklichen Wagnissen mit Speisen in mir zu häufen. Besonders vor Selchereien befriedige ich dieses Verlangen. Sehe ich eine Wurst, die ein Zettel als eine alte harte Hauswurst anzeigt, beiße ich in meiner Einbildung mit ganzem Gebiß hinein und schlucke rasch, regelmäßig und rücksichtlos wie eine Maschine. Die Verzweiflung, welche diese Tat selbst in der Vorstellung zur sofortigen Folge hat, steigert meine Eile. Die langen Schwarten von Rippenfleisch stoße ich ungebissen in den Mund und ziehe sie dann von hinten den Magen und die Därme durchreißend wieder heraus. Schmutzige Greißlerläden esse ich vollständig leer. Fülle mich mit Häringen, Gurken und allen schlechten alten scharfen Speisen an. Bonbons werden aus ihren Blechtöpfen wie Hagel in mich geschüttet. Ich genieße dadurch nicht nur meinen gesunden Zustand, sondern auch ein Leiden, das ohne Schmerzen ist und gleich vorbeigehn kann. (S.164)
Zur Erläuterung: Selchereien sind Metzgereien, Greißlerläden kleine Tante-Emma-Läden.
Hat man manchmal ähnliche "freudige Vorstellungen"?
2 XI 11 Heute früh zum erstenmal seit langer Zeit wieder die Freude an der Vorstellung eines in meinem Herzen gedrehten Messers. (S.172)
Diese Passage über den Lärm in der Wohnung ist eine von Kafkas frühen Veröffentlichungen (1912):
Ich will schreiben mit einem ständigen Zittern auf der Stirn. Ich sitze in meinem Zimmer im Hauptquartier des Lärms der ganzen Wohnung. Alle Türen höre ich schlagen, durch ihren Lärm bleiben mir nur die Schritte der zwischen ihnen Laufenden erspart, noch das Zuklappen der Herdtüre in der Küche höre ich. Der Vater durchbricht die Türen meines Zimmers und zieht im nachschleppenden Schlafrock durch, aus dem Ofen im Nebenzimmer wird die Asche gekratzt, Valli fragt durch das Vorzimmer wie durch eine Pariser Gasse ins Unbestimmte rufend ob denn des Vaters Hut schon geputzt ist, ein Zischen, das mir befreundet sein will, erhebt das Geschrei einer antwortenden Stimme. Die Wohnungstüre wird aufgeklinkt und lärmt wie aus katarrhalischem Hals, öffnet sich dann weiterhin mit dem kurzen Singen einer Frauenstimme und schließt sich mit einem dumpfen männlichen Ruck, der sich am rücksichtslosesten anhört. Der Vater ist weg, jetzt beginnt der zartere zerstreutere hoffnungslosere Lärm, von den Stimmen der zwei Kanarienvögel angeführt. Schon früher dachte ich daran, bei den Kanarienvögeln fällt es mir aber von neuem ein, ob ich nicht die Türe bis zu einer kleinen Spalte öffnen, schlangengleich ins Nebenzimmer kriechen und so auf dem Boden meine Schwestern und ihr Fräulein um Ruhe bitten sollte. (S.176)
Kann man sich Kafka vorstellen, wie er in den Himmel kommt? Drei Frauen stehen vor seiner Zimmertür, während er seinen Mittagsschlaf halten will, und loben ihn:
Nun liege ich aber hier auf dem Kanapee, mit einem Fußtritt aus der Welt geworfen, passe auf den Schlaf auf der nicht kommen will und wenn er kommt mich nur streifen wird, die Gelenke habe ich wund vor Müdigkeit, mein dürrer Körper zittert sich zugrunde in Aufregungen, derer er sich nicht klar bewußt werden darf, im Kopf zuckt es zum Erstaunen. Und da stehen die 3 Frauen vor meiner Tür, eine lobt mich wie ich war, zwei wie ich bin. Die Köchin sagt, ich werde gleich, sie meint ohne jeden Umweg in den Himmel kommen. So wird es sein. (S.203)
Mir haben Personencharakterisierungen bei Kafka immer sehr gut gefallen, z.B. hier die eines bekannten Sammlers. Interessant, was Pachinger alles zwei i.P. fremden Männern aus seinem Intimleben erzählt, Pachinger also:
...sein Leben besteht aus Sammeln und Koitieren.
...
Er hat schon viel geschrieben, besonders über "Mutterschaft in der Kunst" den schwangeren Körper hält er für den schönsten, er ist ihm auch am angenehmsten zu vögeln.
...
Über Weiber: Die Erzählungen über seine Potenz machen einem Gedanken darüber, wie er wohl sein großes Glied langsam in die Frauen stopft. Sein Kunststück in frühern Zeiten war, Frauen so zu ermüden, daß sie nicht mehr konnten. Dann waren sie ohne Seele, Tiere. Ja diese Ergebenheit kann ich mir vorstellen. Er liebt Rubensweiber wie er sagt, meint aber solche mit großen oben gebauchten unten flachen, sackartig hängenden Brüsten. Er erklärt diese Vorliebe damit, daß seine erste Liebe eine solche Frau, eine Freundin seiner Mutter und Mutter eines Schulkollegen (29. XI (1911)) war, die ihn mit 15 Jahren verführte. Er war besser in Sprachen, sein Kollege in Mathematik, so lernten sie mit einander in der Wohnung des Kollegen, da geschah es. Er zeigt Photographien seiner Lieblinge. Sein gegenwärtiger ist eine ältere Frau, die auf einem Sessel mit gespreizten Beinen, gehobenen Armen, von Fett faltigem Gesicht sitzt und so ihre Fleischmassen zeigt. Auf einem Bilde, das sie im Bett darstellt, sind die Brüste, so wie sie ausgebreitet und geschwollen förmlich geronnen aussehn, und der zum Nabel gehobene Bauch gleichwertige Berge. Ein anderer Liebling ist jung, sein Bild ist nur ein Bild der aus der aufgeknöpften Blouse gezogenen langen Brüste und eines abseits schauenden in einem schönen Mund zugespitzten Gesichtes. In Braila hatte er damals großen Zulauf der dicken, viel vertragenden, von ihren Männern ausgehungerten Kaufmannsfrauen, die dort zur Sommerfrische lebten. Sehr ergiebiger Fasching in München. Nach dem Meldeamt kommen während des Faschings über 6000 Frauen ohne Begleitung nach München offenbar nur um sich koitieren zu lassen. Es sind Verheirathete, Mädchen, Witwen aus ganz Bayern, aber auch aus den angrenzenden Ländern. (S.211-215)
Kafka hat da eher andere Probleme, zum Beispiel, Mädchen zu verstehen, denn es ist...
...keine Seltenheit, daß sie bei einer unerwarteten Begegnung mit einer Trauermiene uns entgegenkommen, die Hand flach in die unsere legen und mit langsamen Bewegungen uns wie einen Geschäftsfreund zum Eintritt in die Wohnung laden. Schwer gehn sie im Nebenzimmer auf und ab, wie wir aber auch dort eindringen aus Lüsternheit und Trotz hocken sie in einer Fensternische und lesen die Zeitung ohne einen Blick für uns zu haben. (S.217)
Zum Schluss: wie geht es bei einem jüdischen Beschneidungsfest in Russland zu?
Die Beschneidung erfolgt meist in Gegenwart von oft über 100 Verwandten und Freunden. Der angesehenste der Anwesenden darf das Kind tragen. Der Beschneider, der sein Amt ohne Bezahlung ausübt, ist meist ein Säufer, da er beschäftigt, wie er ist, an den verschiedenen Festessen sich nicht beteiligen kann und daher nur etwas Schnaps herunterschüttet. Alle diese Beschneider haben deshalb rote Nasen und riechen aus dem Mund. Es ist daher auch nicht appetitlich, wenn sie, nachdem der Schnitt ausgeführt ist, mit diesem Mund das blutige Glied aussaugen wie es vorgeschrieben ist. Das Glied wird dann mit Holzmehl bedeckt und ist in 3 Tagen beiläufig heil. (S.246)
Die Zitate sind dem wunderbaren
"Kafka-Projekt" von Mauro Nervi entnommen, der die kritische Edition der Kafka-Texte im Web verfügbar gemacht hat, denn
(Zitat):
A great problem with the Kafka texts on the net is that they all originate from the Brod edition; this procedure should now be regarded as obsolete as a critical edition (by Jürgen Born et al., Fischer Verlag, Frankfurt a. M., since 1982) is available. This is why I decided to collect on this site all Kafka texts in the original form according to the manuscripts, and their translations from the critical edition - with all variants.
Über den folgenden Link kommt man direkt zu den
Tagebüchern, die Seitenzahlen sind dagegen aus der Fischer-TB-Ausgabe.
Einen knappen aber anregenden Einstieg in Leben und Werk Kafkas bietet
das bei Zweitausendeins erhältliche Buch
"Kafka. Kurz und knapp" von David Zane Mairowitz und dem Zeichner Robert Crumb, dem diese Zeichnung entnommen ist.
Klaus Wagenbachs Bildband "Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben" nehme ich auch immer gerne wieder in die Hand: es ist einfach ein schönes und mit Liebe gemachtes Buch.
Weitere Literatur zu Kafka ist im Lektüretagebuch erwähnt.