Verlag Klaus Wagenbach 2004, Band 71 der Reihe KLEINE KULTURWISSENSCHAFTLICHE BIBLIOTHEK
Ein von der ersten bis zur letzten Seite hochinteressant und spannend zu lesendes Buch, in welchem Walter Grasskamp seiner Aufgabe, dem lange Zeit "bekanntesten unbekannten Kunstwerk des 20. Jahrhunderts" die differenzierten Betrachtungsmethoden zukommen zu lassen, die in der Kunstgeschichte traditionell nur einem als "Kunstwerk" wahrgenommenen Gegenstand gegönnt werden, glänzend nachkommt.
Selten habe ich ein kunsthistorisches oder kunstwissenschaftliches Buch gelesen, welches gleichzeitig so packend und erhellend geschrieben ist und sich dennoch strikt an akademische Regeln hält. Was wiederum Hoffnung darauf macht, dass sich die unselige Trennung in Hoch- und populäre Kultur endlich doch einmal abschleift und neben Plattencovern auch Comics und andere Produkte einer intensiveren Betrachtung unterzogen werden, wie sie es verdienen. Zu optimistisch darf man natürlich auch nicht sein, legen doch noch immer viel zu viele Menschen Wert auf zur Schau getretene Logos irgendwelcher "Designer", da sie keinen eigenen Geschmack haben, und die gleichzeitig als Preisschild ("guck, ich bin teuer") funktionierenden Namenszüge irgendwelcher Klamotten stolz auf der Brust vor sich hertragen und sich damit "in" fühlen.
Ähnlich erging es lange den Kunsthistorikern: Sie durften nur über anerkannte Kunstwerke arbeiten. Egal wie schlecht ein Gegenstand beurteilt wurde: Hatte er es (zum Beispiel über Vitamin B) in den nobilitierenden Umkreis der Gallerien oder Museen geschafft, stand sein Status als Kunstwerk ausser Frage, auch wenn kein Ausstellungsbesucher mehr als einige Sekunden kopfschüttelnd draufschaute und dann weiterging. Grasskamp spricht hier von "charismatischen und nicht-charismatischen Distributionswegen" für Kunstwerke.
Das Albumcover von Sgt. Pepper stammt - wie inzwischen allgemein bekannt sein sollte - von Peter Blake, einem der wichtigsten britischen Künstler des 20. Jahrhunderts. Wie jedes Kunstwerk hat es Vorläufer im Werk von Blake selber, hat es Bezug auf eine Bildtradition, die Grasskamp bis zu Raffaels "Schule von Athen" zurückverfolgt, hat es selber Schule gemacht (bis hin zu Parodien) und eine inzwischen Jahrzehnte währende Wirkungsgeschichte. Dass es erst lange nach seinem Erscheinen als Kunstwerk in das Oeuvre von Blake eingegliedert wurde, auch dieses kulturhistorische und wissenschaftsgeschichtliche Phänomen wird von Grasskamp hochinteressant dargestellt. Alles natürlich etwas kurz (das Buch hat schließlich nur 134 Seiten), aber Dank der Anmerkungen und der Literaturangaben ohne Probleme zu vertiefen.
Oben rechts neben dem Buchcover noch eine kleine Vorstudie von Peter Blake zum geplanten Cover der LP.
In Grasskamps Buch habe ich eine Unmenge an Stellen zum Exzerpieren angestrichen, hier eine kleine Auswahl davon.
Sgt. Pepper als Gesamtkunstwerk:
Da das Erscheinungsbild der Schallplatte ein vergleichbares Niveau aufwies wie das musikalische Konzept und die literarische Qualität der Songtexte, wurde zum ersten mal in der Geschichte der Popmusik der Gedanke eines Gesamtkunstwerkes greifbar.[S.8]
Vorhergehende vergleichbare Arbeit von Peter Blake:
Got a Girl (1960/61): "weiße amerikanische Rock- und Schlagersänger der fünfziger Jahre zu einem fotografischen Heldenfries vereint" [10] Arbeitsbedingungen:
Sie unterschieden sich gravierend von der Atelierautonomie, die er als Künstler ansonsten genoß. Komplexe Teamarbeit.[11] Beteiligt zur Hauptsache Peter Blake, Paul McCartney, John Lennon, Joan Haworth (Peter Blakes damalige Frau), Michael Cooper (Fotograf), Robert Fraser (Galerist), mehrere Assistenten.[12] Bei der ungleichen Teamarbeit ist eine professionelle Arbeitsteilung bemerkenswert.[15]
Anlaß des Albums (Kapitel "Image"):
Die Beatles fühlten sich als "Gefangene einer Rolle, die der Erfolg ihnen eingehandelt hatte. ... Die dem Publikum bereits gelieferten Innovationen werden als dessen Erwartungen auf die Musiker zurückprojiziert und locken diese in die Falle einer kommerziell einträglichen Routine. Die erklärte Absicht, sich dieser Routine ncht zu beugen, ist der vielleicht wichtigste Aspekt im künstlerischen Konzept für das Sgt.Pepper-Album."[17] Differenzen zwischen Selbstbild und Erscheinungsbild, zwischen Biografie und Marktauftritt.[18]
Reichtum als Grundlage für Freiheit und künstlerische Unabhängigkeit:
Die Beatles überschritten den engen Horizont des Schlagermarktes ... rasch, und zwar in dem Maße, wie sie ihren beispiellosen kommerziellen Erfolg als Grundlage für eine wachsende künstlerische Unabhängigkeit verstanden - das ist es, was diese Gruppe kulturhistorisch so herausragend macht. Im Zuge ihres Markterfolges fand ihre schon früh erkennbare Experimentierlust die Bedingungen, die echte Experimente überhaupt erst möglich machten. Diese Freiheit hatte ihre materielle Grundlage nicht nur in dem individuellen Reichtum, der die Bandmitglieder bald auch geistig unabhängiger machte, sondern auch in der hohen Autonomie der Produktionsbedingungen.[19]
Mit dieser Parallelisierung von kommerziellem Erfolg und künstlerischer Unabhängigkeit haben die Beatles nicht nur des Spielraum des Interpreten in der Popmusik enorm erweitert, sondern auch das Avantgarde-Klischee entkräftet, demzufolge künstlerische Unabhängigkeit und radikale Innovationen nur um der Preis des öffentlichen und ökonomischen Mißerfolgs zu haben wären - die Gründungslegende der Modernen Kunst, ihr van-Gogh-Mythos.[20] Kommerzieller Erfolg muß nicht zwangsläufig intellektuell und künstlerisch kompromittierend sein.[20]
Die Darstellung der Beatles auf dem Cover:
"Als Bild gewordener Ausdruck des Images, gegen das die Beatles sich mit der Sgt.Pepper-Alternative absetzten sind auf dem Plattencover Wachsfiguren zu sehen(...). Man kann sich vielleicht keine bessere Illustartion dessen vorstellen, was ein Image ist, als diese Wachsfiguren(...)."[21]
Im Kontrast zwischen den eher betreten wirkenden Wachsfiguren mit ihrem kalkuliert konservativen Erscheinungsbild und dem bunten, lebendigen Gegenbild der Sgt.Pepper's Lonely Hearts Club Band wird der damals aktuelle künstlerische Konflikt der Beatles anschaulich, und es erscheint plausibel, daß es Peter Blakes Idee war, die Wachsfiguren anzufordern, denn von einer solchen künstlerischen Sensibilität hatte sein Frühwerk bereits reichlich Zeugnis geliefert.[23]
Kapitel "Bildungshintergrund"
Auf dem Cover posieren die Beatles auch als Fans: "Die Beatles stehen - in einer singulären Momentaufnahme der Popkultur - zwischen ihren Fans, die das Plattencover betrachten, und als Fans vor ihren eigenen Idolen, die ihnen den Rücken stärken.[25f]
Wer ist dargestellt?
Seit 1987 erlaubt es das Booklet der CD-Fassung, mithilfe einer durchnummerierten Zeichnung alle Versammelten genau zu identifizieren. Eine solche Zeichnung lag der Schallplatte nie bei, wäre aber bei ihrem Erscheinen auch nicht so nötig gewesen. Denn damals konnte man eine ganze Reihe von Personen auf Anhieb identifizieren.[27]
Die Beatles bekennen sich zu ihren inoffiziellen Lehrern. Und die sehen anders aus als auf Raffaels Schule von Athen. An dieses Bild denkt man ja zunächst, wenn es um die Frage nach kunsthistorischen Vorläufern für dieses Cover geht; denn in beiden Bildern steht die Darstellung eines Kanons im Mittelpunkt.[29]
Das Cover versammelt nicht nur einen Gegenkanon, sondern kündigt demonstrativ dessen wichtigste Voraussetzung, den Ausschluß des Minderwertigen, Trivialen, Populären, Unterhaltsamen, Komödiantischen und Verworfenen, indem es auch die Protagonisten der Kulturindustrie salonfähig macht. Es ist eine Schautafel, auf der sich das als grundlegend geltende Gesetz der Popkultur illustriert findet, nämlich die Nivellierung von Hoch- und Massenkultur, von Kunst und Kommerz, von high and low. Als poetische Unabhängigkeitserklärung vom bürgerlichen Bildungskanon ist es so markant wie kaum ein anderes Werk der Pop Art, als deren Schlüsselwerk es daher gelten kann.
Weil das Cover kulturelle Hierarchien und bis dahin streng geschiedene Gattungen nivelliert, ist es mehr als nur ein Musterbeispiel einer Kanonrevision, nämlich zugleich auch das Resultat der vorgängigen Kanonzersetzung durch die Kulturindustrie. (...) So vollstreckte die Kulturindustrie die Träume der antibürgerlichen Avantgarde radikaler, als diese sie überhaupt zu träumen gewagt hatten(...).[31]
Anwesenheit von Bob Dylan:
Er hatte den Beatles und eigentlich allen anderen zum ersten Mal gezeigt, daß man auch unter den Voraussetzungen der Musikindustrie zu einer hohen künstlerischen Autonomie gelangen konnte.[35]
Kapitel "Parodie"
Es macht einen erheblichen Reiz des Covers von Sgt.Pepper aus, dass Kanonrevision und Imagewechsel den sentimentalen Charme eines Klassentreffens und zugleich den offensiven Reiz einer Bandenbildung haben.
Der sentimentale Aspekt macht das Cover anfällig für Parodien.
Frank Zappa entlarvt mit seiner Parodie das Cover der Beatles als Idylle.[37]
Wie in jeder Parodie steckt auch in dieser ein parasitäres Element.[43]
Mit diesem Cover änderten die Beatles ihre Corporate Identity.[45]
Warum Uniformen?
Man könnte darin eine Reaktion auf den atemberaubend steilen sozialen Aufstieg der Beatles verstehen, der schließlich sogar zur Auszeichnung mit einem hohen britischen Orden durch die Queen persönlich geführt hatte.
Der Imagewechsel der Beatles gibt auch dem Blumenbeet einen Sinn, welches hartnäckig als ein frisches Grab interpretiert worden ist. Hier wurde in der Tat etwas zu Grabe getragen.[47]
Kapitel "Vorläufer"
1) Gruppenportäts (von Vereinen, Belegschaften usw)
2) Collagen (Scrap Books = Bücher mit Klebebildern)
3) Porträtmuseen in angelsächsischen Ländern; auch Walhalla
4) Tradition der Freundschaftsbilder (Kirchner, Futuristen, Surrealisten, Max Ernst (der bewußt auf Raffael und dessen Schule von Athen anspielt))
5) Schule von Athen (hier wie dort keine Namen zu lesen)
(Be-)Achtungs-Privileg von Kunstwerken:
Nur das, was als Kunstwerk angesehen wird, kommt in der Regel in den Genuß der differenzierten Betrachtungsmethoden, die in der Geschichte der Kunstbetrachtung entwickelt und erprobt worden sind und die Bilder zur Sprache bringen können. Nur das, was als oder wie ein Kunstwerk angesehen wird, genießt das Privileg einer hochorganisierten Wahrnehmung und Einordnung, statt wie die meisten Produkte und Bilder des Alltags, trotz intensiven Gebrauchs letztlich unbeachtet zu bleiben und nach Gebrauch vergessen und zerstört zu werden. Die Fragen, wie etwas gemacht worden ist, warum so und nicht anders, wann und von wem, wofür oder wogegen, diese Fragen bringen auch Dinge und Bilder zu sprechen, deren Bedeutung sonst zwar erlebt, aber nicht erkannt worden wäre. Dazu gehört es, daß andere, auch bereits als Kunstwerke anerkannte Bilder hinzugezogen werden und eine gemeinsame Spezialgeschichte konstituieren, die das analysierte Werk natürlich stets auch nobilitiert [S.115/116].
Wer sich [...] längere Zeit sowohl mit der Kunst wie mit der Bilderwelt der Massenmedien befaßt hat, macht eine ziemlich nüchterne Erfahrung, die dem Kunstbegriff ein neues Terrain erschließen könnte: Werbeanzeigen und Zeitungsfotos kann man nach der nötigen Analyse zu Recht als erledigt betrachten, zu den Kunstwerken kehrt man jedoch auch dann als Betrachter zurück, wenn man sie nicht analysieren will oder bereits analysiert hat [S.119].