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Wilhelm Meisters Theatralische Sendung

SECHSTES BUCH

Erstes Kapitel

Unsere drei verunglückten Abenteurer waren noch eine ganze Zeitlang harrend und wartend in der seltsamen Lage geblieben, in der wir sie zu Ende des vorigen Buches gelassen haben. Niemand eilte ihnen zu Hülfe, der Abend drohte hereinzubrechen, Philinens Gleichgültigkeit fing an, in Unruhe überzugehen, Mignon lief hin und wider, und die Ungeduld des Kindes nahm mit jedem Augenblicke zu. Endlich, da ihnen der Wunsch gewährt ward und Menschen sich ihnen näherten, überfiel sie ein neuer Schrecken. Sie hörten ganz deutlich, daß ein Trupp Pferde den Weg heraufkamen, den sie auch zurückgelegt hatten; sie dachten nicht anders, als daß es abermals eine Gesellschaft solcher ungebetenen Gäste sein würde, die diesen Waldplatz besuchten, um Nachlese zu halten. Wie angenehm wurden sie dagegen überrascht, als ihnen zuerst aus den Büschen auf einem Schimmel reitend ein Frauenzimmer zu Gesichte kam, die von einem ältlichen Herrn und einigen Kavalieren begleitet wurde. Reitknechte und Bediente folgten nach.

Philine machte zu dieser Erscheinung große Augen, war eben im Begriff zu rufen und die schöne Amazone um Hülfe anzuflehen, als diese schon erstaunt ihre Augen nach der wunderbaren Gruppe wendete, sogleich ihr Pferd lenkte, herzuritt und stillehielt. Sie erkundigte sich eifrig nach dem Verwundeten, dessen Lage in dem Schoße der leichtfertigen Samariterin ihr höchst sonderbar vorzukommen schien. "Ist es Ihr Mann?" fragt sie Philinen. "Es ist nur ein guter Freund", versetzte diese mit einer Art, die Wilhelmen höchst zuwider war. Er hatte seine Augen auf die sanften, stillen, teilnehmenden Gesichtszüge der Ankommenden geheftet, er glaubte nie etwas Liebenswürdigeres gesehen zu haben. Ein weiter Mannsüberrock, der ihr nicht paßte, verbarg ihm ihre Gestalt. Sie hatte, wie es schien, gegen die Einflüsse der kühlen Abendluft dieses Kleid von einem ihrer Gesellschafter geborgt.

Die Ritter waren indes auch näher gekommen und einige abgestiegen, die Dame tat ein Gleiches und fragte mit menschenfreundlicher Teilnehmung nach allen Umständen des Unfalls, der die Reisenden betroffen hatte, nach den Wunden des hingestreckten Jünglings, worauf sie sich schnell umwandte und mit dem alten Herrn seitwärts nach einigen Wagen ging, welche langsam den Berg heraufkamen und auf dem Waldplatz stillehielten.

Nachdem die junge Dame eine kurze Zeit am Schlage der einen Kutsche gestanden und sich mit den Ankommenden unterhalten hatte, stieg ein Mann von untersetzter Gestalt heraus, den sie zu unserm verwundeten Helden führte. An dem Kästchen, das er in der Hand hatte, und an der ledernen Instrumententasche erkannte man ihn bald für einen Wundarzt. Seine Manieren waren eher rauh als einnehmend, doch seine Hand leicht und seine Hülfe willkommen.

Er sondierte genau, erklärte, es sei keine Gefahr, er wolle den Verwundeten so weit verbinden, daß er in das nächste Dorf gebracht werden könne. Jedermann war besorgt, am tätigsten die junge Dame. "Sehen Sie nur", sagte sie, nachdem sie einige Male hin- und hergegangen war und den alten Herrn wieder herbeiführte, "sehen Sie, wie man ihn zugerichtet hat. Und er leidet doch um unsertwillen!" Der Leidende, der es hörte, verstand nicht, was sie damit meinte. Sie ging wie unruhig hin und wider. Es schien, als könnte sie sich nicht von dem Anblick des Verwundeten losreißen und als fürchtete sie zugleich den Wohlstand zu beleidigen, wenn sie stehenbliebe zu der Zeit, da man ihn, wiewohl mit Mühe, zu entkleiden anfing. Der Chirurgus schnitt eben den linken Ärmel auf, als der alte Herr herbeikam und von der Notwendigkeit, den Weg fortzusetzen, sprach. Wilhelm hatte seine Augen auf sie gerichtet und war von ihren Blicken so eingenommen, daß er kaum fühlte, was mit ihm vorging.

Philine war aufgestanden, um der gnädigen Dame die Hand zu küssen, und es war unserm Freunde innig zuwider, daß ein so unreines Wesen jener edlen Natur sich nahen oder sie gar berühren sollte. Die Dame fragte Philine verschiedenes, das Wilhelm nicht erhorchen konnte, endlich kehrte sie sich zu dem alten Herrn, der immer noch mit: einem ganz trocknen Blick dabeistund, und sagte: "Mein lieber Oheim, darf ich auf Ihre Kosten freigebig sein?" Sie zog sogleich den Überrock aus, und man sah, daß es in der Absicht geschah, um ihn dem Verwundeten und Unbekleideten hinzugeben. Wilhelm, den der heilsame Anblick ihrer Augen bisher festgehalten hatte, war erst, als der Überrock fiel, von ihrer schönen Gestalt überrascht. Sie trat näher zu ihm und reichte ihm den Rock, indem sie ihn sanft über ihn hinlegte. In diesem Augenblicke, da er den Mund öffnen und einige Worte des Dankes hervorbringen wollte, würkte der lebhafte Eindruck ihrer Gegenwart so sonderbar auf seine schon angegriffenen Sinnen, daß es ihm auf einmal vorkam, als sei ihr Haupt mit Strahlen umgeben, die sich nach und nach über ihr ganzes Bild ausbreiteten. Der Chirurgus berührte ihn eben unsanfter, indem er die Kugel, welche steckengeblieben war, traf und sie herauszuziehen Anstalt machte. Die Heilige verschwand vor den Augen des Hinsinkenden, er verlor die Kenntnis sein selbst, und als er wieder zu sich kam, waren Reuter und Wagen, die Schöne samt ihrer Begleitung verschwunden.

Zweites Kapitel

Nachdem unser Freund verbunden und angekleidet war, eilte der Chirurgus weg, zu ebender Zeit, als ein Bedienter, den die Herrschaft nach dem nächsten Dorfe geschickt hatte, mit einer Anzahl Bauern heraufkam. Sie bereiteten eilig aus abgehauenen Ästen und eingeflochtenem Reisig eine Trage, luden den Verwundeten auf und brachten ihn sachte den Berg hinunter.

Der Harfenspieler half ihnen, der gleichfalls wieder gekommen war; die übrigen Leute schleppten Philinens schweren Koffer, sie schlich mit einigen Bündeln nach, und Mignon sprang bald voraus, bald zur Seite durch die Büsche und blickte sehnlich nach seinem kranken Beschützer hinüber. Dieser lag in seinen warmen Überrock gehüllt ruhig auf der Bahre.

Eine elektrische Wärme schien aus der feinen Wolle in seinen Körper überzugehen, ja sogar ihn in die behaglichste Empfindung zu versetzen. Von seiner ersten Jugend an erinnerte er sich keines so angenehmen Eindrucks, als den die schöne Besitzerin des Kleids auf ihn gemacht hatte, er sah noch den Rock von ihren Schultern fallen, die edelste Gestalt mit Strahlen umgeben vor sich stehen, und seine Seele eilte der Verschwundenen in alle Weltgegenden nach.

So kam der Zug vor dem Wirtshause an, wo die übrige Gesellschaft zum größten Teile sich befand und über ihren Verlust voller Verzweiflung war. Die einzige, kleine Stube des Hauses war von Menschen vollgepfropft; einige lagen auf der Streue, andere hatten die Bänke eingenommen, einige hatten sich hinter den Ofen gedruckt, und Frau Melina erwartete in einer schlechten Kammer ängstlich ihre Niederkunft, die der Schrecken und die üble Behandlung zu beschleunigen drohten. Als die neuen Ankömmlinge gleichfalls herein und Platz nehmen wollten, entstand ein allgemeines Murren, man empfing sie mit Spott und Verdruß, denn man erinnerte sich nur leider zu sehr, daß man auf Wilhelms Rat, unter seiner Anführung den gefährlichen Weg unternommen und sich diesem Unfall ausgesetzt hatte.

Jedermann warf nun die Schuld eines so üblen Ausgangs auf ihn, man widersetzte sich an der Türe seinem Eintritt, man verlangte, er solle anderswo unterzukommen suchen, und Philinen sagte man gar, es werde ihr nichts schaden, wenn sie eine Nacht auf der Gasse zubringen müßte.

Es hätte wohl auch so werden können, wenn nicht der Bediente, dem von seiner schönen Herrschaft ernstlich befohlen war, für die Verlassenen zu sorgen, sich in den Streit gemischt und ihn summarisch abgetan hätte.

Er beteurte mit gewaltigem Fluchen und Drohen, daß er sie alle vor die Türe schmeißen wolle, wenn sie nicht zusammenrücken und den Ankommenden Platz machen würden. Auf diese kräftige Anrede bequemte man sich bald; er bereitete Wilhelm ein Lager auf einem Tische, den er in die Ecke schob. Philine ließ ihren Koffer darnebenstellen und setzte sich darauf; jeder druckte sich, so gut er konnte, und der Bediente begab sich weg, um zu sehen, ob er nicht irgendwo ein bequemeres Quartier für das Ehepaar (dafür hielt er die beiden) ausmachen könne. Kaum war er fort, als das Gemurmel wieder laut zu werden und ein Vorwurf dem andern zu folgen anfing. Jeder erzählte, was er verloren, mit Rückblicken auf die Verwegenheit, durch die man so vieles eingebüßt.

Es fehlte nicht an Schadenfreude über die Wunden unsers Freundes, man enthielt sich nicht, mit innerlichem Grimme Philinen zu verhöhnen und ihr die Weise, wie sie ihren Koffer gerettet, zum Verbrechen zu machen. Aus allerlei Anspielungen und Anzüglichkeiten konnte man schließen, sie habe sich gleich nach der Niederlage und Plünderung gefallen lassen, einen Spaziergang mit dem Anführer der Bande in das Gebüsche zu tun, der ihr dagegen ihre Sachen wieder verschafft. Man machte sich über sittsame Gebärden und Weigerungen lustig, wodurch sie den Schnurrbart ins Feuer gesetzt und ihm einen so hohen Preis abzunötigen gewußt. Sie antwortete nichts und klapperte nur mit den großen Schlössern ihres Koffers, um jene, die sich darüber immer mehr ärgerten, recht von seiner Gegenwart zu überzeugen und die Verzweifelung über ihren eignen Schaden zu vermehren.

Drittes Kapitel

Wilhelm, ob er gleich durch den starken Verlust des Blutes bei heftigen Schmerzen schwach und nach der Erscheinung jenes hülfreichen Engels milde und sanft geworden war, konnte sich doch zuletzt des Verdrusses über die harten und ungerechten Reden nicht enthalten, welche bei seinem Stillschweigen von der unzufriedenen Gesellschaft immer erneuert wurden. Endlich fühlte er sich gestärkt genug, um sich aufzurichten und ihnen die Unart vorzustellen, mit der sie ihren Freund und Führer beunruhigten. Er hub sein verbundenes Haupt in die Höhe, und indem er sich mit einiger Mühe stützte, fing er folgendergestalt zu reden an: "Ich vergebe es dem Schmerze, den ein jeder über seinen Verlust empfindet, daß ihr mich in einem Augenblicke beleidigt, wo ihr mich beklagen müßtet, daß ihr mir widersteht und mich von euch stoßet, das erste Mal, da ich Hülfe von euch erwarten könnte. Es ist mir niemals eingefallen, für irgendeinen Dienst oder eine Gefälligkeit Dank von euch zu fordern; verleitet mich nicht, zwingt mein Gemüt nicht, zurückzugehen und zu überdenken, was ich für euch getan habe, es würde diese Berechnung mir nur peinlich werden. Der Zufall hat mich zu euch geführt, Umstände und eine heimliche Neigung haben mich bei euch gehalten, ich habe an euern Arbeiten, an euern Vergnügungen teilgenommen, ich habe euch gern mit meinen wenigen Kenntnissen in der schönen Kunst beigestanden, die ihr übt, in welcher ich euch vollkommen und durch welche ich euch glücklich wünschte. Gebt ihr mir jetzo auf eine bittere Weise den Unfall schuld, der uns betroffen hat, so erinnert ihr euch nicht, daß der erste Vorschlag, diesen Weg zu nehmen, von andern kam und nicht von mir allein, sondern von euch allen gebilligt worden. Wäre unsere Reise glücklich vollbracht, so würde sich ein jeder wegen des guten Einfalls loben, daß er diesen Weg angeraten, daß er ihn vorgezogen; er würde sich unserer Überlegungen und seines ausgeübten Stimmrechtes mit Freuden erinnern; jetzo macht ihr mich allein verantwortlich, ihr zwingt mir eine Schuld auf, die ich willig übernehmen wollte, wenn mich mein inneres Bewußtsein nicht freispräche, ja wenn ich mich nicht auf euch selbst berufen könnte. Habt ihr dagegen etwas zu sagen, so bringt es ordentlich vor, und ich werde mich zu verteidigen wissen; habt ihr nichts Gegründetes anzugeben, so schweigt und quält mich nicht jetzt, da ich ruhebedürftig bin."

Statt aller Antwort fingen die Mädchen ihren Verlust von neuem weinend herzuerzählen an. Melina war ganz außer Fassung, denn er hatte freilich am meisten eingebüßt. Er ging wie rasend in dem engen Raum hin und wider, stieß den Kopf wider die Wand, fluchte und schalt auf das unziemlichste, und da die Hebamme aus der Kammer trat und die Nachricht brachte, daß seine Frau mit einem toten Kinde niedergekommen, erlaubte er sich die heftigsten Ausbrüche, und einstimmig mit ihm heulte, schrie, brummte und lärmte alles durcheinander.

Wilhelm, der zugleich von mitleidiger Teilnehmung an ihrem Zustande und von Verdruß über ihre niedrige und kleine Sinnesart angegriffen war, fühlte sich bis in sein Innerstes bewegt und, ohnerachtet der Schwäche seines Körpers, die ganze Kraft seiner Seele lebendig.

"Fast", rief er aus, "muß ich euch verachten! so beklagenswert ihr auch sein mögt. Kein Unglück berechtigt uns, einen Unschuldigen mit Vorwürfen zu beladen. Habe ich teil an diesem falschen Schritte, so büße ich auch meinen Teil, ich liege verwundet hier, und wenn die Gesellschaft verloren hat, so ist kein geringer Teil des Verlustes auch der meinige. Was an Garderobe geraubt worden, was an Dekorationen zugrunde gegangen, waren Sie, Herr Melina, mir schuldig, und ich spreche Sie von dieser Forderung hiermit völlig frei!"

Melina bezeugte über diese Erklärung wenig Zufriedenheit, denn er erinnerte sich der schönen Kleider aus der Garderobe des Grafen, die ihm so wohl stunden, der neumodischen Schnallen, der Uhr, der Hüte, der Barschaft und noch manchen schönen Sachen, die verloren waren. Die andern, die mit Neid auf Philinens Koffer blickten, gaben unfein zu verstehen, daß er nicht übel getan habe, sich mit dieser Schönen zu assoziieren und durch ihr Glück auch seine Habseligkeiten zu retten.

"Glaubt ihr denn", rief er aus, "daß ich etwas eigen und für mich haben werde, so lange ihr darbt, und ist es wohl das erste Mal, daß ich in der Not mit euch redlich teile? Man öffne den Koffer, und was mein ist, will ich zum öffentlichen Bedürfnis niederlegen."

"Es ist mein Koffer!" sagte Philine, "und ich werde ihn nicht eher aufmachen, bis es mir beliebt. Ihre paar Fittiche, die Sie mir aufzuheben gegeben, können nicht weit reichen, und wenn sie an den redlichsten Juden verkauft werden. Denken Sie an sich und was Ihre Kur kosten, was Ihnen in einem fremden Lande begegnen kann."

"Sie werden mir, Philine", versetzte Wilhelm, "nichts vorenthalten, was mein ist, und ich weiß ohngefähr, wie weit es reicht; freilich ist es nicht viel, doch immer genug, uns aus der Verlegenheit zu retten. Allein in dem Menschen ist mehr als eine Barschaft, womit er seinen Freunden beistehen kann, und was noch irgend in mir ist, soll denen Unglücklichen gewidmet sein, die gewiß, wenn sie wieder zu sich selbst kommen, ihr gegenwärtiges Betragen bereuen werden. Ja", fuhr er fort, "ich fühle, daß ihr bedürfet, und was an mir ist, will ich euch geben, wenn ihr noch einiges Vertrauen auf mich habt, wenn ich es die Zeit her, da wir zusammen waren, um euch verdiente! Nehmt dieses Versprechen von mir zur Beruhigung für diesen Augenblick! Wer will es im Namen aller von mir empfangen?" Hier reckte er seine Hand aus und rief: "Ja, ich sage euch zu, daß ich nicht eher von euch weichen, euch nicht eher verlassen will, als bis ein jeder doppelt und dreifach so viel erworben, als er verloren, als bis ihr den Zustand, worin ihr, es sei durch wessen Schuld es wolle, euch gegenwärtig versetzt seht, völlig vergessen und mit einem glücklichern vertauscht." Er reckte seine Hand hin, und niemand wollte sie fassen. "Ich verspreche es noch einmal", rief er aus, indem er auf sein Küssen zurücksank. Alles war stille, sie waren beschämt, aber nicht getröstet, und Philine, auf ihrem Koffer sitzend, knackte Nüsse auf, die sie in ihrer Tasche gefunden hatte.

Viertes Kapitel

Der Bediente kam mit einigen Leuten zurück und machte Anstalten, den Verwundeten wegzuschaffen; er hatte den Pfarrer des Orts überredet, den Fremden aufzunehmen und für ihn zu sorgen, er ließ Philinens Koffer mit forttragen und fand es ganz natürlich, daß sie folgte. Mignon schloß sich an, der Kranke ward in das Pfarrhaus gebracht, und es ward ihm ein weites Ehebette, das schon lange als Gast- und Ehrenbette für gute Freunde bereitstund, eingegeben. Hier bemerkte man erst, daß die Wunde aufgegangen war und stark geblutet hatte; man mußte für einen neuen Verband sorgen. Der Kranke verfiel in ein Fieber, das sich verschlimmerte; je weiter es in die Nacht kam. Philine wartete ihn treulich, und als sie die Müdigkeit übermeisterte, löste sie der Harfenspieler ab; Mignon war mit dem festen Vorsatz zu wachen in einer Ecke eingeschlafen. Des Morgens, als sich der Kranke ein wenig erholt hatte, verlangte er den Bedienten zu sprechen, der, wie man ihm sagte, nur auf sein Erwachen wartete, um wieder wegzureiten. Er erfuhr von diesem Menschen, daß die vornehme Herrschaft, die ihnen gestern zu Hülfe gekommen, den Kriegsbewegungen auszuweichen ihre Güter verlassen habe, um in sicherere Gegenden zu ziehen; er nannte den ältlichen Herrn und seine Nichte, den Ort, wo sie sich künftig aufzuhalten gedächten, er erklärte Wilhelmen, wie das Fräulein ihm Ordern gegeben, für die Verlaßnen Sorge zu tragen, er habe aus dem benachbarten Städtchen einen Chirurgus herbeigeholt und wolle nun, sobald er den Kranken wieder verbunden wisse, sich aufsetzen und seiner Herrschaft nachreiten. Der hereintretende Wundarzt unterbrach die lebhaften Danksagungen, welche Wilhelm dem Bedienten aufzutragen angefangen hatte, jener fand die Wunde nicht gefährlich, die Kontusion am Haupte von keinen Folgen, nur verlangte er ausdrücklich, daß der Patiente sich ruhig halten, sich abwarten solle.

Nachdem der Bediente weggeritten war, erzählte Philine, die sich gleich einfand, daß ihr derselbe einen Beutel mit zwanzig Louisdor zurückgelassen, den Hauswirt auf drei bis vier Wochen reichlich bezahlt und ihr auf das ernstlichste befohlen habe, den Kranken zu warten; sie habe das um soviel lieber angenommen, als der Fremde sie für Wilhelms Frau gehalten, unter welcher Qualität sie sich nun bei ihm introduziere. Sie brachte ihm auch sogleich Tee, machte alle Anstalten einer Wärterin.

"Philine", sagte Wilhelm, "ich bin Ihnen bei diesem Unfall, der uns begegnet, schon manchen Dank schuldig worden, und ich wünschte nicht, meine Verbindlichkeiten gegen Sie vermehrt zu sehen. Ich bin unruhig, solange Sie um mich sind, denn ich weiß nichts, womit ich Ihnen die Mühe vergelten kann; geben Sie mir meine Sachen, die Sie in Ihrem Koffer gerettet haben, heraus, schließen Sie sich an die übrige Gesellschaft an, suchen Sie ein ander Quartier, nehmen Sie meinen Dank und die goldne Uhr als eine kleine Erkenntlichkeit, nur verlassen Sie mich, Ihre Gegenwart beunruhigt mich mehr, als Sie glauben."

Sie lachte ihm ins Gesicht, als er geendigt hatte. "Du bist ein Tor", sagte sie, "du wirst nicht klug werden, ich weiß besser, was dir gut ist, ich werde bleiben, ich werde mich nicht von der Stelle rühren. Auf den Dank der Männer habe ich niemals gerechnet, also auch auf deinen nicht, und wenn ich dich liebhabe, was geht’s dich an?"

Sie hatte sich bald bei dem Pfarrer und seiner Familie eingeschmeichelt, indem sie immer lustig war, jedem etwas zu schenken, jedem nach dem Sinne zu reden wußte und dabei immer tat, was sie wollte.

Wilhelm befand sich nicht übel dabei, der Chirurgus, ein wackerer und geschickter Mann, brachte ihn bald auf den Weg der Besserung, und es würde uns von dieser Seite für ihn wenig zu tun übrigbleiben, wenn nicht von andern neue Bekümmernisse aufstiegen und neue Sorgen drohten.

Fünftes Kapitel

Mignon war einige Tage sehr still gewesen, und als man in sie drang, gestand sie endlich, daß ihr rechter Arm verrenkt sei. "Das hast du deiner Verwegenheit zu danken", sagte Philine und erzählte dabei, wie das Kind im Gefechte seinen Hirschfänger gezogen und, als es seinen Freund in Gefahr gesehen, wacker auf die Freibeuter zugehauen habe, bis endlich einer es beim Arm ergriffen und auf die Seite geschleudert. Man schalt sie, daß sie das Übel nicht eher entdeckt, doch man merkte wohl, daß es darum geschehen, um dem Chirurgus, der sie immer für einen Knaben gehalten, ihr Geschlecht nicht bekannt werden zu lassen. Man sorgte für sie, und sie mußte nunmehr den Arm in der Binde tragen.

Es war ihr das um so empfindlicher, da sie den besten Teil der Pflege und Wartung Philinen überlassen mußte, und die angenehme Sünderin ließ es sich darum nur angelegener sein.

Eines Morgens, als Wilhelm erwachte, fand er sich mit ihr in einer sonderbaren Nähe. Er war auf seinem weiten Lager schlafend ganz an die hintere Seite gerutscht, Philine lag quer über den vorderen Teil hingestreckt, sie schien auf dem Bette sitzend und lesend eingeschlafen zu sein. Ein Buch war ihr aus der Hand gefallen, sie war zurück- und mit ihrem Kopf nahe an seine Brust gesunken, über die sich ihre blonden, aufgelösten Haare wie stromweise ausbreiteten. Die Unordnung des Schlafs erhöhte mehr als Kunst und Vorsatz ihre Reize, eine kindische, lächelnde Ruhe schwebte über ihrem Gesichte, er sah sie eine Zeitlang an und schien sich selbst über das Vergnügen zu tadeln, womit er sie ansah, ja, wir wissen nicht, ob er seinen jetzigen Zustand segnete oder verwünschte, der ihm auch die geringste Bewegung nicht zuließ. Einen kleinen Versuch mochte er denn doch machen, und zwar nicht ganz geschickt, denn sie regte sich bald, und indem sie erwachte, schloß er die Augen leise zu, um ihr nicht zu bekennen, daß er sie so gefunden habe; unterdessen konnte er nicht lassen, mit blinzenden Augenlidern nach ihr zu sehen, wie sie sich zurechtputzte und wegging, nach dem Frühstück zu fragen.

Wilhelm hatte sich verschiedenemal nach Frau Melina und der übrigen Gesellschaft erkundigen lassen, und man war seinen Boten immer unartig begegnet. "Es ist kein Wunder", sagte Philine, "denn ich höre, der Bediente hat auch ihnen Geld gebracht; wenn es aufgezehrt ist, werden sie es schon näher geben." Auch kam Melina würklich nach einigen Tagen und erzählte mit einer anscheinenden Kälte, daß er nunmehr gesonnen sei, mit der Gesellschaft abzureisen. Er verlangte von Wilhelmen ohne große Umstände einigen Vorschuß, den er ihm, sobald sie in H*** wieder zusammentreffen würden, sogleich erstatten wolle.

Wilhelm bewilligte die Forderung, und Philine mußte wider ihren Willen den Beutel ziehen. Sie ward verdrüßlich, als Wilhelm von ihr verlangte, sie sollte mit der übrigen Gesellschaft aufbrechen, und Melina dagegen versicherte, daß er sie nicht mitnehmen werde. Nur kurze Augenblicke verließ sie ihr Gleichmut, denn schnell erholte sie sich wieder, sagte scherzend: "Ich brauche euch beide nicht und will auch ohne euch den Weg schon finden."

Nach und nach kamen einige, von Wilhelmen Abschied zu nehmen, und als er nach dem leichtsinnigen Knaben fragte, den wir in der Gestalt eines Perückenmachers haben kennenlernen, vernahm er, daß derselbe sich vom Waldplatz verloren und nicht wieder zum Vorschein gekommen. Die Abreise der Gesellschaft verzögerte sich einige Tage, weil es bald an diesem, bald an jenem ermangelte.

Eines Morgens brachte Mignon Wilhelmen die Nachricht ans Bette, daß Philine in der Nacht abgereist sei; sie habe im Nebenzimmer alles, was ihm zugehöre, sehr ordentlich zusammengelegt, und im Hause sagten sie, als diesen Morgen der Postwagen vorbeigefahren, habe sie halten lassen, ihren Koffer aufgepackt und sei mit weggefahren. Er hatte Ursache, froh zu sein, daß er sie losgeworden, auch dachte er weiter nicht sonderlich darüber. Er hing vielmehr seinen Gedanken und Einbildungen nach, die ihn mehr als jemals auf das angenehmste beschäftigten.

Unaufhörlich rief er sich jene Begebenheit zurück, welche einen unauslöschlichen Eindruck auf sein Gemüte gemacht hatte. Er sah die schöne Amazone reitend aus den Büschen hervorkommen, sich ihm nähern, absteigen, sich bemühen, hin und wider gehen, er sah das umhüllende Kleid von ihren Schultern fallen, ihr Gesicht, ihre Gestalt glänzen und verschwinden. Tausendmal wiederholte seine Einbildungskraft die Szene, tausendmal rief er sich den Klang ihrer süßen Stimme zurück, ebensooft beneidete er Philine, die ihre Hand geküßt hatte, und ebensooft würde er diese Geschichte für einen Traum, für ein Märchen gehalten haben, wenn nicht das Kleid zurückgeblieben wäre, welches ihm die Gewißheit der Erscheinung versicherte.

Mit der größten Sorgfalt für dieses Gewand war das lebhafteste Verlangen verbunden, sich damit zu bekleiden. Des Morgens, sobald er aufstand, warf er es über und war den ganzen Tag in Sorgen, es möchte ein Flecken oder sonst ein Schade durch den Gebrauch daran kommen. Die Gesellschaft reiste ab, und er ließ sie unter dem Vorwande, als wenn er sich noch nicht auf den Weg wagen dürfte, ziehen, im Herzen aber hatte er ganz andere Gesinnungen.

Die beiden waren bei ihm geblieben, der Harfner, den er brauchte, und Mignon, den er nicht entbehren konnte.

Sechstes Kapitel

Er hatte sich einen Plan ausgesonnen. Erst wollte er die hülfreiche Herrschaft aufsuchen, um seine Dankbarkeit an den Tag zu legen, alsdann der wandernden Truppe nachfolgen, um, wie er es zugesagt, bei seinem Freunde, dem Direktor in H***, für sie die möglichsten Vorteile zu erhalten. Das Verlangen, seine Erretterin wiederzusehen, wuchs mit jedem Tage, und er beschloß zuletzt, auf das baldigste seinen Weg anzutreten. Er ging mit dem Geistlichen zu Rate, wo der Ort liege, den die edle Familie zu ihrem Sitze während des Krieges erwählt, und ob nicht etwa von ihr selbst einige Nachrichten irgendwo zu finden sein möchten. Der Pfarrer, der hübsche Kenntnisse hatte, durchblätterte Büschings Geographie, durchsuchte die Karte, schlug genealogische Handbücher auf und konnte weder den Namen des Orts in allen niedersächsischen Gegenden noch unter dem ganzen Reichsadel einen ähnlichen Familiennamen finden.

Wilhelm wurde unruhiger und immer unruhiger, je länger es währte, und seine Unruhe verwandelte sich endlich in Bestürzung, als der Harfenspieler ihm entdeckte: er habe Ursache zu glauben, daß der Bediente den wahren Namen der Herrschaft verschwiegen und, es sei aus welcher Ursache es wolle, einen falschen angegeben. Der Alte erhielt Auftrag, der Spur zu folgen, allein dadurch gewann man der Hoffnung nur wenige Tage Frist, er kam zurück und brachte keine befriedigende Nachricht.

Bei der lebhaften Bewegung des Kriegs hatte man in den umliegenden Orten auf soviel Reuter mehr oder weniger nicht achtgegeben, die Gesellschaft hatte auch, wie es schien, jene Nacht noch eine Strecke Wegs zurückgelegt, so daß der ausgesendete gute Alte keine Spur finden, geschweige verfolgen konnte, ja er mußte sich zuletzt, weil er in Gefahr kam, für einen Juden und Spion angesehen zu werden, zurückziehen und ohne Ölblatt vor seinem Herrn und Freunde erscheinen. Er legte strenge Rechenschaft ab, wie er dem Auftrage gehorcht, um allen Verdacht von Nachlässigkeit von sich abzulehnen. Er suchte auf alle Weise die Betrübnis Wilhelms zu lindern, rief in sein Gedächtnis zurück, was er von jenem Bedienten erfahren, und brachte jene Mutmaßung vor, zu der ihm dessen Reden Gelegenheit gegeben hatten. Wilhelm wurde wenig hierdurch erbaut, weil sich dadurch nichts von allem dem, was er zu wissen verlangte, raten noch schließen ließ. Eine einzige Aufklärung war ihm wichtig, indem er darnach einige rätselhafte Worte der schönen Verschwundenen deuten konnte.

Die räuberische Bande hatte eigentlich nicht der armen wandernden Truppe, sondern jener Herrschaft aufgepaßt, von deren Zug sie Nachricht gehabt und welche an dem bestimmten Orte zu überfallen sie nach der ganzen Stellung des Kriegstheaters höchst sonderbare und forcierte Märsche mußte gemacht haben, wenn es anders würklich Truppen waren, woran man noch zu zweifeln hatte. Glücklicherweise für die Vornehmen und Reichen waren die Geringen und Armen zuerst auf den Platz gekommen und hatten das Schicksal erlitten, das jenen zubereitet war. Darauf bezogen sich auch die Worte der jungen Dame, deren sich Wilhelm noch gar wohl erinnerte. Wenn er nun vergnügt und glücklich sein konnte, daß ein vorsichtiger Genius ihn zum Opfer, eine vollkommene Sterbliche zu retten, bestimmt hatte, so war er doch dagegen nahe an der Verzweiflung, daß er sie nicht wiederfinden, nicht wiedersehen sollte und dieser schönen Hoffnung wenigstens für den Augenblick gänzlich entsagen mußte.

Siebentes Kapitel

Wilhelm empfand einige Tage Philinens Abwesenheit, er hatte an ihr eine treue Wärterin, eine muntere Gesellschaft verloren, er war nicht mehr gewohnt, allein zu sein. Mignon suchte die Lücke aufs beste auszufüllen, denn seitdem jene leichtfertige Schöne mit ihren Bemühungen und Freundlichkeiten den Verwundeten gleichsam umstellt, hatte sich die Kleine zurückgezogen und war stille für sich geblieben, nun aber, da sie wieder freies Feld gewann, öffnete sich die ganze Lebhaftigkeit, mit der sie unserm Freunde zugetan war, sie war eifrig, ihm zu dienen, und munter, ihn zu unterhalten. Auch ofte, wenn er las oder für sich denken wollte, unterbrach sie ihn mit Fragen, ob er Eltern habe und Geschwister und wie es in seinem Hause aussehe. Er fing an zu antworten, und unter dem Erzählen, indem er des Kindes Verlangen befriedigte, ward ihm der Zustand der Seinigen, die er so lange aus dem Gesicht verloren, wieder lebendig.

Und nun regte sich in ihm der alte Kampf. Er tadelte sich und sein unverzeihliches Hinschlendern, daß er nicht nach Hause geschrieben, nicht von sich Nachricht gegeben; er nahm sich’s vor und verschob’s.

An eine Rückkehr zu den Seinigen war gar nicht zu denken. Er hatte in H*** zu tun, er wollte einen Brief von Melina abwarten, er fühlte sich als Schuldner der mißgeleiteten Gesellschaft. Er überlegte, dachte und hatte hundert Ursachen, dahin zu gehen, wohin ihn sein Herz trieb. Und so versäumte er natürliche, angeborne Pflichten, indem er willkürliche, selbstaufgeladene heilig hielt.

Doch läßt sich auch manches zu seiner Entschuldigung sagen, besonders dürfen wir nicht verschweigen, daß er stille die Spur Marianens aufsuchte, die er in H*** vielleicht anzutreffen hoffte. Wir haben lange dieses Fadens nicht erwähnt, der durch sein ganzes Dasein fortzog. Er gestand sich selbst kaum das heimliche Verlangen, sie wiederzufinden, sie in seine Arme zu schließen und sie wegen seiner Härte um Vergebung zu bitten. Seine ersten Träume, seine Hoffnungen wachten wieder bei ihm von Zeit zu Zeit auf, und die sehnlichsten Erinnerungen banden ihn wieder ans Theater, ja sogar an die schlechte Gesellschaft. Nur seit der Erscheinung jener zu bald verschwundenen Heiligen nahm sein Gemüt eine andere Richtung. Sich ihr nahen, wie er sehnlich wünschte, hieß schon aus dem Zustande heraustreten, in dem er sich befand, und ein zwiespältiges Verlangen zog ihn aus einer Welt in die andere.

Sein Gemüt abzuleiten, seinen Empfindungen eine andere Wendung zu geben, war nichts geschickter als die Shakespearischen Schriften, denen er sich von Tag zu Tag mehr ergab. Besonders hatte Hamlet alle seine Aufmerksamkeit angezogen.

Wir haben schon im vorigen Buche gesehn, daß er die Rolle des Prinzen studiert, und es ist natürlich, daß er mit den stärksten Stellen, den Selbstgesprächen und jenen Auftritten angefangen, wo Kraft der Seele, Erhebung, Lebhaftigkeit Spielraum haben und ein freies, edles Gemüt in gefühlvollem Ausdrucke sich zeigen kann. Auch die Last der tiefen Schwermut war er geneigt auf sich zu nehmen, und die Übung der Rolle verschlang sich dergestalt in sein einsames Leben, daß endlich er und Hamlet eine Person zu werden anfingen.

Zuletzt, da er einzelne Stellen genug durchgearbeitet hatte, nahm er das Ganze in einer Folge vor sich, und da wollte manches nicht passen; bald schien sich der Charakter, bald der Ausdruck zu widersprechen, und es kam unserm Freunde fast unmöglich vor, einen Ton zu finden, in welchem die ganze Rolle, mit allen ihren Abweichungen und Schattierungen, gespielt werden könnte. Er bemühte sich lange in diesem Labyrinthe vergebens, bis er endlich einen Weg fand, auf dem er zu seinem Ziele zu gelangen hoffte. Er ging das Stück nunmehr bloß in der Absicht durch, um zu sehen, was von dem Charakter Hamlets vor dem Tode seines Vaters sich für eine Spur zeige, und er glaubte, sie bald gefunden zu haben.

Sanft und edel geboren, wuchs die königliche Blume unter den unmittelbaren Einflüssen der Majestät hervor. Der Begriff des Rechten und der fürstlichen Würde, das Gefühl des Guten und Anständigen und der Höhe seiner Geburt entwickelten sich zugleich in ihm, er war ein Fürst, ein geborner Fürst, und wünschte zu regieren, nur damit der Gute ungehindert gut sein möchte. Angenehm von Gestalt, gesittet von Natur, gefällig von Herzen aus, das Muster der Jugend und die Freude der Welt, ohne irgendeine vorstehende Leidenschaft, war seine Liebe zu Ophelien ein stilles Vorgefühl süßer Bedürfnisse und sein Eifer zu ritterlichen Übungen durch das Lob geschärft, das man einem Dritten beilegte; er kannte die Redlichen und wußte die Ruhe zu schätzen, die ein aufrichtiges Gemüt an dem aufrichtigen Busen des Freundes genießt. Bis auf einen gewissen Grad hatte er in Künsten und Wissenschaften das Gute und Schöne erkennen und würdigen gelernt. Das Abgeschmackte war ihm zuwider, und wenn in seiner zarten Seele der Haß aufkommen konnte, so war es nur eben so viel, um bewegliche, falsche, armselige Höflinge zu verachten und spöttisch mit ihnen zu spielen.

Gelassen in seinem Wesen, in seinem Betragen einfach, weder im Müßiggange behaglich noch allzu begierig nach Beschäftigung, halb verwöhnt durch ein akademisches Hinschlendern, mehr Fröhlichkeit der Laune als des Herzens, ein guter Gesellschafter, nachgiebig, bescheiden, besorgt und eher eine Beleidigung vergessend, die man ihm, als die man dem Rechten, Guten und Anständigen antut.

Nachdem sich Wilhelm diese Züge gesammelt und sie mit Stellen belegt, ward ihm der Begriff viel leichter, nur sah er zum voraus, daß er einen großen Teil der Stellen anders, als er sie bisher rezitiert, künftig werde behandeln müssen.

Es war über dieser Arbeit Abend geworden, und unvermerkt schwebte das Bild der hülfreichen Schönen wieder vor seinem Gemüte; er hing den süßen Vorstellungen nach, und ein Verlangen bemächtigte sich seiner, das er nie in seinem Busen gefühlt.

Mignon und der Alte hatten schon eine Weile in dem Nebenzimmer zur Harfe gesungen, endlich machte eine unbekannte Melodie unsern Freund aufmerksam, er horchte, Mignon sang:

Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiß, was ich leide!
Allein und abgetrennt
Von aller Freude,
Seh ich ans Firmament
Nach jener Seite.

Ach, der mich liebt und kennt,
Ist in der Weite!
Es schwindelt mir, es brennt
Mein Eingeweide.
Ach, wer die Sehnsucht kennt!
Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiß, was ich leide !

Achtes Kapitel

Die sanften Lockungen des lieben Schutzgeistes konnten unsern Freund nicht auf den rechten Weg bringen, die Unruhe, die er empfand, ward nur durch den Gesang vermehrt, eine heimliche Glut bewegte sich in seinen Adern, bestimmte und unbestimmte Gegenstände wechselten in seiner Seele und erregten ein unwiderstehliches Verlangen; bald wünschte er sich ein Roß, bald Flügel, und indem es ihm unmöglich schien zu bleiben, sah er sich erst um, wohin er begehre.

In den Faden seines Schicksals hatten sich so viele Knoten geknüpft, die sich entweder immer mehr verwirren oder endlich auflösen mußten. Oft, wenn er ein Pferd traben oder einen Wagen rollen hörte, schaute er eilig zum Fenster hinaus, mit der Hoffnung, es werde jemand sein, der ihn aufsuchte und, wäre es auch nur durch Zufall, ihm Nachricht, Gewißheit und Freude brächte! Er machte sich hundert Geschichten, wie sein Schwager Werner in diese Gegend kommen und ihn überraschen könnte, wie Mariane vielleicht erscheinen dürfte. Der Ton eines jeden Posthorns (denn die Straße ging durch den Ort) setzte ihn in Bewegung. Am wahrscheinlichsten aber war es, daß ihm Melina von seinem Schicksale Nachricht geben werde, und am angenehmsten beschäftigte ihn der Gedanke, daß der Bediente wiederkommen und ihm den Aufenthalt der trefflichen Schönen entdecken könnte. Dieser letzte Gedanke hielt ihn, ohne daß er es fast selbst wußte, an dem elenden Aufenthalt am festesten.

Eine angenehme Vorstellung folgte der andern, bis sein Gemüt durch eine Reihe von Bildern und Beobachtungen auf einen Gegenstand geführt wurde, der immer widriger und unerträglicher wurde, je näher er ihn beleuchtete. Es war das Andenken seiner unglücklichen Heerführerschaft, das ihn so sehr schmerzte. Denn ob er sich gleich am Abende jenes bösen Tages vor der Gesellschaft so ziemlich herausgeredet hatte, so konnte er sich doch selbst seine Schuld nicht verleugnen und mußte sie sich auf alle Weise zuschreiben. Er hatte das Vertrauen auf sich rege gemacht, den Willen der übrigen gelenkt und war, von Unerfahrenheit und Kühnheit geleitet, vorangegangen; alle folgten mutig, es ergriff sie eine Gefahr, der sie nicht gewachsen waren. Laute und stille Vorwürfe verfolgten ihn, und wenn er der irregeführten Gesellschaft nach dem empfindlichen Verluste zugesagt hatte, sie nicht zu verlassen, bis er ihnen das Verlorne mit Wucher ersetzt, so war dies wieder eine neue Verwegenheit, womit er ein allgemeines, ausgeteiltes Übel auf seine einzelne Schultern zu nehmen sich vermaß, und es drangen ihn nicht etwa nur Aufspannung, Laune oder Verlegenheit des Augenblicks. Jenes gutmütige Hinreichen seiner Hand, die keiner anzunehmen würdigte, war nur eine leichte Förmlichkeit gegen das Gelübde, das ihnen sein Herz getan hatte; er sann den Mitteln nach, ihnen nützlich und wohltätig zu sein, und so mannigfaltig er sie auch dachte, waren sie doch nicht hinreichend, den Druck von seiner Seele zu nehmen, der ihm in traurigen Stunden schwer auflag.

In einem so wunderbaren Kreise wurden seine Gedanken herumgeführt, und er wäre vielleicht noch lange in demselben wie ein Gebannter herumgegangen, wenn ihn nicht ein Brief von Melina aus seiner Träumerei herausgerissen und ihn nach H*** gefordert hätte. Dieser Arme befand sich in einer bedrängten Lage, denn der Direktor wollte nichts von ihm noch von den Seinigen wissen; wenn also noch etwas auszurichten war, konnte es nur durch Wilhelms Gegenwart geschehen. Er brach also mit seinen beiden Gefährten auf, und das wunderbare Kleeblatt langte bald an dem lebhaften und gewerbereichen Orte an, wo neue sonderbare Ereignisse auf sie warteten. Wilhelm eilte, seinen alten Freund Serlo (so wollen wir den Direktor nennen) zu besuchen.

Dieser empfing ihn mit offnen Armen und rief ihm von weitem entgegen: "Mein lieber Meister, sehe ich Sie, erkenne ich Sie wieder?" – "Stille", versetzte Wilhelm, indem er ihn umarmte, "ich heiße jetzo Geselle, unter diesem Namen habe ich nur bisher erscheinen dürfen." – "Gut, mein Freund", sagte Serlo, indem er die Ankömmlinge betrachtete, "Sie haben sich wenig oder nicht geändert; ist Ihre Liebe für die edelste Kunst noch immer so stark und lebendig? Ich erfreue mich so sehr über Ihre Ankunft, daß ich fast vergesse, wie stark ich über Sie zu klagen Ursache habe." – "Wieso?" versetzte Wilhelm, der schon ohngefähr merkte, wo diese Anrede hinauswollte.

"Sie sind mir", sagte Serlo, "nicht wie ein guter Geselle begegnet, Sie haben mich in Ihrem letzten Brief wie einen großen Herrn behandelt, dem man mit gutem Gewissen unbrauchbare Leute empfehlen darf. Sie bedenken nicht, daß wir unser Brot verdienen müssen. Ihr Melina mit den Seinigen ist wahrhaftig zu gar nichts zu gebrauchen."

Wilhelm wollte etwas zu ihren Gunsten sprechen, aber Serlo fing an, eine so unbarmherzige Schilderung von ihnen zu machen, daß unser Freund sehr zufrieden war, als ein Frauenzimmer in das Zimmer trat, die das Gespräch unterbrach und ihm sogleich als Schwester Aurelia von seinem Freunde vorgestellt ward. Dieses fürtreffliche Frauenzimmer, eine junge Witwe, empfing ihn auf das freundschaftlichste, und ihre Unterhaltung war so angenehm, daß er nicht einmal den entschiedenen Zug des Kummers gewahr wurde, der sich ihres geistreichen Gesichts bemächtiget hatte. Man sprach von den neusten Stücken, über den gegenwärtigen Geschmack. Man kam von einem in das andere, und Wilhelm verfehlte nicht, seinen "Hamlet" gelegentlich vorzubringen, der ihn so sehr beschäftigte. Serlo versicherte, daß er gerne die Rolle des Polonius gespielt hätte, und sagte zu seiner Schwester: "Du übernimmst wohl Ophelien?" Das Lächeln, womit er es aussprach, mißfiel Wilhelmen, denn es schien etwas Beleidigendes zu haben. Aurelie antwortete gelassen und kalt: "Warum nicht!"

Wilhelm fing nun nach seiner Art an, recht weitläufig und sehr lehrreich zu werden, wie er seinen Hamlet gespielt haben wolle.

Er legte ihnen die Resultate ausführlich hin, welche aufzusuchen wir ihn im vorigen Kapitel beschäftigt gesehen, und gab sich alle Mühe, seine Meinung annehmlich zu machen, sosehr sie ihm Serlo als Hypothese in Zweifel ziehen wollte. "Nun gut", sagte dieser zuletzt, "wir geben Ihnen alles zu, was wollen Sie weiter daraus erklären?" – "Vieles! alles!" versetzte Wilhelm. "Nehmen Sie einen Prinzen, wie ich ihn geschildert habe, dessen Vater unvermutet stirbt. Ehrgeiz und Sucht zu gebieten sind nicht die Leidenschaften, die ihn beleben; er hatte sich es so gefallen lassen, Sohn eines Königs zu sein, nun sieht er sich auf den Abstand, der König und Untertan scheidet, aufmerksamer zu werden erst genötigt. Das Recht zur Krone war nicht erblich, und doch hätte ein längeres Leben seines Vaters die Ansprüche eines einzigen Sohnes fester gemacht und ihn zum künftigen Könige bestimmt. Dargegen fühlt er sich so arm an Gnade, an Gütern, fremd in dem, was er von Jugend auf als sein Eigentum betrachtete, und hier nimmt sein Gemüt die erste traurige Richtung; er fühlt sich nicht mehr zu sein als jeder Edelmann, er gibt sich für einen Diener eines jeden. Nicht höflich, nicht herablassend, nein, herabgesunken, bedürftig.

Nach seinem vorigen Zustande blickt er nur wie nach einem verschwundenen Traum. Vergebens, daß sein Oheim ihn aufmuntert, ihm seine Lage aus einem andern Gesichtspunkte zeigen will, die Empfindung seines Nichts bleibet ihm.

Der zweite Schlag, der ihn traf, verletzte tiefer, beugte noch mehr. Es ist die Heurat seiner Mutter. Ihm, einem treuen, zärtlichen Sohn, blieb, da sein Vater starb, eine Mutter noch übrig. Wenn er die Heldengestalt jenes großen Abgeschiedenen verehrte, konnte er es in Gesellschaft einer hinterlaßnen edlen, treuen Mutter tun. Diese verliert er nun auch, schlimmer als durch den Tod. Das zuverlässige Bild, das sich ein wohlgeratnes Kind so gern von seinen Eltern macht, verschwindet. Bei dem Toten ist keine Hülfe und an der Lebendigen kein Halt. Sie ist auch ein Weib! Unter dem allgemeinen Geschlechtsnamen Gebrechlichkeit ist nun auch sie begriffen.

Nun erst fühlt er sich recht gebeugt, nun erst verwaist, und kein Glück in der Welt vermag ihm wiederzugeben, was er verloren hat. Er ist nicht traurig, nicht nachdenklich von Natur; diese Trauer, dieses Nachdenken wird ihm zur schweren Bürde. So sehen wir ihn auftreten. Ich glaube nicht, daß ich etwas übertreibe."

Serlo sah seine Schwester an und sagte: "Habe ich dir ein falsches Bild von unserm Freunde gemacht? Er fängt gut an, er wird uns noch manches vorerzählen und viel überreden." Wilhelm schwur hoch und teuer, daß er nicht überreden, sondern überzeugen wolle, und bat nur noch einen Augenblick Geduld. "Denken Sie sich diesen Jüngling, diesen Fürstensohn recht lebhaft, vergegenwärtigen Sie sich seine Lage, und dann beobachten Sie ihn, wenn er erfährt, die Gestalt seines Vaters erscheine; stehen Sie ihm bei in der schröcklichen Nacht, wenn der ehrwürdige Geist selbst vor ihm auftritt! Ein ungeheures Entsetzen ergreift ihn, er redet die Wundergestalt an, sieht sie winken, folgt – und hört, und was hört er? Die schröcklichste Anklage wider seinen Oheim!

Aufforderung zur Rache und die dringende, wiederholte Bitte: ,Erinnre dich mein!’ Und wie der Geist verschwunden, wen sehen wir vor uns stehen? Einen jungen Helden, der nach Rache schnaubt? Einen gebornen Fürsten, der sich glücklich fühlt, gegen den Usurpator seiner Krone doppelt und dreifach aufgefordert zu werden? Nein! Staunen und Trübsinn überfällt ihn, er schwört, den Abgeschiednen nicht zu vergessen. Er wird über die lächelnden Bösewichter bitter und schließt mit dem bedeutenden Seufzer: ,die Zeit ist aus dem Gelenke! weh, daß ich geboren ward, sie wieder einzurichten!’

In diesen Worten, dünkt mich, liegt der Schlüssel zu Hamlets ganzem Betragen, und mir ist deutlich, daß Shakespeare habe schildern wollen: eine große Tat auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht gewachsen ist.

Und dieses finde ich in dem Stücke fürtrefflich ausgeführt. Hier wird ein Eichbaum in ein köstliches Gefäße gepflanzt, das nur liebliche Blumen in seinem Schoß hätte aufnehmen sollen; die Wurzeln dehnen sich aus, und das Gefäß wird zernichtet.

Ein schönes, reines, edles, höchst moralisches Wesen, ohne die sinnliche Stärke, die den Helden macht, geht unter einer Last zugrunde, die es weder tragen noch abwerfen kann. Jede Pflicht ist ihm heilig, diese zu schwer. Das Unmögliche wird von ihm gefordert, nicht das Menschen Unmögliche, nein, das ihm Unmögliche! Wie er sich windet, dreht, ängstigt, vor- und zurücktritt, immer erinnert wird, sich immer erinnert und zuletzt fast seinen Zweck aus dem Sinne verliert, ohne jedoch jemals wieder froh zu werden."

Neuntes Kapitel

Ihre Unterredung ward durch mehrere Personen unterbrochen, die nach und nach hereinkamen, und zwar waren es Virtuosen und Schauspieler, deren sehr verschiedne Gesinnungen darin übereinkamen, daß ein jeder gerne ganz nach seinem Sinne lebte.

Philibert, ein junger, vortrefflicher Klarinettiste, trat in vollem Verdruß und Eifer herein, daß das Publikum seinem Freunde, einem trefflichen Violoncellisten, wofür er ihn hielt, nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen. Es sei sein Freund, rief er aus, und Kabale solle gewiß nicht über ihn Herr werden; er wolle selbst keinen Ton mehr hören lassen, wenn jener nicht auch gehört und bezahlt würde.

Tarconi, ein gelehrter Komponiste, und einige Schauspieler vermehrten die Gesellschaft, und da ein jeder nur von sich selbst zu sprechen gewohnt war, ward das Gespräch bald allgemein, nur daß die Sprünge des Dialogs desto seltsamer schienen. Zuletzt trat Horatio, der beliebte Violinist, herein. Die Größe und Schönheit seiner Gestalt ergötzte jeden, der ihn sah, die Weichheit seines Wesens, mit einem männlichen Anstande verbunden, öffnete ihm die Gemüter, und wenn er gar sein Instrument ergriff, so verzieh man Raffaelen, daß er seinen Apollo statt der Leier mit der Violine vorgestellt habe. In sich gezogen, war er von wenigen Worten, seine ganze Seele schien bloß über den Saiten zu schweben, um den Geist, der in ihnen schlief, zu wecken und ihn zu einer geheimen Unterredung mit dem seinigen einzuladen. Über diesem Gespräch, das er allein mit wenigen Eingeweihten ganz verstund, schmolzen die Herzen seiner Zuhörer, und schon der Widerklang der Harmonie, die ihn ganz ausfüllte, konnte sie glücklich machen.

Auch trat Melina zuletzt auf, an Wesen und Kleidern die ärmlichste Figur, eben als wenn er das Leben der andern, ihre Geschicklichkeit und Unarten, ihren Übermut und Unzufriedenheit, ihre Torheit und Schwächen höchstens nur zu protokollieren imstande sein möchte.

Aber Aurelia schien an allem, was vorging, wenig Anteil zu nehmen, vielmehr führte sie zuletzt unsern Freund in ein Seitenzimmer, und indem sie an ein Fenster trat und den gestirnten Himmel anschaute, sagte sie zu ihm: "Sie sind uns manches über Hamlet schuldig geblieben; ich will zwar meinen Bruder nicht der übrigen guten Sachen berauben, die Sie noch auszuführen haben, lassen wir den Prinzen und sprechen Sie mir von Ophelien."

"Von ihr läßt sich nicht viel sagen", versetzte Wilhelm, "wiewohl mit wenig Zügen von Meisterhand ihre Gestalt vollendet ist.

Reife, süße Sinnlichkeit! Ihre Neigung zu dem Prinzen, auf dessen Hand sie Anspruch machen darf, ist so geradehin sich selbst überlassen, daß Vater und Bruder beide fürchten, warnen. Der Wohlstand wie der leichte Flor auf ihrem Busen kann die Bewegung ihres Herzens nicht verbergen und wird vielmehr selbst ihr Verräter. Ihre Einbildungskraft ist angesteckt, in stiller Bescheidenheit atmet sie Verlangen, Liebe, und wenn die bequeme Göttin Gelegenheit das Bäumchen schüttelt, so fällt die Frucht."

"Und nun", sagte Aurelie, "wenn sie sich verlassen sieht, verstoßen, verschmäht, in der Seele ihres wahnsinnigen Geliebten das Höchste zum Tiefsten verkehrt, da er ihr statt des süßen Bechers der Liebe den bittern Kelch der Leiden hinreicht?"

"Es bricht ihr Herz", versetzte Wilhelm, "das ganze Gerüste ihres Daseins rückt aus seinen Fugen, der Tod ihres Vaters kommt dazu, und das schöne Gebäude stürzt völlig zusammen."

Wilhelm hatte nicht bemerkt, mit welchem Ausdruck Aurelie ihre letzten Worte gesprochen hatte. Wenn von Kunst die Rede war, dachte er nur ans Werk und an dessen Vollkommenheit, nicht an die Würkung, die es auf die Menschen tut, deren jeder nur eignen Schmerz und eigne Freude in dem Schicksale eines andern und in den Bildern der Kunst mit- und nachempfindet.

Noch immer hatte Aurelia ihr Haupt mit ihren Armen unterstützt und ihre Augen gen Himmel gewendet, die sich mit Tränen füllten. Lange hielt sie ihren Schmerz zurück, bis sie ihn endlich nicht länger verbarg. Sie faßte den Erstaunten bei den Händen. "Verzeihen Sie!" rief sie aus, "verzeihen Sie einem geängstigten Herzen! Die Gesellschaft schnürt und preßt mich zusammen, vor meinem unbarmherzigen Bruder muß ich mich zu verbergen suchen. Ihre Gegenwart hat alle Bande aufgelöst. Mein Freund!" rief sie aus, "seit einem Augenblick erst bekannt und schon mein Vertrauter!" Sie konnte es kaum aussprechen und sank an seine Schulter. "Denken Sie nicht übler von mir", sagte sie schluchzend, "daß ich mich Ihnen so schnell eröffne, daß Sie mich so schwach sehn, sein Sie, bleiben Sie mein Freund! ich verdien es." Er redete ihr mit der freundlichsten Stimme zu, umsonst! ihre Tränen flossen und erstickten ihre Worte.

In diesem Augenblick öffnete jemand die Tür. Sehr unwillkommen trat Serlo herein, und sehr unerwartet Philine, die er bei der Hand hielt! "Hier ist Ihr Freund", sagte Serlo zu ihr und deutete auf Wilhelmen; "er wird sich freuen, Sie zu begrüßen." – "Wie", versetzte Wilhelm erstaunt, "muß ich Sie hier sehen." Mit einem bescheidnen, gesetzten Wesen ging sie auf ihn los, hieß ihn willkommen, rühmte Serlos Güte, der sie bloß auf Hoffnung, ohne ihr Verdienst unter seine treffliche Truppe aufgenommen, und tat gegen Wilhelm selbst zwar freundlich, doch aus einer ehrerbietigen Entfernung. Diese Verstellung währte nicht länger, als die beiden andern zugegen waren. Aurelia ging, ihren Schmerz zu verbergen, weg, und Serlo ward abgerufen. Philine sah erst recht genau nach den Türen, ob sie auch gewiß fort seien, dann hüpfte sie wie törig in der Stube herum, setzte sich an die Erde und wollte für Kitzel und Lachen ersticken. Dann sprang sie auf und schmeichelte unserm Freunde und freute sich über alle Maßen, wie klug sie es gemacht, daß sie vorausgegangen, das Terrain rekognosziert und sich eingenistet.

"Hier geht es bunt zu", sagte sie, "just so wie mir’s recht ist. Aurelie hat einen unglücklichen Liebeshandel mit dem Baron J*** gehabt, der jung, reich, schön und klug sein soll, und er hat ihr ein Andenken hinterlassen, oder ich müßte mich sehr irren. Wenn’s ein Ebenbild ist, muß der Papa allerliebst sein. Sie hat einen Knaben bei sich ohngefähr von drei Jahren, schön wie die Sonne. Ich kann sonst die Kinder nicht leiden, dieser Junge hat mich gefreut. Ich habe nachgerechnet; der Tod ihres Mannes, die neue Bekanntschaft, alles trifft zusammen.

Nun ist der Freund seiner Wege gegangen, seit einem Jahr sieht er sie nicht mehr, und sie ist darüber außer sich und untröstlich. Die Närrin! Der Bruder hat unter der Truppe eine Tänzerin, der er vertraut ist, in der Stadt noch einige, denen er aufwartet, und nun steh ich auch auf der Liste. Der Narr! Von den übrigen", sie sah nach der Tür, "sollst du morgen hören, und nun noch ein Wörtchen von Philinen, die du kennst; die Erznärrin ist in dich verliebt!" Sie schwur hoch, daß es wahr sei, und beteurte fluchend, daß es ein rechter Spaß sei. Sie hat Wilhelmen inständig, er möchte sich in Aurelien verlieben, dann würde die Hetze erst angehen. "Sie läuft ihrem Ungetreuen, du ihr, ich dir und der Bruder mir nach! Wenn das nicht Lust auf ein Halbjahr gibt, so will ich an der ersten Episode sterben, die sich zu diesem vierfach verschlungenen Roman hinzuwirft." Sie bat ihn, er möchte den Handel nicht verderben und ihr die Achtung bezeigen, die sie durch ihr öffentliches Betragen verdienen wollte.

Zehntes Kapitel

Den nächsten Morgen dachte Wilhelm Madame Melina zu besuchen, er fand sie nicht zu Hause; er fragte nach den übrigen Gliedern der wandernden Gesellschaft, sie waren nicht anzutreffen. Endlich erfuhr er, Philine habe sie alle zum Frühstück eingeladen. Er fand sie auch aufgeräumt und getröstet. Die kluge Dirne hatte sie versammelt, sie mit Schokolade bewirtet und ihnen merken lassen, noch sei die Aussicht nicht versperrt. Sie hoffe, durch ihren Einfluß Serlo zu überzeugen, wie vorteilhaft es ihm sei, so geschickte Leute zu seiner Truppe zu gesellen. Sie hörten ihren Reden aufmerksam zu, schlürften eine Tasse nach der andern und fanden das Mädchen gar nicht so verabscheuungswürdig, als sie ihnen vor einigen Wochen vorgekommen war. Auch nachdem man sie entlassen hatte, redeten sie das Beste von ihr und fanden dem eignen Vorteil gemäß, jene leichtfertigen Geschichten zu verschweigen. "Glauben Sie denn", sagte Wilhelm, der mit Philine allein geblieben war, "daß Serlo sich entschließen kann, entweder alle oder doch einige zu behalten?" – "Mitnichten", versetzte Philine. "Es ist mir auch gar nichts daran gelegen. Ich wollte, sie wären je eher je lieber fort, und ich will sehen, wie ich sie wegbringe. Allein ein anders Anliegen beunruhigt mich. O könnten Sie sich doch entschließen, zu uns zu treten, eine Kunst zu ergreifen, zu der Sie geboren sind und die Ihnen Ehre bei einem reichlichen Auskommen bringen müßte!" – "Es ist nicht daran zu gedenken", versetzte Wilhelm. "Sie haben doch, hoffe ich, nicht verraten, daß ich schon auf dem Theater gewesen bin." – "Wie können Sie mir solch einen Unverstand zutrauen!" versetzte jene. "Gut", sagte er, "ich verlasse mich darauf, denn ich bin im Begriff, meinen Namen wieder zu bekennen und die Freunde meines Vaters zu besuchen." – "Eilen Sie nicht damit", sagte Philine, und so gingen sie auseinander.

Wilhelm hatte von Serlo die Erlaubnis verlangt, in die Probe kommen zu dürfen, welches ihm dieser nicht zugestanden, sondern ihn zur Aufführung selbst verwiesen. "Sie müssen uns erst von der besten Seite kennenlernen, ehe wir zugeben, daß Sie uns in die Karte sehen."

Mit großer Zufriedenheit wohnte er den Abend darauf dem Schauspiele bei; es war das erste Mal, daß er das Theater in solcher Vollkommenheit sah. Schauspieler von vortrefflichen Gaben, glücklichen Anlagen, Fleiß und einem hohen Begriff von ihrer Kunst, die, wenn sie auch nicht alle gleich waren, doch einander wechselsweise hielten, trugen und anfeurten. Serlo zeichnete sich sehr zu seinem Vorteile aus. Laune und Lebhaftigkeit, durch einen allgemeinen Geschmack geleitet, mußte man an ihm, wie er auf das Theater trat, wie er den Mund eröffnete, bewundern, man fühlte ihm die innerliche Behaglichkeit seines Daseins an, die sich über alle Zuhörer ausbreitete; eine außerordentliche Übung seiner Kunst hatte ihn geschickt gemacht, die feinsten Schattierungen der Rollen mit der größten Leichtigkeit auszudrücken.

Seine Schwester Aurelia blieb nicht hinter ihm und erhielt noch größern Beifall, indem sie die Gemüter der Menschen rührte, die er nur zu erfreuen imstande war.

Doch ich enthalte mich, von ihr und den übrigen Schauspielern weiterzusprechen, wir werden sie handeln, sie agieren sehen, und der Leser wird selbst urteilen können.

Den andern Morgen verlangte Aurelia nach unserm Freunde, er eilte zu ihr und fand sie auf dem Kanapee liegen. Sie schien an Kopfweh und an einem Fieber zu leiden. Ihr Auge erheiterte sich, als sie den Hereintretenden sah. "Vergeben Sie!" rief sie aus; "das Zutrauen, das Sie mir einflößten, hat mich schwach gemacht. Ich kann mein Geheimnis, meine Schmerzen nicht mehr für mich behalten, was mir bisher eine Stärkung und Trost gab. Sie haben, ohne es zu wissen, die Bande der Verschwiegenheit gelöst, und Sie werden auch nun, ohne es zu wollen, teil an dem Kampfe nehmen müssen, den ich gegen mich selber streite." Wilhelm antwortete ihr freundlich und verbindlich und versicherte sie, daß ihm diese Nacht ihr Bild und ihre Schmerzen beständig vor der Seele geschwebt, daß er sie um ihr Vertrauen bitte, daß er sich ihr zum Freund widme.

Indem er dieses sprach, wurden seine Augen von dem Knaben angezogen, der vor ihr auf der Erde saß und sich mit allerlei Spielwerk beschäftigte. Er mochte, wie ihn Philine angegeben, ohngefähr drei Jahr alt sein, und Wilhelm verstand nun erst jenes Gleichnis, da die Leichtfertige, in ihren Ausdrücken selten Erhabne das Kind an Schönheit der Sonne verglichen; denn um die offnen blauen Augen und das volle Gesicht kräuselten sich die schönsten goldnen Locken, auf blendend weißer Stirne zeichneten sich dunkele, leis bogige Augenbraunen, und die lebhafte Farbe der Gesundheit glänzte auf seinen Wangen. "Setzen Sie sich zu mir", sagte Aurelia. "Sie sehen das glückliche Kind mit Verwunderung an. Gewiß, ich habe es mit Freuden angenommen, ich bewahre es mit Sorgfalt, nur fühl ich auch recht an ihm den Grad meiner Schmerzen, weil ich den Wert einer solchen Gabe nur selten empfinde.

Erlauben Sie mir", fuhr sie fort, "daß ich nun auch von mir und meinem Schicksale rede, denn es ist mir so sehr daran gelegen, daß Sie mich nicht verkennen. Ich glaubte nun einige gelassene Augenblicke zu haben, darum ließ ich Sie rufen. Sie sind da, und ich habe meinen Faden verloren.

,Ein verlassenes Geschöpf mehr in der Welt!’ werden Sie sagen. Sie sind ein Mann und denken: Wie gebärdet sie sich über ein notwendiges Übel, gewisser als der Tod, über die Untreue eines Mannes! Die Törin! O mein Freund, wäre mein Schicksal gemein, ich wollte gern ein gemeines Übel ertragen, aber es ist so außerordentlich. Warum kann ich’s Ihnen nicht im Spiegel zeigen, warum nicht jemand auftragen, es zu erzählen!

O wäre ich verführt, überrascht und dann verlassen wie Ariadne, dann würde in der Verzweiflung noch Trost sein. Ich bin weit schlimmer dran, ich habe mich selbst hintergangen, mich selbst wider Wissen betrogen, dies ist es, was ich mir niemals verzeihen kann."

"Bei Gesinnungen, wie die Ihrigen sind, können Sie nicht ganz unglücklich sein", versetzte der Freund.

"Und wissen Sie, wem ich diese Gesinnungen schuldig bin?" fragte Aurelia. "Der allerübelsten Erziehung, durch die jemals ein Mädchen verderbt werden sollen, dem schlimmsten Beispiele, um Sinne und Neigung zu verführen. Nach dem frühzeitigen Tode meiner Mutter brachte ich die schönsten Jahre der Entwicklung bei einer Tante zu, die sich zum Gesetz machte, das Gesetz der Ehrbarkeit zu verachten. Blindlings überließ sie sich einer jeden Neigung, sie mochte über den Gegenstand gebieten oder sein Sklav sein, wenn sie nur in wildem Genuß ihrer selbst vergessen konnte.

Wir Kinder, denen der richtige Blick der Unschuld alles rein und deutlich sehen ließ, was für Begriffe mußten wir uns von dem männlichen Gechlechte machen? Wie dumpf, dringend, dreist, ungeschickt war ein jeder, den sie herbeireizte, wie satt, übermütig und abgeschmackt jeder, der seiner Wünsche Befriedigung gefunden hatte. So hab ich diese Frau monatelang unter dem Gebote der schlechtesten Menschen erniedrigt gesehen. Was für Begegnungen mußte sie nicht erdulden, und mit welcher Stirne wußte sie sich in ihr Schicksal zu finden, ja mit welcher Art noch diese schändlichen Fesseln zu tragen!

So lernte ich Ihr Geschlecht kennen, mein Freund, und wie rein haßte ich’s, da ich auch sonst leidliche Menschen in dem Verhältnisse gegen das unsrige jeden Überrest von Gutem verlieren sah.

Ein bejahrter Freund, der mich als Tochter behandelte, schloß mir völlig die Augen auf. Ich lernte auch mein Geschlecht kennen, und wahrhaftig, als Mädchen von sechzehn Jahren war ich klüger, als ich jetzt nicht bin, jetzt, wo ich mich selbst kaum verstehe – warum sind wir so klug, wenn wir jung sind! so klug, um immer töriger zu werden!"

Der Knabe machte Lärm, und Aurelia ward ungeduldig; sie klingelte, es kam ein altes Weib herein, ihn wegzuholen. "Hast du noch immer Zahnweh?" sagte Aurelia zu der Alten, die das Gesicht verbunden hatte. "Noch fast unleidlich", versetzte diese mit dumpfer Stimme, hub den Knaben auf, der gerne mitzugehen schien, und brachte ihn weg.

Kaum war das Kind beiseite, als Aurelia bitterlich zu weinen anfing. "Ich kann nichts ab weinen und klagen", rief sie aus, "und schäme mich, wie ein armer Wurm vor Ihnen zu liegen. Meine Besonnenheit ist schon weg, und ich kann nicht mehr erzählen. Sie sollten von mir hören, wie mich die Liebe der Kunst hinaufstimmte, wie ich erst von meiner Nation alles hoffte und dann gar wieder an ihr verzweifelte." Sie stockte und schwieg zuletzt; ihr Freund, der nichts Allgemeines sagen wollte und sonst nichts zu sagen hatte, drückte ihre Hand und sah sie eine Zeitlang an; dann nahm er in der Verlegenheit ein Buch auf, das er vor sich auf dem Tischchen liegen fand; es waren Shakespeares Schriften, und "Hamlet" aufgeschlagen.

Serlo, der eben zur Türe hereinkam und mit einer kurzen Frage nach dem Befinden seiner Schwester in das Buch schaute, das unser Freund in der Hand hielt, rief aus: "Finde ich Sie wieder über Ihrem ,Hamlet’! Eben recht! Es sind mir wieder einige Zweifel aufgestoßen, die mir das kanonische Ansehn, das Sie dem Stücke so gerne geben möchten, sehr zu verringern scheinen. Wie ist es mit dem Plane? besonders der zwei letzten Akte, nachdem Hamlet seine Mutter gesprochen? Es will nicht gehen noch rucken, weder reichen noch langen. Die Engländer haben es selbst bekennt." Wilhelm versetzte: "Es ist wohl möglich, daß einige Glieder der Nation, die solche Meisterstücke aufzuweisen hat, selbst das Beste verkennen; das kann uns aber nicht hindern, mit eignen Augen zu sehen und gerecht zu sein; weit entfernt zu glauben, daß der Plan dieses Stückes zu tadeln sei, halte ich vielmehr dafür, daß kein größerer jemals ersonnen worden. Ja, er ist nicht ersonnen, er ist so." – "Wie wollen Sie das machen?" fragte Serlo. "Ich will nichts machen", sagte Wilhelm, "ich will es Ihnen nur vorstellen, wie ich mir’s denke."

Aurelia hob sich von ihrem Küssen auf und stützte sich auf ihre Hand; sah unsern Freund an, der mit der größten Versicherung seines Rechtes zu reden fortfuhr.

"Es gefällt uns so wohl, es schmeichelt uns so sehr, wenn wir einen Helden sehen, der durch sich selbst handelt, der liebt und haßt, wenn es ihm sein Herz gebietet, der unternimmt und ausführt, alle Hindernisse abwendet und zu einem großen Zwecke gelangt. Die Geschichtschreiber und Poeten haben uns glauben lassen, daß ein so stolzes Los dem Menschen fallen könnte. Unser Stück lehrt anders. Hier hat der Held keinen Plan, aber das Stück hat einen. Hier ist nicht ein trivialer Gedanke von Rache, durch die eine Übeltat bestraft wird: nein, es geschieht eine ungeheure Tat, sie wälzt sich mit ihren Folgen fort, reißt Unschuldige mit, sie scheint dem Abgrunde, der ihr bestimmt ist, ausweichen zu wollen und stürzt hinein, da wo sie ihren Weg auszulaufen gedenkt. Denn das ist die Eigenschaft der Greueltat, daß sie viel Böses über den Unschuldigen, wie der guten Handlung, daß sie viel Gutes auch über den Unverdienten ausbreitet, ohne daß oft der Urheber von beiden gestraft oder belohnt werde. Hier wie wunderbar, das Fegefeuer sendet seinen Geist und fordert Rache, aber vergebens. Alle Umstände kommen zusammen und treiben die Rache, vergebens! Weder Irdischen noch Unterirdischen gelingt es, das auszurichten, was sich das Schicksal allein vorbehalten hat. Die Gerichtsstunde kommt. Der Böse fällt mit dem Guten! Ein Geschlecht wird weggemäht, und das andre tritt ein."

Nach einer Pause, da sie einander ansahen, nahm Serlo das Wort. "Sie machen der Vorsehung kein sonderbar Kompliment, indem Sie Ihren Dichter erheben, und dann scheinen Sie mir wieder zu Ehren Ihres Dichters wie andre zu Ehren der Vorsehung ihm Endzwecke und Plane zuzuschreiben, an die er nicht gedacht hat."

Eilftes Kapitel

"Lassen Sie mich", sagte Aurelia, "auch eine Frage tun? Ich habe Opheliens Rolle wieder durchgesehen und bin zufrieden damit und getraue mir, sie unter gewissen Umständen zu spielen; nur sagen Sie mir, dürfte man die Wahnsinnige nicht andere Liedchen singen lassen, es könnten ja auch Fragmente aus Balladen sein, nur nicht solche Zweideutigkeiten und Zoten, wozu das?"

"Beste Freundin", versetzte Wilhelm, "ich kann nicht ein Jota nachgeben, auch darin liegt ein großer Ausdruck. Wir sehen, womit das gute Kind im Gemüte beschäftigt war. Heimlich klangen die Töne der Lüsternheit in ihrer Seele, und sie wollte wie eine unkluge Wärterin ihre Sinnlichkeit zur Ruhe singen mit Liedchen, die sie nur mehr wach erhalten mußten. Stille lebte sie vor sich hin, und kaum verbarg sie ihre Sehnsucht und ihre Wünsche. Jetzt, da ihr jede Gewalt über sich selbst entrissen ist, da ihr Herz auf der Zunge schwebt, wird diese Zunge ihre Verräterin, und in der Unschuld des Wahnsinns ergötzt sie sich vor König und Königin an dem Nachklange ihrer lieben losen Lieder der Einsamkeit: vom Mädchen, das gewonnen ward, vom Mädchen, das zum Knaben schleicht, und so weiter."

Er hatte noch nicht ausgeredet, als auf einmal eine wunderbare Szene vor seinen Augen entstand, die er sich auf keine Weise erklären konnte.

Serlo war einige Male auf der Stube auf und ab gegangen und hatte sich unmerklich an dem Nachttische Aureliens vorbeigeschlichen; auf einmal griff er schnell nach etwas, das darauf lag, und eilte mit seiner Beute der Türe zu. Aurelie, die es bemerkte, fuhr auf, warf sich ihm in den Weg, griff ihn mit unglaublicher Leidenschaft an und war geschickt genug, ein Ende des geraubten Gegenstandes zu fassen. Sie rangen und balgten sich ganz im Ernste, er lachte, sie ereiferte sich. Sie drehten und wanden sich miteinander herum, und als Wilhelm hinzueilte, sie zu besänftigen, sie auseinanderzubringen, sah er auf einmal Aurelien mit einem bloßen Dolche in der Hand auf die Seite springen und Serlo die Scheide, die ihm zurückgeblieben war, halb verdrießlich vor sich auf die Erde werfen. Wilhelm trat erstaunt zurück, und seine verwunderte Miene schien nach der Ursache zu fragen, warum ein so sonderbarer Streit über einen so wunderbaren Hausrat habe unter ihnen entstehen können.

"Sie sollen", sprach Serlo, "Schiedsrichter sein zwischen uns. Was hat sie mit dem scharfen Stahle zu tun? Lassen Sie sich ihn zeigen. Dieser Dolch geziemt keiner Schauspielerin. Spitz und scharf wie Messer und Nadeln, zu was die Posse? Heftig wie sie ist, tut sie sich einmal von ohngefähr ein Leid. Ich habe einen innerlichen Haß gegen solche Sonderbarkeiten. Ein ernstlicher Gedanke dieser Art ist toll, und ein so gefährliches Spielwerk ist abgeschmackt." - "Ich hab ihn wieder!" rief Aurelie, indem sie die blanke Klinge in die Höhe hielt. "Ich will meinen treuen Freund nun besser verwahren. Verzeihe mir!" rief sie aus, indem sie den Stahl küßte, "daß ich dich so vernachlässigt!"

Serlo schien im Ernste böse zu werden. "Nimm es, wie du willst, Bruder", fuhr sie fort; "ich finde dich ungerecht; weißt du denn, ob nicht etwa unter dieser Form mir ein köstlicher Talisman beschert ist; was für Hülfe und Rat ich zur schlimmen Zeit bei ihm finde; muß denn eben alles schädlich sein, was gefährlich aussieht?"

"Dergleichen Reden, worin kein Verstand ist, können mich toll machen", sagte Serlo und verließ mit heimlichem Grimm das Zimmer. Aurelie verwahrte den Dolch in der Scheide, die sie von der Erde nahm, und steckte ihn zu sich. "Lassen Sie uns das Gespräch fortsetzen, wo es der unglückliche Bruder gestört hat", fiel sie ein, als Wilhelm einige Fragen über den sonderbaren Streit vorbrachte.

"Ich muß es wohl geschehen lassen, wenn Sie die gute Ophelie so schildern, denn es mag des Dichters Absicht gewesen sein; ich kann sie eher bedauren als mit ihr empfinden. Und erlauben Sie mir zu sagen, daß ich, als wir eben unterbrochen wurden, mit einer Betrachtung beschäftigt war, zu der Sie, mein Freund, mir schon in der kurzen Zeit Gelegenheit gegeben haben. Mit Verwunderung bemerkte ich an Ihnen den großen und richtigen Blick, mit dem Sie Dichtung und besonders dramatische Dichtung beurteilen. Die tiefsten Abgründe sind Ihnen nicht verborgen, und die feinsten Schattierungen sind Ihnen bemerkbar. Ohne die Gegenstände in der Natur gekannt zu haben, erkennen Sie solche im Bilde; es scheint eine Vorempfindung der ganzen Welt in Ihnen zu liegen, die durch die harmonische Berührung der Dichtkunst geregt und entwickelt wird. Denn wahrhaftig", fuhr sie fort, "von außen kommt nichts in Sie hinein! Ich habe nicht leicht jemanden gesehen, der die Menschen, mit denen er lebt, so von Grund aus verkennt wie Sie. Erlauben Sie mir es zu sagen: wenn man Sie Ihren Shakespeare erklären hört, glaubt man, Sie kämen eben aus dem Rate der Götter, die sich beredet, Menschen nach eigenem Bilde zu machen, und wenn Sie mit Leuten umgehn, sehe ich in Ihnen das erste, groß geborne Kind der Schöpfung, das mit sonderlicher Verwunderung und erbaulicher Gutmütigkeit Löwen und Affen, Schafe und Elefanten anstaunt und sie treuherzig als seinesgleichen anspricht, weil sie eben auch da sind und sich bewegen."

"Ich gestehe mein schülerhaftes Wesen und bitte um Vergebung", versetzte er. "Ich habe von Jugend auf mehr einwärts als auswärts gesehen, und da ist es sehr natürlich, daß ich den Menschen bis auf einen gewissen Grad habe kennenlernen, ohne mich auf die Menschen im geringsten zu verstehen."

"Gewiß", sagte Aurelie, "ich habe im Anfange geglaubt, Sie hielten sich über uns auf, wenn Sie von den Leuten, die Sie bei uns sahen, so manches Gute sprachen. Ihr vortrefflicher Tarconi ist nichts mehr und nichts weniger als ein Pedante und ein Marktschreier dazu. Die Freundschaft zwischen Philibert und Celio ist ein einfaches Possenspiel; dieser, ein mittelmäßiger Musikus, ein schlechter Mensch, macht jenen glauben, was er will, schmeichelt ihm und kommt seinen Lüsten und Begierden zuvor, nur damit der lebhafte, überall wohl aufgenommene, talentreiche junge Künstler ihn mit sich schleppe, und alle Vorteile mit ihm teile. Was ist Ihre ganze Gesellschaft, die Sie meinem Bruder empfohlen, für ein erbärmliches Volk! Daß Sie sich an Horatio betrogen, verzeihe ich Ihnen eher. Diese prächtige Apollosfigur, dieser Anstand, dieses Betragen scheint etwas zu verkündigen, und man sollte nicht denken, daß das Ganze ein lebloser Klotz sein würde, wenn nicht glücklicherweise der Fiedelbogen erfunden wäre, um einige Töne aus ihm hervorzuziehen." Wilhelm stand beschämt vor ihr, niemand hatte ihn so mit sich selbst bekannt gemacht; er antwortete nichts, sondern dachte zurück und sann über sich selbst, es war, als wenn ihm ein Nebel von den Augen fiel.

"Sie dürfen nicht darüber betreten sein", rief Aurelie, "das ist eine schöne Eigenschaft eines jungen Dichters und Künstlers, denn beides sind Sie, wenn Sie auch sich nicht dafür ausgeben wollen. Diese Dunkelheit und Unschuld ist wie jene Hülle, die eine Knospe einschließt und nährt; Unglücks genug, wenn wir zu früh hinausgetrieben werden. Gewiß ist es gut, wenn wir die nicht immer kennen, für die wir arbeiten.

So war mir es auch, als ich mit dem höchsten Begriff von meiner Nation auf der Bühne erschien. Was waren die Deutschen nicht! was konnten sie nicht sein! Zu dieser Nation sprach ich, über die mich ein kleines Gerüste erhob, von welcher mich eine Reihe Lampen trennten, deren Glanz und Dampf mich hinderte, die Gegenstände vor mir genau zu unterscheiden. Wie willkommen war mir der Klang des Beifalls, der mir da herauftönte, und welch eine köstliche Masse war das Geschenk, welches von so vielen Händen mir einstimmig dargebracht wurde! Lange wiegte ich mich so hin. Wie ich würkte, würkte die Menge wieder auf mich zurück, ich und mein Publikum waren in dem besten Vernehmen, in der besten Harmonie miteinander; und im Gefolge meines Publikums erblickte ich jederzeit die Nation, alle Edle und Gute! Unglücklicherweise war es nicht die Schauspielerin allein, die einen großen Teil der Theaterfreunde interessierte, sie machten an das junge, lebhafte Mädchen mehr Ansprüche. Viele wünschten, daß ich die Empfindungen, die ich in ihnen rege gemacht, mit ihnen teilen möchte, und leider war das gar meine Sache nicht. Ich wünschte, ihre Gemüter zu erheben, an das, was sie ihr Herz nannten, hatte ich nicht den mindesten Anspruch, und nun war mir immer einer nach dem andern zur Last. Alle Stände, Alter und Charaktere, jeder machte Versuche nach seiner Art, und ich ließ jeden nach meiner Art ablaufen. Nichts war mir verdrüßlicher, als daß ich mich nicht wie ein andres ehrliches Mädchen in meinem Zimmer verschließen und so mir manche Mühe ersparen konnte. Die Männer zeigten sich nun alle auf der Seite, wie ich sie bei meiner Tante zu sehen gewohnt war; sie würden mir auch hier wieder abscheulich gewesen sein, wenn mich nicht ihre Eigenheiten und Albernheiten unterhalten hätten. Da ich nicht vermeiden konnte, sie auf dem Theater und auch im Hause zu sehen, nahm ich mir vor, alle auszulauren, und mein alter, werter Freund, der die Welt fürtrefflich kannte, half mir wacker dazu, und wenn Sie denken, daß von dem abgeschmackten Ladendiener und dem eingebildeten Kaufmannssohn bis zum gewandten, abwiegenden Weltmann, dem kühnen Soldaten und dem gerad eingreifenden Prinzen alle nach und nach bei mir vorbeigegangen, der eine seinen Roman von vorn, der andre ihn von hinten anzuknüpfen Anstalt machte, so werden Sie mir zugeben, daß ich allenfalls glauben durfte, mit meiner Nation ziemlich durchgekommen zu sein.

Den phantastisch aufgestutzten Studenten, den demütig verlegenen Gelehrten, den schwankfüßigen, genügsamen Domherrn, den steifen, aufmerksamen Geschäftsmann, den unwissenden Baron, den freundlich glatt-platten Hofmann, den jungen, aus der Bahn schreitenden Geistlichen, den gelaßnen Reichen sowie den schnell spekulierenden, beweglichen Kaufmann, alle hab ich das Vergnügen gehabt manövrieren zu sehen, und beim Himmel, nur wenige fanden sich darunter, die mir ein gemeines Interesse einzuflößen imstande gewesen wären, vielmehr war es mir äußerst verdrüßlich, den Beifall der Narren im einzelnen mit größter Beschwerlichkeit und Langerweile einzukassieren, der mir im ganzen so wohl behagt hatte, den ich mir als große Masse so gern zueignete. Ich fing an, sie alle von Herzen zu verachten, und es war mir eben, als wenn die ganze Nation sich recht vorsätzlich durch Abgesandte bei mir hätte prostituieren wollen. Sie kamen mir in ganzen so links vor, so übel erzogen, so schlecht unterrichtet, so gefälligen Wesens leer, so geschmacklos; ,denn’, sagte ich oft, ,es kann ein Deutscher keinen Schuh zuschnallen, der es nicht von einer fremden Nation gelernt hat.’

Sie sehen, wie verblendet hypochondrisch ich war, und je länger es währte, desto mehr nahm meine Krankheit zu. Ich hätte mich hängen können, allein ich fiel auf ein ander Extrem, ich verheuratete mich, oder vielmehr, ich ließ mich verheuraten. Mein Bruder, der das Theater übernommen hatte, wünschte sehr, einen Gehülfen zu haben, mein alter Freund wollte mich vor seinem Ende versorgt wissen, ihre Wahl fiel auf einen jungen Mann, der mir nicht zuwider war, dem alles mangelte, was mein Bruder besaß: Genie, Leben, Geist und rasches Wesen, an dem sich aber auch alles fand, was jenem abging: Liebe zur Ordnung, Fleiß, eine köstliche Gabe hauszuhalten, mit Geld umzugehen.

Er ist mein Mann geworden, ohne daß ich weiß wie; wir haben zusammen gelebt, ohne daß ich recht weiß warum; genug, unsre Sachen gingen gut, wir nahmen viel ein; daran war die Anstelligkeit meines Bruders Ursache; wir kamen damit aus, und dies war das Verdienst meines Mannes. Ich dachte nicht mehr an Welt und Nation. Mit der Welt hatte ich nichts zu teilen, und die Nation verachtete ich, oder vielmehr ich dachte gar nicht an sie. Wenn ich auftrat, tat ich es, um zu leben, und wenn ich den Mund auftat, geschah es, weil ich nicht schweigen durfte, weil ich doch herausgekommen war, um zu reden.

Doch, daß ich es nicht zu arg mache! Eigentlich hatte ich mich ganz in die Absichten meines Bruders ergeben, ihm war um Beifall und Geld zu tun (denn unter uns, er hört sich gerne loben und braucht viel). Ich spielte nun nicht mehr nach meinem Gefühle, nach meiner Überzeugung, sondern wie er es anwies, und wenn ich es ihm zu Danke gemacht hatte, war ich zufrieden. Es ging Geld ein, er konnte nach seiner Willkür leben, und wir hatten gute Tage mit ihm.

Ich war indessen in einen handwerksmäßigen Schlendrian gefallen, ich zog meine Tage ohne Freude, ohne Anteil dahin, meine Ehe war kinderlos und dauerte kurze Zeit. Mein Mann war krank, und wie seine Kräfte im Abnehmen waren und ich außer der Sorge für ihn in einer allgemeinen Gleichgültigkeit lebte, machte ich eine Bekanntschaft, mit der ein neues Leben für mich anfing, ein neues und schnelleres, denn es wird mich frühzeitiger beiseite bringen."

Sie schwieg eine Zeitlang stille, dann fuhr sie fort: "Auf einmal stockt meine geschwätzige Laune, und ich getraue mir den Mund nicht weiter aufzutun! Lassen Sie mich ein wenig ausruhen, und wenn wir allein bleiben, so sollen Sie nicht weggehen, ohne ausführlicher zu wissen, was Ihnen schon bekannt ist. Rufen Sie doch indessen Mignon herein und hören, was er will."

Das Kind war während Aureliens Erzählung einigemal im Zimmer gewesen. Da es hörte, daß man bei seiner Ankunft leiser sprach, hatte es sich wieder weggemacht und saß auf dem Saale still und wartete.

Als man sie hereinkommen hieß, brachte sie ein Buch mit, das man bald an Form und Einband für einen kleinen geographischen Atlas erkannte. Sie hatte bei dem Pfarrer unterwegs mit großer Verwunderung die ersten Landkarten gesehn und sich durch hundert Fragen, soweit es gehen wollte, unterrichtet; ihr unmäßiges Verlangen, etwas zu lernen, schien durch diese neue Kenntnis noch viel lebhafter zu werden. Sie bat Wilhelmen inständig, ihr das Buch zu kaufen, sie habe dem Bildermann ihre silberne Schnallen dafür eingesetzt und wolle sie, weil es heut abend zu spät geworden, morgen früh wieder einlösen. Es ward ihr bewilligt, sie schlug nun das Buch mit großer Freude auf und fing an, dasjenige, was sie wußte, teils herzusagen, teils nach ihrer Art die wunderlichsten Fragen zu machen. Man konnte auch hier wieder bemerken, daß bei einer großen Anstrengung ihr alles sehr schwer wurde. Ein Gleiches sah man an ihrer Handschrift, über welcher sie sich so viel Mühe gegeben hatte. Sie sprach noch immer sehr gebrochen deutsch, und nur wenn sie den Mund zum Singen auftat, wenn sie die Zither rührte, schien sie sich des einzigen Organs zu bedienen, wodurch sie ihr Inneres aufschließen und mitteilen konnte. Wir müssen, da wir von ihr sprechen, auch der Verlegenheit gedenken, in die sie neuerdings unsern Freund versetzte. Bei einer jeden Gelegenheit des Kommens oder Gehens, eines "guten Morgens" oder einer "guten Nacht" schloß sie ihn so fest in ihre Arme und küßte ihn mit solcher Inbrunst, daß es ihm vor der Heftigkeit dieser aufkeimenden Natur oft angst und bange ward. Die zuckende Lebhaftigkeit vermehrte sich in ihrem Betragen, und ihr ganzes Wesen bewegte sich in einer rastlosen Stille. Oft, wenn sie gelassen dazustehen schien, bemerkte man, daß sie mit den Zähnen zusammenschlug oder ganz leise knirschte, sie mußte auch immer etwas in den Händen haben, ein Tuch, das sie knetete, einen Bindfaden, den sie drehte, und immer nicht mit einem leichten Ausdruck des Spielens, sondern nur, als wenn eine innerliche heftige Erschütterung dadurch abgeleitet würde.

Da sie diesmal ihren Fragen kein Ende machte, ward Aurelia ungeduldig, die sich eben in einer Stimmung befand, um mit unserm Freunde über einen Gegenstand, der ihr so sehr am Herzen lag, weiter eine Unterredung zu wünschen; man gab es der Kleinen deutlich genug zu verstehen und schickte sie endlich, da es nicht helfen wollte, fort.

"Jetzt oder niemals", sagte Aurelie, "muß ich Ihnen den Überrest meiner Geschichte erzählen. Wäre mein zärtlich geliebter ungerechter Freund nur wenige Meilen von hier, ich würde sagen: ,Setzen Sie sich zu Pferde, machen Sie auf irgendeine Weise Bekanntschaft mit ihm, und wenn Sie zurückkehren, so haben Sie mir verziehen und bedauren mich.’ Eben zu der kritischen Zeit, da ich für meines Mannes Tage besorgt war, lernte ich ihn kennen, er war von Reisen zurückgekommen, und sein Gesellschafter trennte sich von ihm.

Er begegnete mir mit einem gelaßnen Anstande, mit einer offnen Gutmütigkeit, sprach über mich selbst und meine Lage, mein Spiel, daß mich seine erste Unterredung gleich aufmerksam machte. Seine Urteile waren richtig, ohne absprechendes Wesen, treffend, ohne lieblos zu sein; wurde er auch manchmal hart, so stand’s ihm nicht übel, und sein Mutwille war zugleich gefällig, Er schien des guten Glücks bei Frauen gewohnt zu sein, das machte mich aufmerksam; er war keineswegs schmeichelnd und andringend, das machte mich sorglos.

Er ging mit wenigen um, war meist zu Pferde und besuchte seine vielen Bekanntschaften in der Gegend; kam er zurück, so stieg er bei mir ab, behandelte meinen immer kränkern Mann mit warmer Sorge, schaffte dem Leidenden durch einen geschickten Arzt Linderung, und wie er an allem, was mich betraf, teilnahm, ließ er mich auch an dem Seinigen teilnehmen. Er erzählte mir, wie er als zweiter Sohn erst dem Soldatenstande, zu dem er eine unüberwindliche Neigung fühle, gewidmet gewesen, wie er nachher durch den Tod seines ältern Bruders genötigt worden, sich den Absichten der Familie zu fügen; er habe reisen, sich mit Dingen beschäftigen müssen, die ihn wenig interessierten. Genug, er hatte nichts Verborgenes vor mir, er entwickelte mir seine Seele, seine Geschichte, seine Fähigkeiten, seine Leidenschaften, alles nahm mich mit, alles, alles riß mich hin.

Zwischen diesem verlor ich meinen Mann, ohngefähr wie ich ihn genommen hatte, und die Sorge für das Ganze fiel nach seinem Tode auf mich. Denn mein Bruder wollte nur agieren und leben und nicht sorgen; ich ward höchst geschäftig, studierte meine Rollen fleißiger als jemals und spielte wieder wie vor alters, ja mit ganz anderer Kraft und Leben. Nicht immer spielte ich zum besten, wenn ich wußte, daß mein edler Freund im Schauspiel war; einigemal behorchte er mich, und wie angenehm mir alsdann sein unvermuteter Beifall entgegenkam, mögen Sie denken. Gewiß, ich bin ein seltsames Geschöpf! wenn ich eine Rolle spielte, war mir es eigentlich nur immer, als wenn ich ihn lobte, denn das war die Stimmung meines Herzens, die Worte mochten übrigens sein, wie sie wollten. Wußte ich ihn unter den Zuhörern, so schämte ich mich, mit der ganzen Gewalt zu sprechen und zu agieren, als wenn ich ihm das Lob nicht geradezu ins Gesicht sagen wollte; war er abwesend, alsdann hatte ich freies Spiel, und gewiß, ich ließ es an nichts fehlen. Auch war mir wie durch ein Wunder das Verhältnis zum Publikum, zu der ganzen Nation verändert. Sie erschien mir auf einmal wieder in dem vorteilhaftesten Lichte, ich kann nicht sagen, wie ich erstaunte, und noch ist mir unbegreiflich, wie solche Veränderung der Vorstellungsart in uns geschehen könne.

,Wie unverständig’, sagte ich oft zu mir, ,warst du, als dir ehemals die Nation mißfiel, eben weil sie eine Nation ist. Eine Masse von Menschen, unter die eine Menge von Anlagen und Kräften verteilt ist, ohne daß sie eigentlich einen gemeinen Endzweck haben, ohne daß sie einzeln interessant sind; denn dadurch werden sie eben zusammen zu einem Elemente, auf das ein vorzüglicher Mensch würken kann.’ Ich freute mich darüber, daß sie geboren seien, um geführt zu werden, ich liebte sie deswegen, denn ich glaubte, ihnen einen Anführer gefunden zu haben.

Lothar hatte mir immer die Deutschen von der Seite ihrer Tapferkeit vorgestellt und mich versichert, daß keine bravere Nation in der Welt sei, wenn sie recht geführt werde. Dies fiel mir auf, und ich schämte mich, daß ich niemals an diese erste Eigenschaft gedacht hatte. Ich fing nun bald an, meine Denkensart zu verbessern, ich fragte nicht mehr nach Bildung, nach Art und Weise und ließ mir die rauhe und unansehnliche Schale des trefflichen Kerns wegen gefallen. Nun sprach ich wie begeistert, mittelmäßige Verse wurden zu Gold in meinem Munde, und hätte ein Dichter mir beigestanden, ich hätte Wunder der Würkung hervorgebracht. So lebte Ihre junge Witwe monatelang fort. Er konnte mich nicht entbehren, ich war höchst unglücklich, wenn er ausblieb; er zeigte mir die Briefe seiner Verwandten, seiner fürtrefflichen Schwester, er war von jeder Kleinigkeit meines Zustandes unterrichtet, eine vollkommnere, innigere Einigkeit ist nie gedacht worden, der Name der Liebe ward nicht genannt.

Er ging und kam, kam und ging – und nun, mein Freund, ist es hohe Zeit, daß Sie auch gehen."

Zwölftes Kapitel

Unser Freund stand nun zwischen Bruder und Schwester inne, die ihm gleich wert waren und deren jedes eine Hälfte seines Wesens ergriff, nährte und beschäftigte. Das Schicksal Aureliens rührte ihn tief, ohne daß er Zärtlichkeit für sie empfunden hätte, ihr leidenschaftlicher Verstand rief seine Gutmütigkeit aus ihrem kindlichen Taumel zurück und leitete ihn aus der idealischen Welt in die wahre herüber; er erstaunte, indem er sich gleichsam selbst erst gewahr wurde und durch die Vergleichung mit andern auf seinen eignen Platz gewiesen ward. Auch konnte er keinen erwünschtern Lehrer und Führer in seiner Lieblingskunst antreffen, als Serlo war, der nicht allein auf dem Theater wie in seinem eignen Elemente auf das vorteilhafteste erschien, sondern auch über die Kunst, die er von Jugend auf übte, gedacht hatte. Er war im eigentlichsten Verstand auf den Brettern geboren, hatte als Kind schon den Harlekin, der aus dem Ei kriecht, den Amor, der aus einer Wolke kommt, und den allerliebsten Schornsteinfegerjungen mit der kleinen weißen Leiter zum großen Vergnügen des Publikums vorgestellt. Als Knabe übte er seine ersten schelmischen Talente an der Monotonie der übrigen Schauspieler und wußte jeden so vollkommen in Stimme und Wesen und Gebärden nachzuahmen, daß jeder, ob er sich gleich verspottet fühlte, dennoch über ihn lachen mußte. Ein vortreffliches Gedächtnis kam ihm zu Hülfe, er wußte ganze Stücke auswendig, und sein glückliches Naturell fand jeden Ausdruck, nur das Rührende, Herzliche nicht. Unruhe und Furcht vor den Folgen einiger leichtfertiger Streiche trieben ihn, da er kaum vierzehn Jahr alt war, von den Seinigen weg. Wenig verlegen, sein Fortkommen zu finden, wagte er vor Hohen und Niedern, vor dem Volke und vor Kennern ein noch unerhörtes Schauspiel, indem er ganz allein ganze Trauer- und Lustspiele aufzuführen sich unterstand, in jedem Zimmer, in jedem Garten sich aus dem Stegreife ein Theater zurechtzubauen wußte und ohne Illusion der Szene durch glücklichen Vortrag den Zuschauer unterhielt und ergötzte. Alle forcierten Charaktere ahmte er vortrefflich nach, die Stimme der Weiber und Kinder gleichfalls bis zum Betören, und niemand hat wohl besser als er die Karikatur eines jüdischen Rabbinen vorgestellt; den vertrackten Eifer, den sinnlichen, ekelhaften Enthusiasmus, die verrückten Gebärden, das verworrene Gemurmel, das scharftönende Geschrei, die weichlichen Bewegungen und augenblicklichen Anspannungen, die Verschrobenheit eines veralteten Unsinns hatte er so fürtrefflich ergriffen und gab sie in einem solchen Brennpunkte wieder, daß diese Abgeschmacktheit einen jeden geschmackvollen Menschen auf eine Viertelstunde glücklich machen konnte. Er hatte die Gefälligkeit, unsern Freund nach und nach mit allen solchen Kunststücken zu bewirten, und dieser hatte seine außerordentliche Freude daran; denn obgleich dieses alles völlig außer seiner Manier lag, so war es doch das erste, was er im wahren dramatischen Geist und Sinne kennenlernte, und er konnte auch für sich daraus Lehren und Beispiel nehmen.

Es wäre dieses alles fürtrefflich und gut gewesen, wäre nicht Melina mit den Seinigen manchmal als ein böser Geist im Hintergrunde erschienen. Diese Unglücklichen, denen es allenthalben zu fehlen anfing, trauten einige Zeitlang Philinens Worten, auch hatten sie noch nicht ganz aufgegeben, durch sie zu Brote zu kommen, nur setzten sie Wilhelmen schärfer zu, daß er auch das Seinige beitragen solle. Dargegen hatte er seinen Freund Serlo zu bereden gesucht, diesen aber beredete man zu nichts, was nicht zu seinem Vorteile war, vielmehr suchte er nach und nach unserm Freunde begreiflich zu machen, wie schön es sei, wenn er sich selbst entschlösse, auf das Theater zu gehen. Besonders war er dringender nach der Entdeckung, die ihm Philine heimlich gemacht hatte, daß Wilhelm schon einmal gespielt habe und daß es also desto wahrscheinlicher sei, man werde seine Leidenschaft für die Bühne eher nützen und ihn fesseln können. Nachdem auf diese Weise Wilhelm einen ganzen Nachmittag bei Serlo zugebracht hatte, eilte er zu Aurelien, die er auf ihrem Ruhebette fand.

Sie schien stille. "Glauben Sie noch, morgen spielen zu können?" fragte er. "O ja", versetzte sie lebhaft, "Sie wissen, daran hindert mich nichts. Wenn ich nur ein Mittel wüßte, um das Klatschen unsers Parterres abzulehnen, sie meinen es gut und werden mich noch umbringen. Vorgestern dachte ich, das Herz müßte mir reißen. Sonst konnte ich es wohl leiden, wenn ich mir selbst gefiel, wenn ich lange studiert, mich vorbereitet hatte und das willkommene Zeichen, es sei gelungen, von allen Enden widertönte. Jetzo! ich sage nicht, was ich will, nicht, wie ich’s will, ich bin hingerissen, ich verwirre mich, und mein Spiel macht weit größern Eindruck, der Beifall wird lauter, und ich denke: ,Wüßtet ihr, was euch entzückt! daß es die tiefsten Schmerzen der Seele sind, der ihr euer Wohlwollen geschenkt habt!’

Heute früh hab ich gelernt, jetzt wiederholt, versucht und bin müde und zerbrochen, morgen geht es wieder von vorn an, morgen abend soll gespielt werden, und so schlepp ich mich, stehe auf und gehe zu Bette. Alles macht einen ewigen Zirkel in mir; dann treten alle leidige Tröstungen vor mir auf, dann werfe ich sie weg und verwünsche sie. Ich will mich nicht ergeben, warum soll das notwendig sein, was mich zugrunde richtet? Vielleicht könnte es auch anders sein! Ich muß es eben bezahlen, daß ich eine Deutsche bin. Es ist der Charakter der Deutschen, daß sie über allem schwer werden und daß alles über ihnen schwer wird."

"Ja, meine Freundin, wenn Sie es nicht so hart nähmen!"

"Es ist hart genug!" fiel sie ihm ein.

"Bleibt Ihnen denn nichts", versetzte er, "Ihre schönen Tage, Ihre Gesundheit, Ihre Kunst? Wenn Sie ein Gut ohne Ihr Verschulden verloren haben, müssen Sie das übrige alles hinterdreinwerfen? ist das auch notwendig?"

Sie schwieg einige Augenblicke, dann fuhr sie von neuem auf: "Ich weiß es wohl, daß es Zeitverderb ist, nichts als Zeitverderb ist die Liebe! Was hätte ich nicht tun können! tun sollen! Es ist nichts, alles rein nichts geworden, ich bin ein armes, armes, verliebtes Geschöpf, nichts als verliebt! Haben Sie Mitleiden mit mir, bei Gott, ich bin ein armes Geschöpf!" Und nach einer Pause rief sie aus: "Sie sind gewohnt, daß sich Ihnen alles an den Hals wirft, nein, Sie können es nicht fühlen, es ist kein Mann, der den Wert eines Weibes fühlen kann, das sich zu ehren weiß. Bei allen heiligen Engeln, bei allen Bildern der Seligkeit, die sich ein reines, gutmütiges Herz zu erschaffen vermag, es ist nichts Süßeres als eine weibliche Seele, die sich ergibt.

Wir sind kalt, stolz, hoch, klar, klug, wenn wir verdienen, Weiber zu heißen, und das alles – -! Ich will verzweifeln, recht absichtlich verzweifeln! Es soll nicht ein Blutstropfen in mir sein, der nicht gestraft wird, keine Faser, die ich nicht peinigen will.

Lächeln Sie, lachen Sie nur über den theatralischen Aufwand von Leidenschaft!"

Wilhelm fühlte sich weit entfernt von jeder Anwandlung zum Lachen, er war von dem entsetzlichen, halb natürlichen und halb erzwungenen Zustande seiner Freundin aufs innerlichste gepeiniget, er empfand die Folter der unglücklichen Anspannung mit, sein Gehirn zerrüttete sich, und sein Blut war in einer fieberhaften Bewegung.

Sie war aufgestanden und ging in der Stube hin und wider. "Ich sage mir alles vor", rief sie aus, "warum ich ihn nicht lieben sollte, ich weiß auch, daß er es nicht wert ist, ich wende mein Gemüte ab, dahin und dorthin, ich beschäftige mich. Bald nehme ich eine Rolle vor, wenn ich sie auch nicht zu spielen habe, ich übe die alten, die ich durch und durch kann, fleißiger und fleißiger ins einzelne, und übe und übe – mein Freund, mein Vertrauter, welch entsetzliche Arbeit ist es, sich so mit Gewalt von sich zu entfernen!

Mein Verstand leidet, mein Gehirn ist so angespannt, und um mich vom Wahnsinn zu retten, überlasse ich mich wieder dem Gefühle, daß ich ihn liebe – ja, ich lieb ihn! ich lieb ihn!" rief sie unter lauten Tränen, "ich lieb ihn! und so will ich sterben!"

Er faßte sie bei der Hand und bat sie auf das inständigste, sich nicht selbst aufzureiben.

"Oh", sagte er, "wie sonderbar ist es, daß den Menschen nicht allein so manches Unmögliche, sondern auch so manches Mögliche versagt ist! Sie waren nicht bestimmt, ein treues Herz zu finden, das Ihre Glückseligkeit würde gemacht haben. Ich war dazu bestimmt, das ganze Heil meines Lebens an eine Unglückliche fest zu knüpfen, die ich durch die Schwere meiner Treue wie ein Rohr zu Boden zog, ja vielleicht gar zerbrach." Er hatte Aurelien seine Geschichte mit Marianen vertraut und konnte sich also jetzt darauf beziehen.

Sie sah ihm starr in die Augen und fragte: "Können Sie sagen, daß Sie noch niemals ein Weib betrogen, daß Sie keine mit leichtsinniger Beteurung, frevelhafter Galanterie, herzlockenden Schwüren zu Ihren Wünschen zu neigen gesucht?" – "Ich kann es", versetzte Wilhelm, "ohne mich zu rühmen; mein Leben war sehr einfach, und ich bin selten in die Versuchung geraten zu versuchen. Und welche Warnung, meine schöne, meine edle Freundin, gibt mir der traurige Zustand, in den ich Sie versetzt sehe! Nehmen Sie ein Gelübde von mir, das der Natur meines Herzens ganz angemessen ist, dessen Förmlichkeit durch die Rührung, in die Sie mich versetzt haben, geheiligt wird! Jeder flüchtigen Neigung will ich widerstehen und selbst die ernstlichen in meinem Busen bewahren, kein weibliches Geschöpf soll ein Bekenntnis der Liebe von meinen Lippen vernehmen, dem ich nicht mein ganzes Leben widmen kann!"

Sie sah ihn mit einer wilden Gleichgültigkeit an und entfernte sich, als er ihr die Hand zum Gelöbnis reichte, um einige Schritte.

"Es ist nichts daran gelegen", sagte sie: "so viel Weibertränen mehr oder weniger, die See wird darum doch nicht wachsen. Doch", fuhr sie fort, indem sie sich umkehrte, "unter Tausenden eine! das ist doch etwas, von Tausenden ein Redliches, es ist anzunehmen! Wissen Sie auch, was Sie versprechen?"

"Ich weiß es", versetzte Wilhelm lächelnd und hielt seine Hand hin. "Ich nehme es an", versetzte sie – – – Wilhelm hatte die Hand noch ausgestreckt, sie machte eine Bewegung mit ihrer Rechten, und er glaubte, sie würde die seine fassen. Aber schnell fuhr sie in die Tasche, riß den Dolch wie der Blitz heraus und fuhr mit Spitze und Schneide ihm rasch und leicht über die Hand weg; er zog sie schnell zurück, aber schon lief das Blut herunter. "Man muß euch Männer scharf zeichnen, wenn ihr merken sollt", rief sie mit einer Zufriedenheit aus, die aber bald in emsige Hastigkeit überging. Sie nahm ihr Schnupftuch und umwickelte seine Hand damit, um das erste hervordringende Blut zu stillen. "Verzeihen Sie", rief sie aus, "einer Halbwahnsinnigen und lassen Sie sich diese Tropfen Bluts nicht reuen, sie haben mich wieder zu mir selbst gebracht, auf meinen Knien will ich es abbitten. Ich will Sie heilen, das ist meine Sache." Sie eilte nach ihrem Schranke, holte Leinwand, Pflaster und Geräte, stillte das Blut und besah die Wunde sorgfältig. Der Schnitt ging durch den Ballen gerade unter dem Daumen, teilte die Lebenslinie und lief unter dem kleinen Finger aus; sie verband ihn stille und mit einer nachdenklichen Bedeutsamkeit in sich gekehrt. Er fragte einigemal: "Beste, wie konnten Sie Ihren Freund verletzen?" – "Still!" erwiderte sie, indem sie den Finger auf den Mund legte, "still!"

Dreizehntes Kapitel

Serlo, dem nichts angelegener war, als Wilhelmen bei seiner Truppe zu besitzen, hatte von ihm ausgeforscht, was er für Handelsfreunde in der Stadt habe, mit denen sein Vater in Verbindung stehe. Sobald als er es erfahren, wußte er sich gar bald zu erkundigen, was für Nachrichten von dem Meisterischen Hause hier und da eingelaufen. Man hinterbrachte ihm, es seien schon seit einiger Zeit Briefe da, welche den Tod des alten Meisters meldeten, die Wittib, glaube man, werde kaum das Trauerjahr abwarten, um einen lang und viel geliebten Freund zu heuraten. Der Schwiegersohn Werner habe die Handlung völlig übernommen, und der ältere Sohn sei auf einer Reise unsichtbar geworden; man denke, da er von Jugend auf etwas Besonderes gezeigt und zur Handlung nicht viel Lust empfunden, er sei bei ausgebrochenem Kriege unter die Soldaten gegangen, um auf diesem Wege sein Glück zu versuchen.

Serlo hielt diese Nachrichten zu seiner Absicht sehr willkommen, eilte damit zu Aurelien und gab ihr nicht undeutlich zu verstehen, daß er diesen Plan auch mit um ihretwillen gemacht habe. "Mein lieber Bruder", sagte sie mit einem tiefen Seufzer, "ich wünsche deinen Unternehmungen alles Gute, und ich bin überzeugt, daß du an diesem jungen Manne eine sehr gute Eroberung machen würdest; was mich betrifft, wünschte ich nicht, daß jemand auf mich Rücksicht nehme, ich gehöre nicht mehr unter die Zahl der hoffenden Wesen, und wer auf mich rechnet, würde sich wahrscheinlich sehr betrogen finden." – "Hoffnung", versetzte Serlo, "ist das schönste Erbteil der Lebendigen, dessen sie sich nicht einmal, auch wenn sie wollten, entäußern könnten, und wenn du zu heilen bist, meine Gute, so ist es dieser Freund allein imstande."

"Bruder", versetzte Aurelie, "du hast die böse Unart, Dinge zu sagen, die man besser verschwiege und der Zeit überließe."

Er lächelte und fragte, ob sie Wilhelmen die Nachrichten überbringen oder es ihm überlassen wollte?’ Sie bat ihn, es selbst zu tun.

Es vergingen einige Tage, ehe Serlo Gelegenheit fand, unsern Freund von dem Schicksale seiner Familie zu unterrichten, indessen verging kein Tag, daß dieser nicht Aurelien näher geworden wäre.

Die Notwendigkeit, sich von ihr verbinden zu lassen, ihre Sorgfalt, ihre Trauer und Gutmütigkeit gewannen ihr die freundschaftlichsten Gesinnungen seines Herzens, und sie fand sich in seinem Umgange sehr erleichtert.

Sie hatte einen gar zierlichen Überzug von schwarzem Taffet über seine Hand verfertigt. "Ich hoffe", sagte sie mit Ernst, "Sie sollen bald geheilt sein, aber ich denke auch, das Merkmal dieser Wunde soll sich Ihr Leben durch nicht verwachsen. Sie sind redlich, mein Freund, doch welcher Mann bedarf nicht einer steten Erinnerung! Verließe Sie Ihr guter Geist und wagten Sie es, Ihre Hand auszustrecken und wider Ihr Gelübde ein Weib zu locken, der Ihr Herz sich nicht geweiht hätte, dann sehen Sie auf die Schramme und ziehen zurück, da es noch Zeit ist."

Serlo ergriff die erste Gelegenheit, unserm Freunde die Nachricht vom Zustande der Seinigen ohne große Vorbereitung zu hinterbringen, und wir können denken, wie sehr Wilhelm davon betroffen war. Ohne ihn zu sich kommen zu lassen, wiederholte Serlo eifrig seinen Antrag. "Sie können es nun ohne Bedenken tun", fügte er hinzu; "weil Ihre Familie die Sorge schon überstanden hat, Sie in der Kriegsgefahr zu glauben, so wird es ihr zu doppelt- und dreifachem Troste gereichen, Sie mit einem angenehmen, gefälligen Gewerbe beschäftiget zu sehen."

Wilhelm hatte ihm nicht viel einzuwenden, als daß ihm dieser Schritt unüberwindlich schiene. Sein Herz war dazu geneigt, und ein Etwas, das keinen Namen hat, widersetzte sich seinem Verlangen.

Serlo bestürmte ihn auf alle Weise, er bot ihm ansehnliche Vorteile an, ja endlich einen Teil des Gewinstes, und da das alles nicht helfen wollte, trat er mit dem stärksten Argumente hervor, das er bis zuletzt aufgespart hatte.

"Sie können mein Verlangen, Sie dem Theater zu gewinnen, nicht besser erkennen, als wenn ich Ihnen noch anbiete, Ihre ganze Gesellschaft zugleich mitzunehmen und Sie dadurch eines beschwerlichen Versprechens zu entledigen."

"Und wie? " sagte Wilhelm halb unwillig, "werden die Menschen, die Sie bisher so sehr verachtet, dadurch besser?" "besser werden sie nicht", antwortete Serlo, "aber es ist die einzige Art, wie sie mir brauchbar werden können. Ich will Ihnen meinen Plan vorlegen, und Sie werden sehen, daß er ohne Sie nicht ausgeführt werden kann. Sie wissen, daß der Akteur, der die ersten Liebhaberrollen bei mir spielt, ob er gleich eine gute Figur und angenehme Stimme hat, doch weit entfernt von der Vollkommenheit ist, die man einem solchen Gegenstande wünschen mag. Es fehlt ihm ein gewisses Feuer, ein Nachdruck, der sich durch ein schmachtendes und gefälliges Wesen nicht ersetzt. Demungeachtet habe ich nicht allein mit ihm zufrieden sein müssen, sondern ich muß auch seine Frau und seinen ganzen Anhang menagieren. Kann ich ihn entbehren, so mögen die übrigen auch ziehen, und ich kann Ihre ganze Truppe alsdann mehr oder weniger brauchen oder unterstecken.

Die Frau meines ersten Liebhabers spielt Mütterrollen, Königinnen und dergleichen; Madame Melina würde sie nicht schlimmer, vielleicht besser machen. Sein Bruder würde durch den sogenannten Laertes ersetzt, der wenigstens Hoffnung gibt, noch um vieles besser zu werden. Zugleich geht ein Frauenzimmer ab, an deren Stelle unsre Philine treten kann, einige andere schicke ich ohnedies fort, bei deren Rollen es gleichgültig ist, ob sie ein wenig besser oder schlimmer gespielt werden; der Pedante und alle sollten ihr Plätzchen finden. Melina soll Garderobemeister werden, um den Motten zu wehren.

Sehen Sie, daß ich mir jetzt nicht widerspreche, indem ich diejenigen anzunehmen erbötig bin, gegen die ich mich so ernstlich gewehrt habe. Löschen Sie sich aus dem Plane weg, und Sie werden finden, daß nicht mehr der geringste Teil daran auszuführen ist. Denken Sie meinen Vorschlägen nach und bedenken, was Sie durch einen solchen Entschluß sich, uns, der verlassenen Gesellschaft und dem Publiko für einen wesentlichen Dienst erzeigen.

Noch ein Wort", sagte Serlo, als er die Tür in der Hand hatte; "wenn Sie sich jetzo nicht entschließen, so tun Sie es vielleicht in vierzehn Tagen. Ich habe gegründete Hoffnung, daß ein Frauenzimmer meine Bühne betreten wird, die noch auf keiner erschienen ist, die aber im stillen wie Sie unsere Kunst mit Leidenschaft geübt, hat. Die schönste, ansehnlichste Gestalt, ein herrliches Organ der Stimme, eine reine, bestimmte Aussprache, ein Betragen! genug, was man wünschen kann. Ich sage das nicht, daß Sie sich in sie verlieben sollen, ich sage es nur, damit Sie sich überzeugen, daß wir Ihrer nicht ganz unwert sind, und gewiß, es wird noch viel besser werden, wenn Sie sich erst zu den Unsrigen rechnen."

Vierzehntes Kapitel

Es ist die Eigenschaft der menschlichen Seele, daß sie sich dann am schnellsten erhebt, wenn sie am stärksten niedergedruckt wird.

Zu denen Lasten, die unserm Freunde auflagen und ihn nach und nach gleichsam eingequetscht hatten, gesellte sich nun der Tod seines Vaters, das Schicksal der Seinigen und preßte sein Gemüt so gewaltsam zusammen, daß er irgendwo einen Ausgang suchen mußte. Bedauren und Schmerz über den Verlust des guten Alten, dessen Existenz mit der seinigen von den ersten Jahren her verwebt war, halb fremdes Gefühl gegen seine Mutter, weniges Interesse am Gewerbe seines Schwagers, seine eigne Fehler, seine Geschichte, alles wendete und kehrte sich auf und nieder und mehr als einmal durcheinander. Endlich fühlte er die ganze Stärke seiner Jugend, schüttelte sich und trat mit einem freien, mutigen Blick vor die Gegenwart, hinter welche sich fröhliche Bilder der Zukunft drängten.

"Da steh ich nun", sagte er zu sich selbst, "nicht am Scheidewege, sondern am Ziele und wage nicht, den letzten Schritt zu tun, wage nicht, es zu ergreifen.

Ja, wenn ein Beruf, eine Sendung deutlich und ausdrücklich war, so ist es diese. Alles geschieht gleichsam bloß zufällig und ohne mein Zutun, und doch alles, wie ich mir es ehemals ausgedacht, wie ich mir’s vorgesetzt. Sehr sonderbar! Der Mensch scheint mit nichts vertrauter zu sein als mit seinen Hoffnungen und Wünschen, die er lange im Herzen nährt und erhält, und doch, wenn sie ihm einst begegnen, wenn sie sich ihm gleichsam aufdringen, erkennt er sie nicht und weicht vor ihnen zurück. Alles, was ich mir vor jener unglücklichen Nacht, die mich von Marianen entfernte, nur träumen ließ, steht vor mir und bietet sich mir selbst an. Hieher wollte ich flüchten, und ich bin sachte hieher geleitet worden; bei Serlo wollte ich unterzukommen suchen, er sucht nun mich und macht mir Bedingungen, die ich als ein Anfänger nicht erwarten konnte. War es denn bloß Liebe zu Marianen, die mich ans Theater fesselte? oder war es die Liebe der Kunst, die mich an sie fester knüpfte? War jene Aussicht, jener Ausweg nach dem Theater bloß einem unordentlichen, unruhigen Menschen willkommen, der ein Leben fortzusetzen wünschte, das ihm die Verhältnisse der bürgerlichen Welt nicht gestatteten, oder war es alles anders, reiner, würdiger? Und wenn so damals deine Gesinnungen waren, welchen Anlaß hast du gehabt, sie zu verändern? und ist jetzo der Schritt nicht viel mehr zu billigen, da er keine Nebenabsichten hat als solche, die niemand zweideutig finden kann?" Er ging nun die Umstände alle wieder durch, die ihn einluden, reizten, drangen, und er fand zuletzt, daß er dazu genötigt sei. Daß er seinen Mignon bei sich behalten könne, daß er seinen Harfner nun nicht zu verstoßen brauche, schienen wichtige Gründe der Entscheidung.

Und doch, wie es in solchen Fällen zu gehen pflegt, wenn sich die ganze Schwere der Überzeugung auf eine Schale gelegt hat, wirft sich auf einmal das ganze Gegengewicht in die andere und hindert den Entschluß. Doch auch dieses fiel für die Sache vorteilhaft aus. "Das erstemal, daß ich das Theater betrat", sagte er zu sich selbst, "ward ich überrascht und hingerissen, auch war es nur ein flüchtiger Versuch; jetzo, da es aufs Leben dauern soll, habe ich Zeit und Muße, alles genug zu überdenken und zu erwägen."

Als er bei sich diese Betrachtungen hin und wider warf, öffnete sich seine Tür, und es traten Aurelie, Philine und Serlo unvermutet herein; es war ein Einfall von Philinen, welchem Serlo gerne folgte, von dem sich Aurelie gleichsam mitziehen ließ, ob sie schon die Urheberin desselben ohnerachtet ihrer Verstellung durch und durch sah und von Herzen haßte. Sie begrüßten ihn auf das freundlichste, und Philine sagte scherzend: "Wir sind gekommen, ein Jawort zu holen." Wilhelm wollte einiges darauf versetzen. "Ein Ja", sagte sie, "oder kein Wort, wir wollen Ihnen gern erlauben zu schweigen, aber wenn Sie den Mund auftun wollen, so sei es, um uns alle glücklich zu machen." – "Ich habe kein Recht", sagte Aurelie, "Sie um eine so wichtige Gefälligkeit zu bitten, aber wenn ich es hätte, so würde ich es gebrauchen, um den mancherlei Gründen, die Sie entscheiden müssen, noch ein größeres Gewicht zu geben; also ein Ja, wenn es möglich ist." – "Ein Ja", sagte Serlo, "ein kleines Wort! Die Unentschlossenheit taugt zu nichts, es ist der schlimmste Zeitverderb! Wenn man einmal seinen Vorsatz gefaßt hat, gibt sich das übrige alles von selbst."

"Ein kleines Ja", sagte Philine schmeichelnd. "Ja denn", versetzte Wilhelm. Aurelie faßte seine noch verbundene Rechte mit einer bescheiden-wahren Freude, Philine ergriff die Linke, und indem sie sich herunterneigte und zugleich schnell die Hand nach ihren Lippen führte, drückte sie einen lebhaften Kuß darauf, dem er nicht wehren konnte; Serlo umarmte ihn froh und treuherzig. Er konnte ihnen nichts wiedergeben, denn er stand wie betäubt in ihrer Mitte und fiel ohngeachtet ihrer Gegenwart in ein stilles Nachsinnen. Seine Gedanken schweiften hin und wider, und auf einmal erfüllte der Waldplatz wieder seine Einbildungskraft. Auf einem Schimmel kam die liebenswürdige Amazone aus den Büschen, nahte sich ihm, stieg ab, ihr menschenfreundliches Bemühen hieß sie gehen und kommen, sie stand, das Kleid fiel von ihren Schultern und deckte den Verwundeten, ihr Gesicht, ihre Gestalt glänzte wieder auf und verschwand.

 


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