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Wilhelm Meisters Theatralische Sendung

VIERTES BUCH

Erstes Kapitel

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im grünen Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und froh der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möcht ich mit dir, o mein Gebieter, ziehn!

Kennst du das Haus, auf Säulen ruht sein Dach,
Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan?
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möcht ich mit dir, o mein Gebieter, ziehn!

Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
In Höhlen wohnt des Drachen alte Brut,
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut:
Kennst du ihn wohl?
Dahin! Dahin
Geht unser Weg; Gebieter, laß uns ziehn!

Unter denen Liedchen, die Mignon sang, hatte sich Wilhelm eins gemerkt, dessen Melodie und Ausdruck ihm besonders wohl gefiel, ob er gleich die Worte nicht alle verstehen konnte. Er verlangte es von ihm, ließ sich es erklären, merkte es sich und übersetzte es in die deutsche Sprache, oder vielmehr, er ahmte es nach, wie wir es unsern Lesern mitteilen. Zwar die kindische Unschuld des Ausdruckes ging mit der gebrochenen Sprache verloren, und der Reiz in der Melodie konnte mit nichts verglichen werden. Sie fing jeden Vers mit Feier, mit einer Pracht an, als wenn sie auf etwas Merkwürdiges aufmerksam machen, etwas Wichtiges erzählen wollte. Bei der dritten und vierten Zeile wurde der Gesang dumpfer und düsterer. Das "Kennst du es wohl?" druckte sie geheimnisvoll und bedenklich aus, in dem "Dahin! Dahin!" lag eine unwiderstehliche Sehnsucht, und das "Gebieter, laß uns ziehn!" wußte sie, so oft sie es sang, zu modifizieren, daß es bald bittend, dringend, treibend, hastig und vielversprechend war.

Einsmal, als sie es wiederholt hatte, hielt sie nach geendigtem Liede einen Augenblick inne, sah ihren Herrn scharf an und fragte: "Kennst du das Land?" – "Es muß wohl Italien gemeint sein", versetzte Wilhelm; "woher hast du das Liedchen?" – "Italien !" versetzte Mignon; "gehst du nach Italien, so nimm mich mit, es friert mich hier." – "bist du in Italien gewesen, liebe Kleine?" sagte Wilhelm. Das Kind war still und nichts weiter aus ihm zu bringen.

Doch ich weiß nicht, warum wir uns mit der kleinen Kreatur abgeben zu einer Zeit, da wir unsern Helden selbst in einer kritischen Situation verlassen haben.

Es wird kaum einer unserer Leser sein, der nicht zu erfahren wünschte, wie es Wilhelmen auf dem Theater ergangen, und doch fast keiner, der sich es nicht besser vorstellte, als wir es erzählen könnten. Auch finden wir ihn erst auf seinem Zimmer wieder nachdenklich, ausgekleidet sitzen.

Er sah vor sich nieder, war in tiefen Betrachtungen, und wenn er die Halbstiefel nicht erblickt hätte, die man ihm auszuschnüren vergessen, so hätte er sein ganzes Abenteuer für einen Traum gehalten. Noch klang ihm der laute Beifall, das betäubende Klatschen der Menge in die Ohren, noch fühlte er die Bewegung von Loge zu Loge sich bei einer schönen und starken Stelle verbreiten, und er empfand bei diesem ersten seltsamen Versuche, was er sich als das Glück des Meisters ehmals gedacht hatte. Er genoß ganz den köstlichen Eindruck, der Mittelpunkt zu sein, worauf eine Masse versammelter Menschen ihre Aufmerksamkeit richtet, und wenn wir gleichnisweise reden dürfen, sich als der Schlußstein eines großen Gewölbes zu fühlen, wohin tausend Steine, ohne ihn zu belästigen, drucken und der sie ohne Arbeit und Gewalt bloß durch seine Lage zusammenhält, da sie sonst schnell in einen verworrenen Schutt zusammenstürzen würden. Seine Einbildungskraft ließ sie auch nach vollendetem Stück nicht auseinander, er hielt sie noch wenigstens dem Geiste nach zusammen und war überzeugt, daß jeder einzelne zu Hause mit den Seinigen und in den Seinigen die guten, edlen Taten und lebendigen Eindrücke des Stückes nachempfinden würde. Er hatte nicht verlangt, zu Abend zu essen, Mignonen zum ersten Male unbemerkt weggeschickt und dachte nicht eher zu Bette zu gehen, als sein heruntergebranntes Licht ihn dazu nötigte. Den andern Morgen, nachdem er sich in einem langen Schlafe erholt hatte, stieg er auf, wie aus einem Rausche erwachend. Der Überrest der Schminke auf seinen Backen und die in wundersamen Locken noch durcheinanderfallenden Haare machten ihm seinen gestrigen Zustand wieder lebendig und bei nüchternem Mute einen seltsamen Eindruck auf ihn.

Es währte nicht lange, so trat Herr Melina herein, dessen Besuche er bisher, und besonders so früh, nicht gewohnt war. "Meine Frau läßt Sie grüßen", sagte er, "und wenn ich eifersüchtig werden könnte, so müßte ich es diesmal sein, denn sie gebärdet sich wie eine Närrin über Sie und Ihr gestriges Spiel." – "Ich danke ihr", sagte Wilhelm, wenn sie mit mir zufrieden sein will. So viel kann ich versichern, ich weiß nicht, wie ich gespielt habe, und Sie werden mir das gerne glauben. Überhaupt dünkt mich, hätten alle ihre Sache recht gut gemacht, und ich bleibe ihnen dafür vielmals verbunden." – "Nun, nun! mehr oder weniger!" sagte Herr Melina.

Sie sprachen weiter über das Stück, die Aufführung und den Effekt verschiedener Szenen. Endlich sagte Melina: "Erlauben Sie, daß ich als Freund etwas erinnre, denn ich fürchte, Sie vergessen eine sehr notwendige Sache. Der Beifall des Publikums ist ganz hübsch und gut; nur wünschte ich, Sie nutzten ihn auch, wie Sie ihn verdienen. Die gestrige Einnahme war sehr ansehnlich, und die Prinzipalin muß einen schönen Taler Geld in der Kasse haben: Versäumen Sie diesen Zeitpunkt nicht, wieder zu dem Ihrigen zu kommen; denn ich habe Ihnen nachgerechnet, wieviel Sie ihr teils geborgt, teils zur Aufführung des Stückes verwendet haben. In den zwei letzten Tagen ließen Sie noch vieles geschwind bestellen und machen, davon Ihnen die Zettel auch auf den Hals kommen. Soviel ich weiß, haben Sie den Wirt bisher auch nicht bezahlt, der Ihnen eine ziemliche Rechnung machen wird, und ich wünschte nicht, daß Sie in Verlegenheit gerieten."

Mitten auf dem angenehmen Pfade des geistigen Genusses war es unserm Freunde höchst verdrießlich, auf einmal diese Kluft häuslicher Kümmerlichkeit vor sich eröffnet zu sehen. "Ich will mein Geld durchzählen", sagte er, "wenn die Zettel kommen, sie bezahlen und gelegentlich mit der Prinzipalin reden." – "Mein Freund", rief Herr Melina, "bedenken Sie, was Sie tun, und nehmen Sie dieses Augenblickes wahr! Jetzo gleich auf der Stelle muß es geschehen, da Madame de Retti das eingenommene Geld noch nicht ausgegeben hat oder keine Ausflüchte findet, es zu verleugnen; ich stehe Ihnen nicht bis gegen Mittag dafür." – "Sie wird so schlecht nicht denken", versetzte Wilhelm, "und mir das Meinige vorenthalten. Sie versprach noch gestern in dem kritischen Augenblicke, mich auf das gewisseste zu bezahlen, und wir tun ihr wohl Unrecht, denn vielleicht ist sie eben beschäftigt, die Summe, die sie mir schuldig ist, zusammenzuzählen und sich von der Verbindlichkeit gegen mich zu befreien." – "Sie müssen sie schlecht kennen", sagte Herr Melina, "und schlecht auf ihr bisheriges Betragen achtgegeben haben. Wenn es ihr Ernst gewesen wäre, so hätte sie lange ihre Schuldigkeit tun und Sie nach und nach bezahlen können. Auf diesem Wege richten Sie nichts mit ihr aus, und ich muß drauf bestehen, daß Sie Ernst brauchen. Wissen Sie denn, was Sie schon angewendet haben, und haben Sie einen Überschlag gemacht, was Ihnen bevorsteht?" – "Ich denke", sagte Wilhelm, "alles mit sechshundert Talern zu endigen, und lassen Sie’s auch mit den siebzigen, die ich Ihnen geliehen, siebenhundert machen. Ich rechne fünfzig Taler auf die Rechnung des Wirtes, und es bleibt mir so viel übrig, daß ich auf keine Weise in Verlegenheit kommen kann." – "Sie scheinen mir Ihre Kasse nicht sehr ordentlich zu führen", versetzte der andre. "Ich wette, Sie haben schon achthundert Taler ausgegeben, seitdem Sie hier sind. Sehen Sie nach, ich bitte Sie, und verzeihen, daß ich so dringend bin."

Wilhelm ging mit einigem Widerwillen nach seinem Koffer und war höchst erstaunt, als er seines Freundes Rechnung eintreffen und seine Pakete weit mehr, als er dachte, geschmolzen fand. "Sie haben recht", sagte er, "indessen ist mir doch nicht bange." – "Es schickt sich nicht für mich", versetzte jener, "zu fragen, wie viel Ihnen gegenwärtig übrigbleibt, nur so viel muß ich Ihnen sagen, bereiten Sie sich auf hundert Taler Handwerkszettel und auf eine Rechnung des Wirtes von wenigstens zweihundert Talern." – "Es ist unmöglich!" rief Wilhelm aus. "Verzeihen Sie", versetzte der andre, "meiner Neugierde, sie hatte eine löbliche Absicht; ich habe mir gestern das Buch des Wirtes zeigen lassen und finde wirklich, daß sie so hoch angestiegen ist. Ihre Gastfreiheit und Freigebigkeit konnte Ihnen nicht wohlfeiler zu stehen kommen." Der Überschlag war bald gemacht, daß nach dieser Rechnung Wilhelmen von seiner Barschaft kaum hundert Taler übrigblieben. Er war bestürzt, und Melina drang schärfer auf ihn. "Sie sehen, daß da gar nicht zu scherzen ist", sagte er. "Wir haben die Prinzipalin in Händen, denn alles, was sie hat und besitzt, ist Ihnen als Pfand verschrieben, und wir können uns dessen sogleich bemächtigen. Ehe sie sich zugrunde richten und aus der Stadt hier vertreiben läßt, tut sie gewiß das möglichste, und Sie kommen zu dem Ihrigen. Bestehen Sie drauf, daß Ihnen Ihr erstes Kapital sogleich und das übrige nach und nach von der Einnahme bezahlt werde, daß sie die noch ausstehende Handwerksleute gleichfalls übernimmt, und so retten Sie noch, was möglich ist, denn ganz ungerupft kommen Sie doch nicht davon. Ich bitte Sie, ziehen Sie sich an und gehen zu ihr hinüber. Wenn ich es nicht mit ihr zu verderben fürchtete und es zudringlich ließe, so wollte ich Ihnen gern diesen fatalen Gang ersparen."

Ein junger Prinz, der eben auf die Jagd reiten will, kann einem remonstrierenden Finanzminister nicht mit größerm Widerwillen gestiefelt und gespornt Audienz geben, als Wilhelm in dem Augenblicke dem Verlangen seines Freundes folgte. Wie anders dachte er diesen Morgen zuzubringen! Er hoffte sich mit seinen Freunden und Freundinnen zu letzen, mit ihnen das gestrige Abenteuer, das Vergnügen, den Beifall nachzukosten und zu genießen.

Zweites Kapitel

In dem Augenblicke, als Wilhelm angekleidet war und zu der Prinzipalin hinübergehen wollte, erhielt er ein Billett von seinem Freunde, dem Herrn von C., der ihn mit großer Lebhaftigkeit des Enthusiasmus und der Überraschung wegen des gestrigen Stückes und seines unvermuteten Spieles pries und ihn zugleich auf den Abend einlud, er wolle ihn zu ein paar vortrefflichen Frauenzimmern führen, die, um das Trauerspiel zu sehen, von ihren Gütern in die Stadt gekommen seien und sehr wünschten, seine nähere Bekanntschaft zu machen. Er antwortete mündlich, daß er aufwarten wolle, und ging nach dem Zimmer der Madame de Retti.

Vor der Türe hörte er, daß sie in einem heftigen Streite befangen war, und er erkannte gar bald die Stimme des Herrn Bendel, der sich gegen sie gar unartig bezeigte. Sie hörte nicht, als Wilhelm anpochte, und da er die Türe eröffnete, konnte er noch ganz deutlich die Worte des rohen Menschen verstehen, der ausrief: "Genug, Sie hätten sich nicht so zu eilen brauchen, Sie konnten ja ein anderes Stück geben, und morgen würde ich schon selbst gespielt haben." Die Ankunft des Dritten unterbrach seine Heftigkeit, Wilhelm grüßte ihn und erfreute sich, ihn wohl zu sehen, dagegen der Grobian nur einige unverständliche Worte brummend versetzte, ein Kästchen, das auf dem Tische stand, untern Arm nahm, hinausging und die Türe hinter sich zuschlug.

"Ich wünschte", sagte Madame de Retti, "daß Sie diese Rolle von Anfange gleich übernommen und Monsieur Bendel sie gar nicht memorieret hätte; jetzt ist er verdrießlich, daß Sie sie vor ihm gespielt haben." – "Er wird Zeit genug finden, sie nach mir zu spielen", versetzte Wilhelm. "Ich habe schon zu lange verweilt, meine Geschäfte nötigen mich weiterzugehen, ich bin gekommen, es Ihnen zu eröffnen und zu bitten, daß Sie mir das Meinige, womit ich Ihnen bisher gerne ausgeholfen, wieder ersetzen, besonders da die gestrige Einnahme beinahe dazu hinreichen wird." – "Ich weiß selbst noch nicht", sagte die Prinzipalin, "wieviel eingekommen ist, ich habe soeben Herrn Bendel die Kasse gegeben, um das Geld zu sortieren und zu zählen. Gegen Abend werde ich Ihnen davon Rechenschaft geben können." – "Madame", versetzte Wilhelm, "ich wünschte, daß Sie die Kasse wieder holen ließen; ich erbiete mich, das Geschäfte selbst zu übernehmen, in einer Stunde soll alles gemacht sein." – "Sie werden gegenwärtig nicht in mich dringen", versetzte die Prinzipalin, "ich bin unserm Wirte eine ansehnliche Rechnung schuldig, und wenn ich noch einigen Kredit von ihm hoffen will, so muß ich diese sogleich abzahlen." – "bedenken Sie, Madame", versetzte Wilhelm, "daß meine Schuld nicht minder dringend ist, denn ich kann mich nicht einen Tag länger hier aufhalten." – "Ich mute Ihnen das auf keine Weise zu", sagte Madame, "lassen Sie mir Ihre Adresse, und ich verspreche, es mit nächstem nachzuschicken." – "Ich kann hierin nicht nachgeben", fiel er ein, "überlegen Sie, daß mir die ganze Garderobe, Dekorationen und alles, was nur zum Theater gehört, als Pfand verschrieben ist, und es sollte mir leid sein, wenn Sie mich nötigten, mich meines Rechts zu bedienen." – "Wären Sie fähig", rief Madame de Retti mit großer Heftigkeit aus, indem sie eine Rolle Papier, die sie bisher in der Hand geführet, auf den Tisch warf und die Stube auf und ab ging, "wären Sie fähig, so hart und ungerecht gegen mich zu sein?" – "Ich sehe nichts Unbilliges", versetzte Wilhelm, "wenn ich zu dem Meinigen zu gelangen suche." – "Nein", rief sie aus, indem sie mit der Hand vor die Stirne schlug, "nein, so etwas dachte ich nicht zu erleben! Wie sehr habe ich Sie bisher verkannt! wie sehr in Ihnen geirrt! Ich vergebe es Ihnen nicht, solang ich lebe!" Sie fuhr noch mit lebhaftem Verdrusse fort, sich über sein Betragen zu beschweren und ihn fühlen zu lassen, wie sehr beleidigt sie durch seine Forderung sei. Wilhelm stand ganz erstaunt, denn seiner Empfindung nach war er eigentlich der beleidigte Teil; er hatte sich zu beschweren, er hatte zu verzeihen! Und er kam sich selbst ganz wunderbar vor, indem er Madame zu besänftigen suchte und ihr versicherte, daß es seine Absicht gar nicht gewesen sei, sie zu erzürnen und ihr Verdruß zu machen. "Damit Sie sehen", versetzte sie, "daß es mir Ernst ist, so will ich gleich mit einer abschläglichen Zahlung den Anfang machen und Ihnen fünfundzwanzig Taler von der gestrigen Einnahme geben und ebensoviel von einer jeden folgenden, bis Kapital und Interessen abgetragen sind. Denn glauben Sie nicht", versetzte sie mit einem stolzen Tone, ""daß ich gern jemanden etwas schuldig bleibe!" Unser guter Freund war betäubt und beschämt; auf seinen Vorteil genau zu sein, hatte er nie gelernt, er vergaß also den guten Rat des Herrn Melina, den leeren Raum seiner eigenen Kasse und ließ es bei ihrem Anerbieten bewenden, ohne es abzuschlagen oder anzunehmen. Und Madame de Retti war so klug, ihm, als er auf sein Zimmer ging, sogleich die versprochene Abschlagssumme nachzuschicken.

Herr Melina, dem Wilhelm von dem Ausgange dieser Sache, obgleich wider Willen, Nachricht gab, war höchst mißvergnügt über die Gefälligkeit, über die Nachlässigkeit und besonders darüber, daß, wenn er ja eine abschlägliche Zahlung hätte annehmen wollen, er sich nicht größere Summen ausgemacht und die noch bevorstehende Handwerkszettel an sie gewiesen habe. Über die Unzufriedenheit ihres Gemahls kam Madame Melina ganz aus der Fassung und konnte alles Angenehme, worauf sie sich vorbereitet hatte, ihrem theatralischen Freunde kaum zum hundertsten Teile sagen, und ihre schönsten Gedanken mußten ökonomischen Gesinnungen Platz machen. Herr Melina sann hin und her, wie er der Sache eine andere Wendung geben könnte; alleine Wilhelm wollte sich nicht entschließen, nach einmal mit der aufgebrachten Prinzipalin anzubinden.

Nach Tische kamen, wie man vorausgesehen hatte, einige Handwerksleute, die bezahlt sein wollten. Man schickte sie nach Herrn Melinas Rat an die Prinzipalin, die sie aber mit Protest wieder zurückgehen ließ, versicherte, sie habe von dem allem nichts bestellt, sie möchten sich an den Herrn halten, der es angeordnet habe. So bedeutet kamen sie wieder herüber, und Wilhelm bat nur, daß sie sich bis den andern Morgen gedulden möchten, wo er alles in Ordnung bringen wollte.

Abends ging er zu seinem Freunde, der ihn in eine sehr angenehme Gesellschaft brachte. Jedermann und besonders ein paar Frauenzimmer von vortrefflichen Eigenschaften bemühten sich um ihn und konnten nicht genug loben, wie glücklich er sie gestern und auf eine große Zeit gemacht habe. Man sprach viel von dem Stücke, ging es einzeln durch und bezeugte sich auch mit der Übereinstimmung der Dekoration, der Kleider zufrieden; ja sogar des grünen Teppichs ward nicht vergessen, daß Wilhelm vollkommen vergnügt hätte sein können, wenn ihn nicht alle diese gepriesene Gegenstände an die Verlegenheit erinnert hätten, in der er sich ihrentwegen schon heute befunden und noch mehr sich morgen befinden werde. Und so wurde der ganze schöne Genuß, der ihm bereitet war, durch die bösen Geister der Sorgen ihm von den Lippen weggenommen.

Drittes Kapitel

Indessen hatte das Publikum mit großem Verlangen den folgenden Tag erwartet, wo die Gesellschaft versprach, das Trauerspiel zu wiederholen. Und auch diesmal hätte die Bude um vieles größer sein müssen, wenn sie die Menge der Zudringenden hätte fassen wollen. Denn es war in der Stadt kein Zweifel, daß der neue Schauspieler in der Rolle des Darius sich wieder zeigen würde, ob es gleich in Wilhelms Herzen ausgemacht blieb, daß er nie das Theater wieder betreten wolle, und Monsieur Bendel sich das Heldenkleid schon erweitern und auf seinen Leib, wie es erst war, hatte richten lassen. Die Prinzipalin war so klug und ließ die Namen der spielenden Personen nicht, wie sonst gewöhnlich, auf den Zettel setzen, wodurch die Neugierde noch mehr erregt und jedermann in seinen Gedanken bestärkt wurde.

Für Wilhelmen war es ein verdrießlicher Tag. Er mußte sich von Madame Melina vorklagen lassen, wie übel das Stück heute gehen werde, und von ihrem Manne besorgliche Vorwürfe hören, daß er den guten Rat nicht befolgt und die Prinzipalin wegen Wiederbezahlung des Geldes nicht schärfer gefaßt hätte. Er wurde darüber so ärgerlich, daß er wünschte, niemalen den Ort betreten zu haben. Er schalt sich selbst, daß er das Geld nicht heute früh von der Prinzipalin auf einmal zu erhalten gesucht, da er denn seinem Herzen folgen und noch diesen Abend hätte abreisen können. In das Schauspiel zu gehen, konnte er sich nicht entschließen, denn er fühlte sich schon im voraus die Eingeweide umwenden, wenn das leidige Ungeheuer seine Verse herstolpern und durch Mißtöne und Mißgebärden das Publikum aus der Harmonie der Empfindung herausnötigen würde. Er blieb deswegen auch des Abends, da sich alles rüstete und wegging, still auf seinem Zimmer, um mit dem Wirte abzurechnen und ihn zu bezahlen.

Kaum war in dem Hause alles stille geworden, so trat Mignon mit einem angezündeten Lichte herein, worüber sich Wilhelm verwunderte, weil es noch Tag war. Er hatte nicht Zeit, um die Ursache zu fragen, denn das Kind machte den Fensterladen zu, wodurch es in dem Zimmer ganz dunkel wurde, und ging schnell wieder hinaus. Nach einer kurzen Zeit tat sich die Türe wieder auf, und der Kleine trat herein. Er trug einen Teppich unter dem Arme, den er auf der Erde ausbreitete. Wilhelm ließ ihn gewähren. Er brachte darauf vier Lichter, stellte sie an jede Ecke. Ein Körbchen mit Eiern, das er holte, machte Wilhelmen die Absicht deutlicher. Künstlich abgemessen schritt sie nunmehr den Teppich hin und her und legte in gewissem Maße die Eier voneinander, dann rief sie einen Menschen herein, der bei der Truppe war und die Violine spielte. Er trat mit seinem Instrumente in die Ecke, sie verband sich die Augen, gab das Zeichen und fing zugleich mit der Musik wie ein aufgezognes Uhrwerk an, indem sie Takt und Melodie mit dem Schlage der Kastagnette begleitete. Behende, leicht, rasch, präzis führte sie den Tanz. Sie trat so scharf und so sicher zwischen die Eier hinein, bei den Eiern nieder, daß man in dem Augenblicke dachte, sie müsse eines zertreten oder bei schnellen Wendungen fortschleudern. Mitnichten! Sie berührte keines, ob sie gleich mit allen Arten von Schritten, engen und weiten, ja sogar mit Sprüngen und zuletzt halb kniend sich durch die Reihen durchwand.

Unaufhaltsam wie ein Uhrwerk lief sie ihren Weg. Und die sonderbare Musik gab dem immer wieder von vorne anfangenden und losrauschenden Tanze bei jeder Wiederholung einen neuen Stoß. Wilhelm war von dem sonderbaren Schauspiele ganz hingerissen, vergaß seiner Sorgen, er folgte jede Bewegung der geliebten Kreatur und war verwundert, wie in diesem Tanze sich ihr Charakter vorzüglich entwickelte. Streng, scharf, trocken, heftig und in sanften Stellungen mehr feierlich als angenehm. Er empfand, was er alles für Mignon gefühlt, in diesem Augenblicke auf einmal. Er sehnte sich, dieses verlassene Wesen an Kindes Statt seinem Herzen einzuverleiben, es in seine Arme zu nehmen und mit der Liebe eines Vaters Freude des Lebens in ihm zu erwecken.

Der Tanz ging zu Ende, sie rollte die Eier sachte mit den Füßen zusammen auf ein Häufchen, ließ keines zurück, beschädigte keines und stellte sich dazu, indem sie die Binde von den Augen nahm und ihr Kunststück mit einem Bücklinge endigte.

Wilhelm dankte ihr, daß sie ihm den Tanz, den er so lange zu sehen gewünscht, so artig und unvermutet vorgetragen, streichelte sie und bedaurte, daß es ihr sauer und warm geworden sei, versprach ihr ein neues Kleidchen, worauf sie heftig antwortete: "Deine Farbe!" und da er es ihr versprach, nahm sie die Eier zusammen, nachher ihren Teppich, fragte, ob er noch etwas zu befehlen hätte, und sagte ihm, sie wolle nach dem Schauspielhause gehen. Er erfuhr von dem Musiko, daß sie sich seit einiger Zeit viele Mühe gegeben, ihm den Tanz vorzusingen, bis er ihn habe spielen können, auch habe sie ihm für seine Bemühung etwas Geld angeboten, das er aber nicht nehmen mögen.

Viertes Kapitel

Der Wirt, den unser Freund um diese Zeit bestellt hatte, trat kurz darauf herein und überreichte das verlangte Konto. Wäre Wilhelm nicht durch Herrn Melina vorbereitet gewesen, so würde ihn die Summe sehr erschröckt haben; denn er fand wirklich, daß er über zweihundert Taler schuldig sei. Gegen die einzelnen Posten war freilich nichts zu erinnern, denn er befand sie beim Durchgehen alle richtig, und der Wirt versicherte, daß er ihn auf das billigste gehalten habe. Er bezahlte die Rechnung bis auf einen kleinen Abzug, wodurch seine Kasse sehr zusammenschrumpfte. Desto ausgebreiteter war die Dankbarkeit des Wirtes, der sich eben empfahl, als Mignon zur Türe hereinsprang und rief: "Komm, Herr! Komm! sie bringen sich um!" Das Kind nahm ihn bei der Hand und zog ihn mit sich fort. Er fragte, was es bedeute, allein sie war so außer Atem und schien so stark gelaufen zu sein, daß sie nichts hervorbringen konnte. Sie zog ihn auf den Vorsaal an das Fenster und deutete, indem sie: "Dort! dort!" rief, auf die Straße, wo man nach dem Schauspielhause zu ging. Es schien ihm eine Bewegung in der Gasse zu sein, die er, weil es schon dämmerig geworden war, nicht deutlich erkennen konnte. Kurz darauf näherte sich ein ganzer Trupp in vollem Laufe und mit großem Geschreie dem Gasthofe. Wilhelm erkannte bald, daß eine Anzahl mutwilliger und ungezogener Knaben einer Mannsperson nachliefen, die in der lächerlichsten Gestalt vor ihnen zu fliehen schien und nach dem großen Torwege zu eilte. In einem Blicke erkannte Wilhelm, daß dieser Gejagte Monsieur Bendel selbst sei. –

Wie erstaunte und erschrak unser Freund! Doch er hatte keine Zeit, sich zu erholen, der andere stürzte die Treppe herauf und rannte ihm atemlos entgegen. "Um Gottes willen, was gibt es?" rief Wilhelm in größtem Ernst und Bestürzung und vergaß, über die seltsame Gestalt zu lachen, die vor ihm stand. Denn das große und breite Ungeheuer, das durch seine Heldenkleider, in die es sich nicht schicken konnte, noch breiter und unförmlicher geworden war, hatte einen kurzen schwarzen Mantel umgeworfen, den Crispin zu tragen pflegte, und den er in der Angst ergriff, um seine glänzende Gestalt einigermaßen zu verdecken. Der Helm, dessen Bänder sich verknüpft hatten, war im Laufen zurückgefallen und schlug ihm um die Schultern. Unterwärts sah man die schönen Stiefel und das Schoßkleid hervorschimmern, und sein dummes, großes Gesicht war von Zorn, Furcht und Unsinn in albernen Verzuckungen bewegt und vom Blute und Schmutz besudelt. "Um Gottes willen, was gibt es?" rief Wilhelm aus. "Sie sollen mir es teuer bezahlen!" stotterte der andere. Sein Gesicht glühte, die Augen stunden ihm vor dem Kopfe, seine Brust war voll Atem, und es schien, als ob er bersten wollte. Die Knaben waren die Treppe mit heraufgelaufen, drängten sich, schrien, riefen ihn als den heiligen Niklas, als Rübezahl an und wurden mit großer Not von dem Wirte wieder zum Tore hinausgebracht.

Der schröckliche Zustand, in den Wilhelm den wüsten Menschen versetzt sah, erregte sein ganzes Mitleiden. Er bat ihn, sich zu beruhigen, alleine jener lief wie rasend auf dem Saale herum, zog den Mantel fester um sich her und brüllte so, daß jeder Dritte in ein lautes Gelächter ausgebrochen wäre. Mit konvulsivischen Gebärden erholte er sich nach und nach und ging zu einer ungestümen und rasenden Heftigkeit über, schimpfte auf Wilhelmen, drohte ihm, und da dieser alle mögliche Mäßigkeit und Vernunft bewies, schien es, als ob der Tobende gar über ihn herfallen wollte. Wilhelm war nicht faul, sprang nach einer Ecke und faßte einen tüchtigen Stock, den er daselbst von ungefähr ersah, und hielt sich, indem er ihn einigemal rasch durch die Luft schwang, den Barbaren vom Leibe. Dieser, der weiter nichts erfassen konnte, griff in vollem Grimm nach dem Schwerte, das an seinen Seiten herumschlug und dessen Klinge glücklicherweise nur von versilbertem Holze war; sie sprang gar bald an der Keule, die unser Held vorhielt, in Stücken, und die Streiche, die Wilhelm führte, waren so rasch und ernstlich, daß der Wüterich genötiget war, sich zurückezuziehen; da er an einem Spane des Bodens hängenblieb, stürzte er eben der Länge nach hin, in dem Augenblicke, als der Wirt heraussprang, sie auseinanderzubringen und seinem jungen, freundlichen und großmütigen Gaste vor allen Dingen beizustehen. ln demselben Momente besetzte ein Unteroffizier mit einigen Mann Wache die Treppe, und Wilhelm, da er das Getümmel auf der Straße sich immer vermehren hörte, sprang an das Fenster und sah zu seinem großen Erstaunen das Kutschtor gleichfalls besetzt und die königliche Familie, deren Kleider durch die Dämmerung blitzten, unter Bedeckung einer Anzahl Soldaten, die das Volk auseinandertrennten, anlangen. Er lief ihnen entgegen, unten an der Treppe fiel ihm Madame Melina ohnmächtig in die Arme. Man brachte sie hinauf, und wer beschriebe das Gedränge, die Gestalten, den Zustand, die Gebärden, die Ausrufungen, und über alles, wer könnte mit Worten das Entsetzen und die Verwirrung unseres Freundes ausdrücken, dem dieser ganze Vorfall ein unbegreifliches Rätsel war, nach dessen Auflösung er vergebens fragte, denn jeder einzelne Ausruf, jedes abgebrochene Wort machte ihn nur immer neugieriger und ungewisser.

Fünftes Kapitel

"Wenn der Kommandant nicht wehrt, so reißen sie die Bude ein, und wir sind ganz und gar zugrunde gerichtet!" rief die Prinzipalin. "Mein lieber Bendel, mein Bester! was habe ich für Sie ausgestanden!" – –

Melina kam und forderte Wilhelmen den Schlüssel zu seiner Stube heimlich ab, der sich um die gute Königin bisher beschäftigt hatte, die nach und nach sich einigermaßen erholte. Ihr Mann kam bald wieder, gab Wilhelmen den Schlüssel zurück und ward von diesem inständig um eine ordentliche Erzählung, um eine Erklärung dieser Verworrenheit gebeten. Melina zog ihn ans Fenster und versetzte: "Das Haus schien noch voller als das erstemal. Die Begierde und das Verlangen, das Stück zu sehen und wieder zu sehen, war allgemein, jedermann vermutete, daß Sie wieder spielen würden. Als der untergeschobene Darius auftrat, entstand ein allgemeines Gemurmel und Gelispel. Glücklicherweise hatte er im ersten Akte nicht so gar viel und wenig schwere Stellen zu sagen. Jeder tat sein möglichstes. Madame de Retti spielte vortrefflich und wurde mit allgemeinem Beifalle und Händeklatschen belohnt. In der letzten Szene des zweiten Aktes, die das vorige Mal so großen Eindruck gemacht hatte, ging es desto schlimmer. Auf ihm, auf der dringenden und doch bescheidenen Zärtlichkeit des Helden ruht das ganze Glück dieser Szene. Mir wurde selbst bange für ihn. Kein gefühltes Wort ging aus seinem Munde. Im Parterre fingen einige an zu pochen, das Gedächtnis verließ ihn, er stockte mitten in einer wichtigen Stelle, und wenn ihm der Souffleur wieder einhalf, so eilte er mit denen Versen, die ihm wieder ins Gedächtnis fielen, ohne Sinn und Verstand. Der Gegensatz von neulich war zu auffallend; noch war die Art, wie Sie die Szene behandelt, der Eindruck in allen Gemütern, das Pochen wurde lauter, und glücklicherweise, daß der Akt endigte und der Vorhang fiel. Bendel lief wie wütend von dem Theater und schwur, die verfluchten Bretter nie wieder zu betreten. Madame de Retti tat alles, um ihn zu besänftigen, und ließ indessen den dritten Akt anfangen. Meine Frau, von Furcht ergriffen, trat auf und sprach, ohne es selbst zu wissen, die erste Szene besser als jemals. Ihre Schüchternheit machte sie dem Publiko noch angenehmer, und sie erhielt bei mehreren Stellen einen lauten Beifall. Der dritte Akt, in welchem der unartige Mensch nicht erschien, hub sich, die Szene, wo jeder dem Könige Glück wünschet, ging wohl vonstatten, und das Publikum schien wieder besänftiget. Indessen war auch Monsieur Bendel wieder beruhigt worden. Die Verschwornen und die Prinzessin taten zu Anfange des vierten Aktes alles mögliche, aber leider war diese Zeit über mit dem Darius keine Verwandlung vorgegangen. Die Zuschauer erblickten ihn kaum, als ihr Mutwillen schon sich wieder zu regen anfing. Er sollte die wüste Schwelgerei der Tafel pathetisch beschreiben. Unglücklicherweise sind einige Verse in dieser Stelle vor das Unvermögen seiner Zunge und die verwechselten Buchstaben des L und R, die uns schon in den Proben äußerst lächerlich auffielen. Wie von seinem bösen Genius mit Fäusten geschlagen, hielt er immer bei solchen Stellen ein und sagte, indem er den Fehler zu vermeiden glaubte, ihn dem Publiko erst als mit Vorsatz ins Angesicht.

Es entstand ein lautes Gelächter. Er erhub seine Stimme nur mehr, stotterte bald, verfing sich in einigen Quiproquos. Das Pochen, Pfeifen, Zischen, Klatschen und Bravorufen ward allgemein. Gift und Galle, die in ihm kochten, brachen aus, er vergaß, wo und wer er war, trat bis ganz hervor an die Lampen, rief und schimpfte auf ein solches Betragen und forderte einen jeden heraus, der sich gegen ihn so impertinent bewies. Kaum hatte er ausgeredet, als eine Pomeranze geflogen kam und ihn mit solcher Gewalt auf die Brust traf, daß er einige Schritte zurückwich; gleich darauf noch eine, und als er sich bückte, die aufzuheben, ein Apfel, der ihm die Nase quetschte, daß ihm ein Strom von Blut dem Gesichte herunterlief. Außer sich vor Wut, schleuderte er den einen Apfel, den er aufgerafft hatte, in das Parterre zurück. Er mochte jemand hart getroffen haben, denn es entstund gleich darauf ein allgemeiner Aufruhr. Ein Knabe, der Semmeln und Pastetchen zu verkaufen herbeitrug, wurde in dem Augenblicke rein ausgeplündert und der verhaßte Gegenstand damit bedeckt; sogar kam eine alte Dose geflogen, die an dem Helme sich voneinander teilte und ihm Augen und Mund mit stiebendem Tobake erfüllte. Er stampfte, schäumte, nieste, sprudelte, alle andern Akteurs waren hinter die Kulissen geflohen, er allein reizte durch den Trotz seiner Gegenwart den Zorn und das Gelächter der Menge und hätte die Gefahr, die ihm drohte, beinahe zu spät gesehen; denn es brach eine große Anzahl mit Stecken bewaffneter Zuschauer durch das Orchester durch, um das Theater zu ersteigen. Die Prinzipalin ließ den Vorhang herunterwerfen, wodurch einige gequetscht, andere für den Moment ausgeschlossen wurden. Indessen schob sie ihren Liebling, der einen schwarzen, alten Mantel umgeworfen hatte, zur Hintertüre hinaus. Ein großer Teil der Zuschauer nahm, von dem Tumulte erschröckt, selbst die Flucht, und weil die Ausgänge sich sperrten, drang der größte Teil des Parterres auf das Theater. Sie rissen Stücke aus dem Vorhange, schnitten die Stricke ab, daß die Dekorationen herunterfielen, zertraten und zerbrachen alles, was ihnen unter die Füße kam, unter einem Geschreie und Getümmel, daß alles Zureden der Prinzipalin übertäubt ward und unser Schröcken sich vermehrte; doch wurde keiner von uns beleidiget, Vernünftige bedaurten und schützten uns mitten unter dem Tumulte, die Ungestümen suchten das ganze Theater durch nach dem Gegenstande ihrer Rache, und bald drohte uns und unserm Hause ein völliger Untergang. Denn von außen war der versammelte Pöbel mit Gewalt hereingedrungen; der Teil des Volkes, der am Schauspiele den wenigsten Anteil nimmt, weil es Geld kostet, es für eine Schule des Satans hält, Brand, teure Zeit und Landplagen von einer solchen Bande magnetisch herbeigezogen glaubt. Im heiligen Eifer, der durch Raubsucht noch geschärft wurde, schlugen sie gar bald einige Bretter der Wände durch, andere saßen, ehe man es sich versah, auf dem Dache und fingen an, von oben herein abzudecken. Wir sahen unseren Untergang vor Augen, denn wir wagten uns nicht auf die Straße, das Haus wurde jeden Augenblick unsicherer. Wir hatten schon lange nach der Wache gerufen, aber die wenigen Mann staken unter dem Gedränge und konnten sich selbst kaum erwehren. Endlich rettete uns ein Detachement, das der Kommandant, gleich als er den Lärm erfahren, hatte marschieren lassen. Der Offizier nahm uns in Schutz, und Sie haben uns anlangen sehen."

Sechstes Kapitel

Herr Melina schielte während dieser Erzählung mit einiger Unruhe mehrmals seitwärts nach dem Zimmer der Prinzipalin, worein sie sich mit ihrem Lieblinge, nachdem der erste Sturm vorbei war, begab. Kaum hatte er geendiget, als sie die Türe aufriß und mit einer gewaltsamen Gebärde ausrief: "Wir sind verloren! wir sind zugrunde gerichtet! Während des Tumultes hat man mich bestohlen, man hat die Kasse aus meinem Zimmer getragen! Wer ist von Fremden hier oben gewesen?" Sie fragte nach dem Einnehmer, wo der sei, um ihr das, was noch an der Türe eingekommen, auszuliefern. "Erschröcken Sie nicht, Madame", sagte Herr Melina ganz gelassen, "die Kasse ist nicht weit, ich habe sie in unsers Freundes Stube gleich von Anfange in Sicherheit gebracht und daselbst wohl verschlossen; auch steht die heutige Einnahme ganz geruhig dabei, ich habe sie dem Alten abgenommen, als er mir im Getümmel begegnete." – "Eine sehr unnötige Vorsicht!" rief die Prinzipalin spöttisch, "und ich ermahne Sie ernstlich, mir sogleich das Geld wieder herauszugeben." – "Mein Freund", sagte Melina, "hat den Schlüssel zurück", indem er auf Wilhelmen deutete, der dabeistund. "und ich denke, er wird es doch für rätlicher halten, wenigstens bis morgen diesen Schatz zu bewahren."

Der Streit ward heftiger, Melina blieb gelassen, die Prinzipalin drang in Wilhelmen ein, der auf einen Blick seines Freundes den Schlüssel notwendig verweigern mußte, wenn er ihn auch selbst herauszugeben geneigt gewesen wäre. Madame de Retti fing an, mit Schelmen und andern Schimpfwörtern um sich zu werfen, und es war eben Zeit, daß der kommandierte Offizier, der den Tumult gestillt hatte, die Treppe heraufkam. "Wie", rief er aus, "kann das Lumpenvolk unter sich selbst nicht Ruhe halten? Was gibt es, soll ich auch hier Friede stiften?" Wilhelm war über diese Anrede höchlich betroffen und im Begriffe, ein so rauhes Kompliment zu erwidern, allein Herr Melina, der ganz andere Sorgen hegte, antwortete ihm gelinde und gefällig. "Mein Herr, haben Sie deswegen keine üblere Meinung von uns und kommen, uns gegen die Heftigkeit und Bosheit unserer Prinzipalin zu schützen." – "Ich will ihr den Kopf schon zurechtesetzen", rief jener, "was fällt Ihnen ein, Madame?" Melina ließ sie nicht zum Worte kommen und sagte: "Ich habe in der Verwirrung die Kasse in dieses Herrn Zimmer gestellt, damit wir alle nicht etwa unglücklich werden. Die Prinzipalin schreit und tut, als wenn es ihr eigen Geld, als ob sie bestohlen wäre, und doch im Grunde ist sie uns und diesem Herrn mehr schuldig, als das alles beträgt. Sie hat sich im mindesten nicht darüber zu beschweren, morgen früh wollen wir die Sache in Ordnung bringen." Da Madame de Retti mit Heftigkeit und Scheltworten versetzte, behielt sie sogleich in den Augen des Offiziers unrecht, der ihr zu schweigen gebot. Melina fuhr fort: "Damit Sie sehen, mein Herr, daß wir es ganz ehrlich meinen, so bitten wir Sie, eine Schildwache vor die Türe zu stellen und ebenfalls eine andere vor jene, worinnen unsere Garderobe befindlich ist. Wollen Sie auch den Schlüssel haben, so steht er zu Befehl; oder wollen Sie noch lieber versiegeln, es ist uns alles recht, was zur Sicherheit dient und Sie überzeugt, daß wir nichts Unbilliges suchen." Die Prinzipalin wollte vor Ärger bersten; allein es half ihr nichts, der Offizier nahm den Schlüssel, stellte seine Posten aus und ging, dem Kommandanten von der Expedition Rechenschaft zu geben. Auf der Treppe begegnete ihm ein anderer, den man sogleich für den Adjutanten des Generales erkannte. Er verlangte, mit der Prinzipalin allein zu sprechen, die ihn in ihr Zimmer führte. Neugierig wartete ein jeder, was das bedeutete, und bemerkte eine sichtbare Verlegenheit an der Prinzipalin, als er wieder von ihr wegging. Er war freundlich gegen die übrigen, sprach mit ihnen, doch konnten sie nichts erfahren, was er gebracht hatte. Jedes suchte sein Zimmer, und Wilhelm nahm diesmal bei Melina sein Nachtquartier und legte sich, nachdem sie vorher noch vielerlei abgehandelt, mit einem wüsten Kopfe und sehr bedrängten Herzen in ein Bette, das man ihm geschwind in die Ecke zurechtmachte.

Siebentes Kapitel

Er warf in größter Verwirrung und Verlegenheit sein Haupt auf dem Kissen hin und her, der Schlaf war nicht so gefällig, seinen Zustand zu lindern. Der Verlust seines Geldes, die Angst der Seinigen, seine alten Wünsche und seine gegenwärtigen Verbindungen wurden ihm in der Seele lebhaft. Die Schimpfworte des Offiziers summten ihm in den Ohren, und es war ihm unterträglich, in einer solchen Gesellschaft zu sein, ob er sich gleich dadurch nicht beleidigt finden konnte. Der Wahn seiner Jugend zerstreute sich wie eine schöne Nebelwolke, die sich um einen dürren Berg bewegt. Er bedauerte sich, das Theater und die Dichtkunst. "Ach!" rief er aus, "möchten doch so viele törichte Jünglinge durch mein Beispiel klug werden, die diesem Irrlichte nachlaufen, die sich von dieser Sirene aus der vorgeschriebenen Fahrt ihres Wandels locken lassen!" Er hatte einige Stunden in so abwechselnden, verdrüßlichen Gedanken gelegen und war einem Krieger zu vergleichen, der mit seiner Mannschaft von einem Feinde unversehens umzingelt ist. Bald ersteigt er einen Berg, bald rekognosziert er das Tal, bald hofft er von dem Flusse Rettung und fängt, nachdem er den ganzen Kreis geschlossen gefunden, mit abwechselnden Gedanken, sich durchzuschlagen oder sich zu ergeben, seine Untersuchung und Überlegung wieder von vornen an.

Er hörte einiges Geräusch in dem Hause, es schien ihm, als wenn Fremde ankämen oder abgingen, er hörte einen Wagen fahren, Koffer schleppen, konnte nicht genau untersuchen, ob es hinauf- oder hinabging. Des Morgens trat Melina, der schon früher auf gewesen und nach den Schildwachen gesehen hatte, vor sein Bette und rief: "Stehen Sie auf, mein Freund, und besehen mit mir das leere Nest! Die Vögel sind ausgeflogen, und unser Glück ist, daß wir uns vorgesehen haben."

Wilhelm war verwundert und konnte nicht ganz begreifen, was er meinte. Genug, die Prinzipalin hatte sich diese Nacht mit Mosje Bendel in der Stille davongemacht. Man erfuhr nunmehr, daß ihr der Kommandant habe sagen lassen, sie solle ohne weitere Umstände den wüsten Menschen, der dem Publiko so unangenehm sei, hinwegschaffen, weil er ihr sonst vor nichts stehe und sie sich gewärtigen müsse, daß ihn der Pöbel auf der Gasse angreifen und einen Tumult erregen würde. Sie hatte, wie alles zur Ruhe war, den Wirt hinaufkommen lassen und ihm diesen Befehl entdeckt, von ihm verlangt, daß er Postpferde und einen Wagen kommen lasse, sie wolle Herrn Bendel bis auf die nächste Station begleiten und alsdann wieder zurückkehren. Er habe es im Anfange nicht glauben wollen, doch sei er auf ihr Geheiß noch geschwind zu dem Adjutanten gegangen, der ihm versichert, daß es wahr sei. Sie habe ihm darauf, um ihm ihren Ernst zu zeigen, etwas Geld für Rechnung des Herrn Bendel auf Abschlag gegeben und ihn auf die bewachte Kasse und Garderobe gewiesen und dabei gesagt, es wäre ja natürlich, daß sie diese nicht im Stiche lassen würde, so wie sie auch nur etwas weniges von Kleidung mitnehmen wollen.

"Mein guter Freund", sagte Melina, "diesmal hat Euch Eure Klugheit verlassen, denn Ihr werdet sie nicht wieder zu sehen kriegen, und diesem Herrn" – er deutete auf Wilhelmen – "gehört die Garderobe und die Kasse und was nur da sein mag als Pfand und für bare Auslagen zu; doch seid nur ruhig, wir wollen sehen, wie wir auseinanderkommen und einer dem andern seinen Schaden übertragen hilft." Es befand sich noch ein großer Koffer in ihrer Stube. Melina behauptete, man müsse ihn aufbrechen, man werde ihn mit Stroh und Steinen ausgefüllt finden, andere waren anderer Meinung, und man ließ ihn stehen.

Die Nachricht verbreitete sich mit dem anbrechenden Morgen. Alle Akteurs, die teils im Hause, teils auswärts wohnten, kamen eilends zusammen. Man fragte, man ratschlagte, man verwarf, nahm sich vor und unterließ wieder, ein jeder rief und glaubte das Beste gefunden zu haben, und ein jeder mußte vor der lauten Meinung seines Nachbars schweigen. Einige, die das Theater, da sie das Wirtshaus noch mit Soldaten besetzt sahen, besucht hatten, fanden dort alles in der schröcklichsten Unordnung. Den meisten war Madame de Retti noch ihre Gage schuldig. Ein jeder fragte nach der Kasse, nach dem Gelde, und Melina wußte sich recht viel, daß er wenigstens einen Teil gerettet hatte. Er bat die übrigen, ruhig zu sein und abzuwarten, wie sich die Sachen auseinanderlegen würden.

Er holte darauf einen Notarius, der jene Pfandverschreibung für Wilhelmen aufgesetzt. Man schloß sich ein, man überlegte, ging zum Oberamtmann, und Wilhelm war so verdrüßlich, so von der Beschwerde und Langeweile dieses Handels aus aller guten Laune gesetzt, wie es wahrscheinlich unsere Leser auch sein würden, wenn wir fortführen, das Detail dieses Konkurses genau zu erzählen.

Achtes Kapitel

Die Überlegungen und Plane, die man machte, wurden auf einmal durch die unvermutete Wiederkunft der Madame de Retti unterbrochen, die gegen alles, was geschehen, aufs feierlichste protestierte. Melina, der hier wieder ein neues Hindernis sah, war aufgebracht, und als sie ihre Verwunderung bezeigte, wie man so schnell, ohne auf sie Rücksicht zu nehmen, habe verfahren können, versetzte er: "Madame, Sie können nicht von uns fordern, daß wir die kühnen Schritte, welche Ihnen Ihr außerordentlicher Geist eingibt, berechnen sollen. In gegenwärtigem Falle wäre wohl niemand außer Ihnen fähig gewesen, eine solche Spazierfahrt zu wagen, die notwendig Verdacht erregen mußte, daß Sie gar nicht wiederkommen würden." – "Ich verzeihe Ihnen", sagte sie, "daß Sie meinem Herzen nicht nachempfinden können, es ist nicht jedermanns Sache." – "Und ich", versetzte Melina, "kann freilich nicht beurteilen, was man für einen würdigen Gegenstand zu tun schuldig und imstande ist."

Wilhelm trat eben dazu, als dieser Streit heftig werden wollte, und da ihm die ganze Sache höchst verdrüßlich wurde, so bat er Herrn Melina, er möchte doch, ohne sich zu erhitzen und Persönlichkeiten dreinzumischen, suchen, was möglich wäre, von dem Gelde zu retten, und die allgemeine Verlegenheit, in der sie sich befänden, nicht noch vermehren. "Ich überlasse Ihnen", fuhr er fort, "die ganze Angelegenheit, denn ich bin nicht imstande mehr, ein Wort drüber zu denken oder zu sagen, noch meinen Vorteil im geringsten dabei zu wahren. Ich bitte Sie, Madame", sagte er, "bedenken Sie doch auch, wieviel ich verliere, seien Sie genügsam und billig und vermehren nicht die Hindernisse." Madame de Retti fing an, ihn mit glatten Worten anzureden; allein Melina sorgte davor, daß er sich bald auf die Seite machte.

Wilhelm ging, um sich zu zerstreuen, auf die Promenade, seinen Herrn von C. aufzusuchen, den er aber nicht fand. Die übrigen Offiziere, die er mehr oder weniger kannte, sahen ihn mit großen Augen an, versammelten sich um ihn und ließen ihn wieder stehen, so daß er etwas Besonders in ihrem Betragen zwar fühlte, aber nicht bemerkte. Er fragte nach dem Herrn von C. Man sagte ihm mit einer besonderen Art, daß er krank sei. Wilhelm entschloß sich, ihn zu besuchen, wurde aber, als er vor die Türe kam, abgewiesen. Man sagte ihm, der Herr schlafe, seine Krankheit habe aber nicht sonderlich viel zu bedeuten. Er ging eine Zeitlang spazieren; doch war ihm dies nicht genug. Er wünschte eine teilnehmende Seele zu finden, mit der er sich unterhalten könnte; es blieb ihm nichts übrig, als zu Frau von S. zu gehen, die selbst und besonders eine ihrer Schwestern wohltätig für ihn war; allein auch diese fand er nicht zu Hause und ging mit Widerwillen nach seiner Herberge. Dort sah er Herrn Melina sehr vergnügt, der ihm die Einleitung erzählte, die er gemacht, und wie er hoffte, durch Nachgiebigkeit einen Vergleich zustande zu bringen, damit die Sache wenigstens nicht zur Klage käme und sie den besten Teil davon erretteten. Wilhelm war ungeduldig und versicherte, daß er weiter nichts von diesem Handel hören wollte. Er wandte sich darauf zu Madame Melina und sagte: "Ich möchte wissen, was meinem Freunde C. fehlet, ich höre, daß er krank ist, und hoffe, es wird von keiner Bedeutung sein." – "Eben", versetzte sie, "wollte ich fragen, ob Sie ihn nicht besucht haben; wir hören, daß er sich duellieret hat, und zwar soll es um Ihrentwillen geschehen sein." – "Wie!" rief Wilhelm ganz bestürzt, "wie ist das möglich." – "Es sollen einige", versetzte sie, "schon lange über den Vorzug eifersüchtig sein, den er in dem Hause der Frau von S. genießt. Sie suchen allerlei hervor, um ihm zu schaden und ihn verdrüßlich zu machen. Neuerlich haben sie sich über seinen genauen Umgang mit dem Komödianten aufgehalten und es für unschicklich geachtet, daß er Sie in die Gesellschaft der Dame gebracht. Er ist darüber heftig geworden, und in einem Zweikampfe, der auf diesen Handel folgte, hat er seinen Gegner zwar scharf verwundet, ist aber selbst nicht heil davongekommen."

Die kalten Worte der Madame Melina waren tausend Dolchstiche in sein Herz. Er verbarg seine Empfindungen, so gut er konnte, eilte auf sein Zimmer, wo er seinem Verdrusse, Schmerzen und Klagen freien Lauf ließ.

Neuntes Kapitel

So überraschend wie die Untreue Marianens, so unleidlich wie jener Brief des unwürdigen Nebenbuhlers war ihm diese Nachricht und der Zustand, in den er durch sie versetzt wurde. Er hatte nun zum zweiten Male einer angebornen Leidenschaft folgen müssen, hatte sich unmerklich von ihr fortgezogen gesehen und war nun durch sie wieder in eine solche Verworrenheit, in einen solchen schmerzlichen und ängstlichen Zustand versetzt, es drückte von allen Seiten so scharf auf ihn zu, daß er den Schmerzen zu widerstehen oder sie zu ertragen nicht vermochte. "Wie!" rief er aus, "mußte ich von Jugend auf sachte gereizt, gelockt, geführt werden, um am Ende in diese Falle zu geraten, die so verderblich über mich zusammenschlägt?"

Er ergriff die Feder und ließ in einem Billette an seinen Freund von C. dem heftigsten Verdrusse freien Lauf. Er bat den braven Mann um Vergebung, daß er ihn in solche Verlegenheit versetzt, schalt sich und konnte nicht Worte genug finden, sich anzuklagen und seinen Schmerz zu bezeigen. Der Brief ward gleich fortgeschickt, und das Nachdenken und Sinnen ging von neuem an.

Er hatte Leiden von dieser Art noch nicht gekannt, denn selbst die erste rasche Verzweiflung und die nachklingende stille Trauer über das Unglück der Liebe haben etwas Reizendes, etwas Hinziehendes; man übergibt sich ihr gerne, anstatt daß die Seele jeden andern Verdruß, der ihr von äußern Dingen widerfährt, je eher je lieber abschüttelt. Auch war diese Zeit her unbemerkt in seine Seele ein männlicher Zug gekommen, ob er gleich übrigens noch ganz Jüngling war. Er fühlte mehr Zorn als Schmerz, und wenn ihm seine eigene Fehler lebhaft wurden, so war dies eben das, was ihn am meisten drückte. Durch ein freiwilliges Bekenntnis sich Luft zu verschaffen, setzte er sich hin, Wernern in den lebhaftesten Ausdrücken die ganze Geschichte zu erzählen, seine Torheiten zu bekennen und um Vergebung zu bitten. Er schloß seinen Brief mit der Versicherung, daß er nunmehr seine Reise weiter fortsetzen und sein angefangenes Geschäfte besser besorgen wolle. Er verhielt ihm nicht, wie viel Geld aufgegangen, glaubte aber, daß es doch am Ende wohl angewendet sei, weil er dafür teure Erfahrungen gemacht, welche ihm auf sein ganzes Leben nützlich sein würden.

Es war ihm recht wohl, wie er diese Bürde von der Brust hatte, er fühlte sich wie neugeboren, und ob ihm gleich der Verdruß über das schändliche Betragen des Publikums, wie es ihm vorkam, oft wieder zu Herzen kehrte, so setzte er sich doch gar bald wieder ins Recht, entschuldigte sich und vergab sich alles; dann überfiel es ihn aufs neue, er stampfte, knirschte mit den Zähnen, die Tränen kamen ihm in die Augen, bald schämte und faßte er sich wieder.

"Ist es möglich", sagte er zu sich selbst, "daß man eine Klasse von Menschen verachtet, die man überall willkommen heißt, deren Talente man rühmt und aufmuntert, deren Kunst zu sehen, zu hören, zu bewundern sich jeder mit Geld in Händen drängt! Welch ein Widerspruch! welch ein Unsinn!" So bewegt ging er auf und ab, und er würde sich wahrscheinlich aus dieser Lage herausgerissen haben, wenn ihm ein Freund oder das Schicksal eine hülfreiche Hand hätten bieten können. Unter dem Zusiegeln fand er mit großem Verdrusse, daß er einen Bogen genommen hatte, dessen letzte Seite schon halb beschrieben war. Dieses und die allzusehr vernachlässigte Handschrift des Briefes selbst veranlaßte ihn, das Papier liegenzulassen, um es des andern Tages mit Mühe abzuschreiben. Bald darauf trat sein Geschäftsträger Melina herein. Das heitere Gesicht dieses Freundes verkündigte etwas Gutes. "Ich habe mich", sagte er, "mit der übrigen Truppe besprochen, und wir sind über einen Plan einig geworden, der, wenn Sie ihn billigen, unserm Zustande eine neue Gestalt geben kann." – "Was sind Ihre Gedanken?" fragte Wilhelm. – "Man traut mir zu", versetzte jener, "daß ich die Verwaltung des Theaters mit Klugheit und Treue führen werde. Die Prinzipalin sieht wohl, daß sie abgehen und ihrem Liebhaber folgen muß. Ich will die Garderobe gegen eine billige Taxe übernehmen und dafür Ihr Schuldner werden. Die Bude ist, wie wir uns nun unterrichtet haben, balde wieder herzustellen, das Publikum läßt sich leicht versöhnen, wir hoffen eine glückliche Ausbeute und wünschen nichts sehnlicher als unsern edeln Gläubiger balde und völlig zu befriedigen."

Als sich Wilhelm nach dem baren Gelde erkundigte, das sich vorgefunden hatte, mußte er leider vernehmen, daß es meist zur Befriedigung der Akteurs, Handwerker und des Wirtes hingegeben werden müsse; ganz entblößen könne sich der neue Prinzipal auch nicht, und Wilhelm sah bald ein, daß er von seinem vorgeschossenen Gelde wenigstens für diesmal nichts zurückerhalten würde. Er hatte auch darauf keine sonderliche Rechnung gemacht, sondern suchte und hoffte nur, mit dem wenigen, was ihm übrigblieb, seine Reise fortzusetzen und an Orte zu gelangen, wo es ihm an Geld und Kredit nicht fehlen konnte.

Da Wilhelm des andern Tages den gestrigen Brief mit mehrerer Ruhe und Fassung durchsah, schien er ihm zu übertrieben, zu leidenschaftlich. "Was wird Werner von dir denken", sagte er, "daß du dich so albern gebärdest, und was hast du nötig, selbst deinen eigenen Unfall und ein Verhältnis auszuschwätzen, das dir doch in der Folge schädlich werden könnte." Der Brief wurde nicht abgeschrieben, vielmehr zerrissen, und er nahm sich vor, Wernern auf eine klügere Weise nur von dem zu unterrichten, was er zu wissen brauchte. Eine gutherzige, gelinde und verständige Antwort des Herrn von C. befestigte diese Gedanken noch mehr und beruhigte ihn für Augenblicke, denn bald fing seine Seele wieder an, die Schmerzen, den Verdruß von neuem vorzunehmen, durchzuarbeiten und womöglich Herr darüber zu werden.

Mignon war bisher ganz von ihm außer acht gelassen worden, sosehr sich das Kind vor wie nach ihm mit Aufmerksamkeit zu dienen mühte. Da sie merkte, daß sich Wilhelm zur Reise anschickte, war sie fröhlich und außerordentlich geschäftig. "Dein Koffer ist nicht groß", sagte sie, "ein Maultier kann ihn recht gut tragen." – "Wie, mein Kind?" sagte Wilhelm. – "Wenn wir über den Berg gehen", versetzte die Kleine. Sie war ihm aus der knechtischen Entfernung nach und nach ein wenig nähergekommen. Wenn sie ihn abends aufwickelte und morgens frisierte, machte sie es freilich nicht zum geschicktesten und hielt sich länger, als es ihm lieb war, auf, die Haare auszukämmen und zu streicheln, und kehrte sorgfältig an ihm, wenn sie ein Fleckchen oder Stäubchen erblickte. Sie stund, wenn er schrieb oder las, manchmal vor ihm oder setzte sich still an seinen Sessel auf die Erde nieder. Wenn er sie ansah, glaubte er eine glühende, unter der Asche verglühende Kohle zu erblicken. Gegenwärtig war sie munter und rührig, ihre Seele war in Bewegung, sie schien einer angenehmen Veränderung entgegenzusehen. Wilhelm fühlte wohl, daß sie mit ihm zu reisen hoffte, es war ihm ein neuer Kummer und ein Stein auf dem Herzen.

Zehntes Kapitel

Die Prinzipalin war abgegangen, ohne daß von Mignon die Rede gewesen wäre, wer das Kind behalten oder sich seiner annehmen sollte. Bei der Truppe war man mit der neuen Einrichtung sehr beschäftigt und würde in kurzer Zeit zu Ende gekommen sein, wenn nicht die Bewegung der großen Welt diese kleine Stadt verschlungen hätte. Die Nachricht eines ausbrechenden Krieges kam ganz unerwartet. Das Regiment ward beordert, sich marschfertig zu halten, alles ging durcheinander, und die stilleren Musen hielten den Lärm nicht aus. Der schön durchdachte Plan unsers neuen Direktors war auf einmal zugrunde gerichtet; denn man konnte leicht übersehen, daß bei solchen Umständen in einer Landstadt wenig zu verdienen sein werde, man mußte also auf etwas anders sinnen und einen Entschluß bald ergreifen, wenn man nicht in Gefahr kommen wollte, Not zu leiden. Das schlimmste war, daß man leicht voraussehen konnte, es werde sich der Krieg durch den größten Teil von Deutschland verbreiten und die Schauspielkunst überall Mangel und Gefahren ausgesetzt sein. Man kannte wenig Gesellschaften, zu denen man sich hätte, auch unter günstigern Umständen, wenden können. Endlich glaubte man, daß nach H*** zu gehen wohl das beste sein möchte. Die Lage des Ortes ließ Ruhe und die Umstände daselbst eine gute Aufnahme der Schauspielkunst vermuten. Die Truppe, die sich dort befand, hatte einen guten Namen, und was noch mehr war, so kannte Wilhelm den Direktor und war seiner Geschäfte wegen genötigt, dorthin zu gehen. Er konnte also seine Freunde begleiten und empfehlen und ein doppeltes Vergnügen davon einernten. Da dieser Gedanke zuerst Melina und seiner Frau eingefallen war, hielt man vor ratsam, ihn vor den übrigen Akteurs zu verbergen, um sich nicht mit zu vielen Menschen zu beladen und die Vorteile allein zu genießen. Wilhelm hielt sich auch dieses besonders aus, weil er mit einer großen Gesellschaft zu reisen keine Lust hatte.

Als man sich mit den Anstalten dazu beschäftigte, kam Mademoiselle Philine zu ihm aufs Zimmer, eine junge, muntere Aktrice, deren wir bisher entweder gar nicht oder im Vorübergehen erwähnt haben. Unser Freund mußte sich von Madame Melina oft Vorwürfe machen lassen, als wenn er dieser kleinen, leichtfertigen Figur artiger begegne und mehr Neigung zu ihr habe, als ihr Betragen verdiene; und gewiß war es, daß er sie mit Nachsicht und einer Art von Gefälligkeit betrachtete, ob er sie gleich weder schätzen noch lieben konnte. Sie hatte von früher Zeit an mit einem unglaublichen Leichtsinne dahingelebt und jeden Tag und jede Nacht, gleichsam als wenn es der erste und der letzte wäre, sorglos der Freude gewidmet. Sie gestand, daß sie nie eine Neigung zu irgendeinem Manne gefühlt, und pflegte im Scherze zu sagen, es sei so ein eintöniges Geschlecht, daß man einen von dem andern wenig unterscheiden könne. Sie warf nicht leicht ihre Augen auf einen, der sich nicht auch um ihre Gunst bemüht hätte, und es war nicht leicht einer, auf den sie nicht ihre Augen warf. Sie war das gutherzigste Geschöpf von der Welt, naschte gerne, putzte sich und konnte nicht leben, ohne spazierenzufahren oder sich sonst eine Veränderung zu machen. Ganz allerliebst war sie aber, wenn sie ein Glas Wein im Kopfe hatte. Wer ihr diese Freuden verschaffen konnte, war ihr angenehm, und wenn sie einmal, welches doch selten geschah, einiges Geld übrig hatte, so vertat sie es auch wohl mit einem irrenden Ritter, der ihr leidlich gefiel und dessen starke Seite der Beutel nicht war. In reichlichen Tagen schien ihr nichts gut genug, und bald darauf nahm sie wieder mit allem vorlieb. Sie pflegte sich einem freigebigen Geliebten zu Ehren mit Milch, Wein und wohlriechenden Wassern zu waschen, bald tat ihr der gemeine Brunnen gleiche Dienste. Gegen Arme war sie sehr freigebig und überhaupt von Herzen mitleidig, nur nicht gegen die Klagen eines Liebhabers, den sie einmal abgedankt hatte. Was sie von Kleidern, Bändern, Hauben, Hüten und dergleichen ablegte, warf sie gewöhnlich zum Fenster heraus. Ihr ganzes Wesen hatte etwas Kindisches und Unschuldiges, das ihr in den Augen eines jeden einen neuen Reiz gab. Alle Frauen waren ihr aufsässig, und zwar mit Recht. Auch ging sie mit keiner um und hatte selbst zu ihrer Bedienung bald einen alten Abenteurer, bald einen jungen Anfänger.

Der Leser wird sie genug aus diesen Zügen kennen, wir häufen deswegen nicht mehrere zusammen und kommen nur zu der Verwunderung, die unser Freund über diesen Besuch bezeigte, da sie selten und niemals alleine zu ihm zu kommen pflegte. Sie ließ ihn nicht lange in der Ungewißheit, vielmehr zeigte sich es, daß ihr die bevorstehende Reise verraten worden war. Sie bestund darauf mitzugehen und betrug sich so artig, so schmeichelnd, so eifrig, daß es ihr Wilhelm wenigstens in dem Augenblicke nicht abschlagen konnte.

Es setzte, da Wilhelm dieses, wiewohl mit einiger Schüchternheit, Madame Melina vortrug, einige Debatten; doch balde war das Projekt noch ruchtbarer geworden, und es drängten sich noch mehrere hinzu, jeder mit der Überzeugung, daß die Gesellschaft nur besser aufgenommen werden würde, wenn er sich dabei befände. Und da man es einigen zugestand und noch eine Kutsche zu nehmen sich entschloß, so war auch gar bald der dritte Wagen nötig; andere wollten den Weg zu Pferde machen, und zuletzt waren sogar die Böcke besetzt. Man behandelte Herrn Melina und seinen Freund als Anführer dieser Karawane, und die Gesellschaft machte sich auf den Weg.

Eilftes Kapitel

Viele unsrer Leser, die am Ende des vorigen Kapitels zufrieden waren, daß wir endlich wieder den Platz veränderten, werden vielleicht ungehalten sein, wenn wir noch einmal zurückkehren, um verschiedener Dinge zu erwähnen, die beim Abschiede vorgingen.

Die erste Unterredung mit Herrn von C. nach jenem Vorfalle, vor der sich Wilhelm so sehr gescheut hatte, ging leicht und ohne Anstoß vorüber und war nunmehr leider zu Betrübnis beider Freunde die letzte. Von jener Begebenheit wurde gar nicht gesprochen. "Mein Bester", rief Herr von C. aus, als er ihn ansichtig wurde, "Sie sehen mich im Begriffe, auch auf einen Schauplatz zu eilen, wo man ernsthaftere Stücke aufführt, wo jeder seine Rolle nur einmal spielt und wo niemand, der seinen fünften Akt geendet, wiederkehren kann." – "Wie unrecht haben Sie, mein Herr", versetzte Wilhelm, "den weiten Raum jener freien, männlichen Taten mit den engen Schranken unsrer kindischen Spiele zu vergleichen! Wie glücklich sind Sie, daß Ihr Schicksal Sie an Orte führt, wo der ganze Mensch seine besten Kräfte anwenden kann, wo alles, was er in seinem Leben geworden, wozu er sich gebildet, in einem Augenblicke wirksam werden und sich in seinem höchsten Glanze zeigen muß. Wie sehr hoffe ich mich in meinem geringen Zirkel zu ergötzen, wenn der Ruhm mir Ihren Namen nennt und mir zugleich versichert, daß das Glück auf seiten des Verdiensts gestritten hat!" – "Ich erwarte, mein Freund", versetzte Herr von C., "daß mein Schicksal ein viel stilleres und unbedeutenderes Ende nehmen werde, und ich bin auch damit ganz wohl zufrieden. Sie mögen wohl recht haben, wenn Sie nicht erlauben wollen, daß man das, was uns begegnet, was wir unternehmen, einem Schauspiele vergleiche, da es wirklich um ein großes Teil ernsthafter ist und das wenigste, was geschieht, gesehen werden kann. Die guten, müßigen Zuschauer erblicken von weitem das gefährliche Getümmel, worinnen, wie in der übrigen Welt, im verborgnen, von stiller Nacht oder von Rauch und Dampf bedeckt, die edelsten Taten für die Vergessenheit geschehen, indes nur wenige, durch ein unbilliges Glück begünstigt, den Ruhm, der vielen gebührt, auf sich häufen und hinwegnehmen. Es ist ein Glückspiel; und Sie wissen wohl, mein Freund, wie wenig dieses unter edlen und unedlen Menschen, unter Verständigen oder Toren, unter Tapferen oder Feigen einen Unterschied macht." – "Wie", rief Wilhelm aus, "und Ihre ganze Seele glüht nicht, sich hervorzutun, Sie werden nicht mit ungestümer Begierde fortgerissen, Ihre Taten, Ihren Namen als Muster der Nachwelt zu hinterlassen?" – "Mitnichten, mein Freund", versetzte der andere. "Ich bin gewohnt, in meinem Handwerke und an dem Platze, wo ich bin, meine Schuldigkeit zu tun; ich werde meine Schuldigkeit tun und das übrige geruhig abwarten. Wenn ich dadurch den Offizieren, den Soldaten von meiner Kompanie mit einem Beispiele vorgehe, daß sie in dem, was für sie gehört, fester, mutiger und gewisser handeln, und, wenn ich als ein braver Mann umkomme, es nur diese wissen, nur allenfalls mein Regiment darauf aufmerksam wird, so habe ich mehr getan als mancher, dessen Name durch einen Zufall, der für die Seinigen von keinem Vorteile ist, in Zeitungen ausgestreut wird. Glauben Sie mir, der Ruf ist eine ohnmächtige Gottheit, er gleicht an Willkür dem Winde und hält sich hart an den Zufall. Man gibt ihm hundert Zungen, und wenn man sie zu Millionen vermehrte, so würde er nicht den millionsten Teil von dem, was täglich Gutes heimlich in allen Ständen geschieht, verkündigen können; und wenn er es verkündigte, wer wollte darauf achten? Nur die rohesten Gunstbezeugungen des Glückes, nur die strengsten Anfälle des Übels sind seinen zerstreuten Augen bemerkbar; und was hat der Held vor allen voraus, um der Gerühmteste aller Gerühmten zu sein? Nichts, als daß der Niedrigste im Pöbel sehen und begreifen kann, er habe seinen Feind in die Flucht geschlagen, ihn unter die Füße getreten. Vielleicht hat ein anderer, vielleicht eben derselbige Mann zu einer andern Zeit weit gefährlichere Feinde zu überwinden, mehr Größe des Geistes, mehr Stärke der Seele, mehr Heldenmut angewendet, und wer hat es bemerkt, oder wer war fähig, es zu bemerken?" – "Sie kennen die Welt länger und besser als ich", versetzte Wilhelm, "und ich selbst habe nicht Ursache, das Beste von ihr zu vermuten; doch ist das, was Sie mir sagen, so sehr allen Begriffen der Jugend, allen unsern Wünschen zuwider, daß ich mich nicht entschließen kann, Ihnen ganz Beifall zu schenken, daß ich geneigter bin, einem hypochondrischen Zuge Ihres Charakters mehr Anteil an diesen Gesinnungen zu geben, als er doch wohl nicht haben mag." Herr von C. lächelte und versetzte: "Ich möchte Sie nicht gerne anstecken, und unsere Zeit ist zu kurz, als daß wir diese Sache ausführlich durchsprechen könnten. Nur eins merken Sie sich als dramatischer Schriftsteller und lassen sich es immer gesagt sein, sosehr wir auch schon lange darüber einig sind: Lernen Sie daraus, daß man nur recht sichtbare, starke, grobe, ausgezeichnete Züge dem Volke aufstellen müsse und daß das Feinere, Innigere, Herzlichere weniger Wirkung tue, als man denkt, besonders wenn man Effekt auf die Menge machen will, die doch am Ende immer bezahlt."

Sie mußten sich in diesem Augenblicke trennen, sahen sich einige Tage nachher nur auf wenige Worte wieder und verschwanden sich einander zuletzt, ohne recht Abschied genommen zu haben.

Zwölftes Kapitel

Wilhelm saß in einem Wagen mit Mignon, Frau Melina und ihrem Manne. Dieser, der das Fahren nicht wohl vertragen konnte, mußte bald aussteigen und sich das Pferd eines andern erbitten. Die kluge Philine merkte gleich diese Veränderung und erbat sich den ledigen Platz, der ihr auch nicht wohl versagt werden konnte, und sie war kaum eingenommen, als sie es auf Wilhelmen, den einzigen Mann in der Gesellschaft, nach gewohnter Weise anlegte und bald seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen wußte. Sie sang einige Lieder recht artig, und man sprach von allerlei Sujets, die dramatisch behandelt werden könnten. Diese Lieblingsmaterie brachte den jungen Dichter in seine beste Laune, und er komponierte ihnen aus dem Reichtum seines lebendigen Bildervorrates ein ganzes Schauspiel mit seinen Akten, Szenen, allen Einteilungen, Charakteren und Verwicklungen, ja die Dekoration ward nicht vergessen. Man fand für gut, einige Arien und Gesänge einzuflechten, man dichtete sie, und Philine, die in alles einging, paßte ihnen gleich bekannte Melodien an und sang sie aus dem Stegreife. Wilhelm, in der fröhlichsten und freudigsten Laune, fuhr bald ernst, bald scherzend fort und vergaß beinahe, indem er sich mit der leichtfertigen Kreatur abgab, seiner ernsteren Freundin und seines geliebten Kindes. Philine hatte eben heute ihren schönen, sehr schönen Tag, sie wußte mit allerlei Neckereien ihm nahezukommen, es ward ihm wohl, wie es ihm lange nicht gewesen.

Nach einer Reise von etlichen Tagen mußten sie endlich an einem kleinen Orte stilleliegen, weil die Gegenden nicht sicher waren und in der Nachbarschaft die Freichore herumschwärmten. Wider ihren Willen mußten sie in ein Wirtshaus zusammenkriechen, mehrere wohnten in einer Stube und behalfen sich, so gut sie konnten, nur Philine, die auf unsern Helden einen Anschlag gemacht hatte, nahm mit einem kleinen Kämmerchen auf dem obern Gange vorlieb, um allein und ungestört zu sein.

Wilhelm hatte sich auf Antrieb der Madame Melina in Besitz einer hübschen Stube gleich an der Treppe gesetzt. Seitdem ihn jene grausame Entdeckung aus den Armen Marianens riß, hatte er ein Gelübde getan, sich vor dieser zusammenschlagenden Falle zu hüten, das treulose Geschlecht zu meiden, seine Schmerzen, seine Neigung, seine süßen Wünsche in sich zu verschließen. Die Gewissenhaftigkeit, womit er sein Gelübde beobachtete, gab seinem ganzen Wesen eine innere geheime Nahrung, und wenn sein Herz nicht ohne Teilnehmung bleiben konnte, so ward eine liebevolle Mitteilung seinem ganzen Wesen ein schmerzliches Bedürfnis. Er ging wieder, wie von dem ersten Jugendnebel begleitet, umher, seine Augen faßten jeden reizenden Gegenstand mit Freuden auf, und nie war sein Urteil über eine liebenswürdige Gestalt schonender gewesen. Wie gefährlich ihm in einer solchen Lage das verwegene Mädchen ward, kann man leicht begreifen, und wir brauchen wohl nicht mehr zu sagen, um die Art von Neigung, die er für sie, ohne es selbst zu wissen, empfand, vor unsern Leserinnen einigermaßen zu entschuldigen, da ihn unsere Leser, wie wir überzeugt sind, schon lange absolviert haben.

Kaum waren sie angelangt und zu einiger Ruhe gekommen, als Madame Melina bei einem Spaziergange ihn sehr ernstlich über diese Empfindungen zur Rede setzte, die er bei sich selbst noch nicht bemerkt hatte. Er schwur hoch und teuer, und er konnte schwören, daß ihm nichts weniger eingefallen sei, als sich an dieses Mädchen, deren ganzen Wandel er wohl kenne, zu wenden, er entschuldigte sich, so gut er konnte, über sein freundliches und artiges Betragen gegen sie und befriedigte Madame Melina auf keine Weise.

Ihren Mann fanden sie auch bei der Rückkunft in der übelsten Laune. Er hatte sich an allen Orten und Enden erkundigt, ob es nicht möglich sein sollte, die Reise weiter fortzusetzen; jedermann hatte es ihm mit den besten Gründen widerraten. Die Armeen waren so gar weit nicht auseinander, man konnte in der Gegend, worauf sie zu wollten, eine Schlacht vermuten, es blieb ihnen nichts übrig, als zu bleiben, eine Notwendigkeit, die fast ebenso gefährlich war als die Gefahr selbst.

Die allgemeine Kasse, welche Herr Melina führte und welche eigentlich aus den Resten von Wilhelms zusammengestoppelter Barschaft bestand, woraus die Reisekosten und der Unterhalt eines Teiles der Gesellschaft bestritten werden sollte, ließ nach und nach den leeren Boden sehen. Andere, die noch etwas übrig und sich selbst zu verköstigen übernommen hatten, lebten leichtsinnig, empfanden bald Mangel und kamen dahin, wo sie noch etwas Geld vermuteten, borgten und wollten borgen. "Wir werden bald hausieren gehen müssen!" rief Melina aus. "Sein Sie nicht mißmutig", versetzte Wilhelm, "es wird sich in kurzem zeigen." – "Wenn wir nur allein wären und hätten uns die Last der vielen Menschen nicht aufgeladen!" sagte jener. "Mein letzter Groschen steht zu Diensten", versetzte Wilhelm, "ich will, solang wir beisammen sind, nichts Eigenes haben." – "Wir werden nur um ein paar Tage später hungern", sagte Melina, "und wer wird uns aus diesem Neste erlösen?" Der andere wußte nichts darauf zu antworten.

Bei Tische ließ Melina seinen üblen Homor auch gegen die übrigen aus, denn man aß zusammen, und er ward nur durch die Anfrage des Wirtes unterbrochen, der einen Harfenspieler anmeldete. "Sie werden", sagte er, "gewiß Vergnügen an seiner Musik und an seinen Gesängen finden, es kann sich niemand, der ihn hört, enthalten, ihn zu bewundern und ihm etwas weniges mitzuteilen." – "Lassen Sie ihn weg", versetzte Melina, "ich bin nichts weniger als gestimmt, einen Leiermann zu hören, und wir haben allenfalls Sänger unter uns, die gerne etwas verdienten." Er begleitete diese Worte mit einem tückischen Seitenblicke, den er auf Philinen warf. Sie, die ihn wohl verstand, ergrimmte heimlich, und um ihren Verdruß nicht merken zu lassen, wendete sie sich an Wilhelmen: "Sollen wir den Mann nicht hören." sagte sie, "die Langeweile wird uns zugrunde richten! Ich für meinen Teil gebe gerne etwas dazu." Melina wollte darauf antworten, und der Streit wäre lebhafter geworden, wenn nicht Wilhelm den im Augenblicke hereintretenden Mann begrüßt und ihn sich zu nähern geheißen hätte. Die Gestalt dieses seltsamen Gastes machte die ganze Gesellschaft erstaunen, und er hatte schon von einem Stuhle Besitz genommen, ehe jemand ihn zu fragen oder sonst etwas vorzubringen das Herz hatte. Ein kahler Scheitel, von wenig grauen Haaren umkränzt, große blaue Augen, die unter langen weißen Augbrauen hervorsahen, eine wohlgebildete Nase, an die sich ein weißer, mittelmäßiger Bart anschloß, mußte der Gesellschaft ein sonderbares Bild vorstellen. Ein langes, dunkelfarbiges Gewand bedeckte einen schlanken Körper vom Halse bis zu den Füßen. Er nahm die Harfe und fing zu präludieren an. Die angenehme Töne, die er aus dem Instrumente hervorlockte, die muntern, sanften Melodien, die von seinen Saiten tönten, setzten bald die Gesellschaft in die beste Laune. "Ihr pflegt auch zu singen, guter Alter!" sagte Philine. "Gebt uns etwas, das unseren Geist ergötze", sagte Wilhelm, "denn da ich nicht Kenner bin, so sind diese Melodien, Gänge und Läufe meinem Ohr nicht viel mehr, als bunte Papierschnitzel und scheckige Federn, die der Wind in der Luft herumtreibt, meinem Auge wären; da sich der Gesang hingegen wie ein Schmetterling oder wie ein schöner Vogel lebendig in die Luft hebt und Herz und Seele ihn zu begleiten anreizt."

Der Alte sah Wilhelmen an, alsdann gen Himmel, tat einige Griffe auf der Harfe und begann sein Lied. Es enthielt ein Lob auf den Gesang, pries das Glück der Sänger, warnte die Menschen, sie zu ehren. Er trug es mit vielem Leben und Wahrheit vor, daß es schien, als hätte er es in diesem Augenblicke und bei diesem Anlasse gedichtet, und Wilhelm enthielt sich kaum, ihm um den Hals zu fallen; nur Scheue vor der Gesellschaft zog ihn auf seinen Stuhl zurück. Er fürchtete ein lautes Gelächter, wenn er einen Fremden mit Entzücken umarmte, über den man noch streitig war, ob es ein Pfaffe oder ein Jude sei. Man fragte eifrig nach dem Verfasser des Liedes, worauf er keine bestimmte Antwort gab, nur versicherte, daß er deren sehr viele habe und wünsche, daß sie der Gesellschaft gefallen möchten. Man war fröhlich und freudig geworden, schwatzte untereinander, scherzte, und er fing an, das Lob des geselligen Lebens auf das geistreichste zu singen; er pries die Einigkeit und Gefälligkeit mit einschmeichelnden Tönen, trocken war sein Gesang, rauh und verworren, als er gehässige Verschlossenheit, kurzsinnige Feindschaft und gefährlichen Zwiespalt bedauerte, und gern warf jede Seele diese drückende Schalen ab, als er, auf den Fittichen einer vordringenden Melodie getragen, den Preis der Friedensstifter und das Glück der Seelen, die sich wiederfinden, sang.

Wilhelm fühlte sich wie neugeboren, Sein leidiges Verhältnis hatte ihm, ohne daß er es bemerkte, eine Feder nach der andern verleimt und ihn so bestrickt und zusammengezogen, daß er sich, ohne es recht zu wissen oder zu begreifen, gefangen fühlte; nun hatte der Geist eines Alten seine ganze Seele wieder angefacht, es war, als wenn ein Windsturm alle Wolken zerrissen hätte, und wie der erste Sonnenblick nach einer langen, trüben Zeit auf einmal eine ganze Gegend in die alten Rechte der schönen Tage wieder einsetzt, so war es auch in seinem Herzen, das sich wieder von einer unbedingten Freiheit beglückt fühlte; er sah nicht mehr, wo noch wer er war, alle Gegenstände veredelten sich vor ihm, und von seiner alten, glücklichen Torheit ergriffen, rief er aus: "Wer du auch seist, der du als ein hülfreicher Schutzgeist mit einer segnenden und belebenden Stimme zu uns kommst, nimm meine Verehrung und meinen Dank, fühle, daß wir alle dich bewundern, und vertraue uns, wenn du etwas bedarfst!"

Der Alte schwieg, ließ seine Finger über die Saiten schleichen, griff schärfer drein und sang:

"Was hör ich draußen vor dem Tor?
Was schallet auf der Brücken?
Es dringet bis zu meinem Ohr
Die Stimme voll Entzücken."
Der König sprach’s, der Page lief,
Der Knabe kam, der König rief:
"Laßt ihn herein, den Alten!"

"Gegrüßet seid ihr, hohe Herrn,
Gegrüßt ihr, schöne Damen!
Welch reicher Himmel, Stern bei Stern!
Wer kennet ihre Namen?
Im Saal voll Pracht und Herrlichkeit
Schließt, Augen, euch, hier ist nicht Zeit,
Sich staunend zu ergötzen."

Der Sänger drückt’ die Augen ein
Und schlug in vollen Tönen;
Die Ritter schauten mutig drein
Und in den Schoß die Schönen,
Der Fürst, dem es so wohl gefiel,
Ließ, ihn zu lohnen für das Spiel,
Ein’ goldne Kette holen.

"Die goldne Kette gib mir nicht,
Die Kette gib den Rittern,
Vor deren kühnem Angesicht
Der Feinde Lanzen splittern;
Gib sie dem Kanzler, den du hast,
Und laß ihn noch die goldne Last
Zu andern Lasten tragen.

Ich singe, wie der Vogel singt,
Der in den Zweigen wohnet,
Das Lied, das aus der Kehle dringt,
Ist Lohn, der reichlich lohnet;
Doch darf ich bitten, bitt ich eins,
Laß mir den besten Becher Weins
In purem Golde reichen!"

Er setzt’ ihn an, er trank ihn aus:
O Trank von süßer Labe!
Er rief: "O hochbeglücktes Haus,
Wo das ist kleine Gabe!
Ergeht’s euch wohl, so denkt an mich,
Und danket Gott so warm, als ich
Für diesen Trunk euch danke!"

Dreizehntes Kapitel

Da der Sänger nach geendigtem Liede ein Glas Wein, das für ihn eingeschenkt dastand, ergriff und es mit freundlicher Miene, sich gegen seinen Wohltäter wendend, austrank, entstand eine allgemeine Freude in der Versammlung. Man klatschte und rief ihm: es möge dieses Glas zu seiner Gesundheit, zur Stärkung seiner alten Glieder gereichen! Er sang noch einige Romanzen und erregte immer mehr Munterkeit in der Gesellschaft.

"Kannst du das Lied, Alter", rief Philine: "Der Schäfer putzte sich zum Tanz’?" – "Sonst", sagte er, "gelang es mir, jetzt weiß ich nicht. Wollen Sie die Schäferin vorstellen?" – "Von Herzen gerne", rief sie aus, "ich habe lange gewünscht, jemanden zu finden, mit dem ich es wieder einmal singen könnte. Nur verwirre dich nicht in den drolligen, rollenden Silben des Refrains." Sie stund auf und setzte sich zu ihm scherzend an die Erde.

Da das Lied nichts weniger als ehrbar ist, können wir es unsern Lesern nicht mitteilen, und da es eigentlich von einem tanzenden, gestikulierenden Paare gesungen werden muß, so verlor es auch bei dieser Aufführung etwas von seiner Stärke; doch wurde es mit dem größten Beifalle aufgenommen, und die feinen, launigen Pfiffe, die geschickten Wendungen und artige Gebärden, womit Philine die Zweideutigkeiten, indem sie sie verbergen zu wollen schien, geltend machte, fand vor aller und auch sogar vor Wilhelms Augen Gnade. Die Gesellschaft war ganz entzückt, da aber unserem Freunde die bösen Folgen ihrer Lust schon längst bekannt waren, suchte er abzubrechen, steckte dem Alten für seine Bemühung einen reichlichen Lohn in die Hand, die andern taten auch etwas, man hieß ihn ruhen und versprach sich des nächsten Abends eine wiederholte Freude von seiner Geschicklichkeit.

Als er hinweg war, sagte Wilhelm zu Philinen: "Ich kann die Moralität Ihres Leibgesanges zwar eben nicht loben, doch wenn Sie mit ebender Naivetät etwas Angenehmes und Schickliches auf dem Theater ausgeführt hätten, so würde Sie eine verdiente Bewunderung zum Range der ersten Aktricen erhoben haben.

Wahrhaftig, dieser Mensch beschämt uns alle! Haben Sie bemerkt, wie richtig der dramatische Ausdruck seiner Romanzen war? Gewiß, es lebte mehr Darstellung in seinem Gesange als in unsern Personen auf der Bühne. Man sollte die Aufführung mancher Stücke eher für eine Erzählung halten und diesen dichterischen Erzählungen eine sinnliche Gegenwart zuschreiben."

"Er beschämte uns in noch einem Punkte", rief Melina, als alles stilleschwieg, "und zwar in einem Hauptpunkte; die Stärke seiner Talente zeigt sich in dem Nutzen, den er davon zieht. Uns, die wir vielleicht in acht Tagen in Verlegenheit sein werden, wo wir eine Mahlzeit hernehmen, bewegt er, unsere Mahlzeit mit ihm zu teilen. Er weiß uns das Geld, das wir so nötig brauchen, um den Ort unserer Bestimmung zu erreichen, durch ein Liedchen aus der Tasche zu locken. Ich habe ihm selbst zwischen Neigung und Widerwillen einige Groschen beigesteuert. Aber wahrhaftig! ich bin auch fest entschlossen, und Sie werden mir nicht zuwider sein, dieses Lehrgeld mit Wucher auf andere zu gewinnen." – "Von Herzen gerne!" riefen einige, "wir sind dabei, wenn sich Gelegenheit findet." – "Die zeigt sich überall", sagte Melina, "man muß nur nicht zu delikat sein. Auf dem Rathause ist ein großer Vorsaal, auf den ich heute frühe schon meine Spekulation machte. Wenn man die Feuereimer weghinge, ein paar alte Rüstungen und Verschläge beiseite schaffte, so fände sich für Theater und Parterre Platz genug. Ich habe die Haken und Balken nachgesehen, wo vorm Jahre eine Seiltänzergruppe ihre Seile und Vorhänge aufhing." – "Sie werden doch nicht", rief Wilhelm, "mit solchem Gesindel sich um die paar Pfennige des hiesigen Publikums beeifern wollen?" – "Ich werde es wohl mit Ihrer Erlaubnis!" versetzte Melina heftig, "denn wir sollen doch nicht immer die großmütigen Toren spielen und wie junge Laffen unser Kapital mitsamt den Interessen verzehren!"

Unserem Freunde stockte das Wort im Munde, denn er fühlte sich und seine Gutmütigkeit, durch die er dieses ganze Geschlecht seit einem halben Jahre war zu nähren gezogen worden, in diesem undankbaren Vorwurfe getroffen. Er sah den niedriggesinnten Direktor mit verächtlichen Augen an und rief ihm zu, indem er die Türe ergriff: "Tun Sie, was Sie wollen, ich werde so bald als möglich meinen Weg weiter suchen und Sie Ihrer Klugheit überlassen:"

Er sprach’s und eilte hinunter, sich auf eine steinerne Bank zu setzen, die vor der Haustüre stand.

Kaum hatte er, gedrückt von verdrüßlichen Gedanken, daselbst Platz genommen, als Philine singend zur Haustüre herausschlenderte und sich zu ihm, ja man dürfte beinahe sagen auf ihn setzte, so nahe rückte sie an ihn an, lehnte sich auf seine Schulter, spielte mit seinen Locken, streichelte ihn und gab ihm die besten Worte von der Welt: Er möchte ja bleiben und sie nicht frühzeitig verlassen.

Endlich, da er sie abzuweisen suchte, schlang sie ihren Arm um seinen Hals und küßte ihn mit dem lebhaftesten Ausdrucke des Verlangens. "Sind Sie toll, Philine", sagte Wilhelm, indem er sich loszumachen suchte, "die öffentliche Straße zum Zeugen solcher Liebkosungen zu machen, die ich auf keine Weise verdiene? Lassen Sie mich los, ich kann nicht und werde nicht bleiben!" – "Und ich werde dich festhalten", sagte sie, "und ich werde dich hier auf öffentlicher Straße so lange küssen, bis du mir es versprichst. Ich lache mich zum Tode", fuhr sie fort, "nach dieser Vertraulichkeit halten mich die Leute gewiß für deine Frau, und die Ehemänner, die so eine anmutige Szene entweder sehen oder davon hören, werden mich als ein Muster einer recht kindlich unbefangenen Zärtlichkeit ihren Weibern anpreisen." Sie liebkosete ihn, eben da einige Leute vorbeigingen, auf das andringlichste, und er, um kein Skandal zu geben, war gezwungen, die Rolle des geduldigen Ehemannes zu spielen.

Wenn die Leute eine Strecke vorbei waren, brach sie in ein unerträgliches Gelächter aus, dann trieb sie wieder voll Übermut allerlei ausgelassene Ungezogenheiten; zuletzt mußte er versprechen, daß er noch heute und morgen und übermorgen bleiben wollte. "Sie sind ein rechter Stock!" sagte sie darauf, indem sie ihm einen Stoß gab und von ihm abließ; "ich habe wahrhaftig niemals so viel Freundlichkeit an den Ältesten und Härtesten umsonst verschwendet." Sie stand mit einigem Widerwillen auf und kehrte lachend zurück. "Ich glaube eben darum, daß ich in dich vernarrt bin", rief sie; "ich will nur gehen und meinen Strickstrumpf holen, daß ich etwas zu tun habe." Diesmal tat sie ihm unrecht. Denn so sehr er von ihr sich zu enthalten strebte, so würde er doch in diesem Augenblicke, wenn eine Laube sie mit Einsamkeit umgeben hätte, ihre Liebkosungen wahrscheinlich nicht unerwidert gelassen haben.

"Erinnerst du dich nicht", sagte sie, "habe ich mein Strickzeug mit zu Tische gebracht?" – "Ich habe nichts gesehen", versetzte er. "So wird es auf meiner Kammer liegen." Und sie ging, nachdem sie ihm einen Blick zugeworfen, in das Haus. Er hatte keinen Beruf, ihr zu folgen, vielmehr empfand er einen Widerwillen und Verdruß über ihr Betragen, doch hob er sich, ohne es selbst recht zu wissen, von der Bank, um ihr nachzugehen.

Er war eben im Begriffe, die Türe hineinzutreten, als ihn ein Knabe aufhielt, der die Gasse heraufgekommen war und ein Päckchen an einem Stocke auf dem Rücken trug. Nach seiner mit Puder bestäubten Kleidung mußte man ihn für einen reisenden Perückenmacher halten, Mit einer offenen, dreisten, lebhaften Zudringlichkeit fragte er Wilhelmen: "Können Sie mir nicht sagen, ist hier eine Gesellschaft Komödianten abgetreten?" – "Es wohnen einige Schauspieler hier", versetzte der Gefragte. Der Wirt des Hauses trat eben herzu, und der junge Pursche fuhr fort: "Es muß eine Mademoiselle dabei sein, die sich Philine nennt, ist sie zu Hause." – "O ja", sagte der Wirt, "oben im zweiten Stocke am Ende des Ganges ist ihre Kammer, ich habe sie eben hinaufgehen sehen." Der Fremdling hörte es mit großen blauen, von Freude leuchtenden Augen an, und ohne sich zu verweilen, war er mit wenigen Sprüngen hinauf.

Insgeheim regte sich ein Verdruß in Wilhelms Busen, er war unentschlüssig, ob er folgen oder bleiben sollte. Ein Reuter, der vor dem Wirtshause stillehielt, dessen gutes Ansehen und fast trutzige Miene ihn aufmerksam machte, hielt ihn auf der Schwelle zurück, besonders da ihm der Wirt wie einem sehr bekannten Freunde die Hand reichte, ihn willkommen hieß und fragte: "Ei, Herr Stallmeister, wie kriegt man Sie einmal wieder zu sehen?" – "Ich will nur hier füttern", versetzte der Fremde, "ich muß gleich hinüber auf das Gut, um in der Geschwindigkeit allerlei einrichten zu lassen; der Graf kommt morgen mit seiner Gemahlin nach, sie werden sich eine Zeitlang drüben aufhalten, um den Prinzen von*** auf das beste zu bewirten, weil er in dieser Gegend wahrscheinlich sein Hauptquartier aufschlägt." – "Es ist schade, daß Sie nicht bei uns bleiben können", versetzte der Wirt, "wir haben gute Gesellschaft." Ein Reitknecht, der nachgesprengt kam, nahm dem Stallmeister das Pferd ab. Er besprach sich mit dem Wirte leise, sah Wilhelmen von der Seite an, und dieser, da er merkte, daß von ihm die Rede sei, begab sich weg und stieg mit einer höchst verdrüßlichen Empfindung die Treppe hinauf.

Oben nahm ihn Madame Melina in Empfang, redete ihm zu und suchte ihm zu zeigen, daß ihr Mann doch so unrecht nicht habe. Er war ärgerlich, wollte keine Gründe hören, und es war ihm angenehm, daß er eine Ursache fand, verdrüßlich zu tun. Madame Melina, die keine üble Laune an ihm gewöhnt war, fand dies höchst befremdend. "Ich sehe, daß ich Ihre Freundschaft verloren habe", rief sie aus und begab sich auf ihr Zimmer. Er folgte ihr nicht nach, wie es sonst geschah, wenn eine kleine Verdrießlichkeit unter ihnen entstand und er seinen Fehler wieder gutzumachen geneigt war.

Auf seiner Stube fand er Mignonen mit Schreiben beschäftigt. Das Kind hatte sich eine Zeit her mit großem Fleiße bemüht, alles, was es auswendig wußte, zu schreiben, und hatte seinen väterlichen Freund das Geschriebene zu korrigieren und ihr Anleitung zu einer schönen Hand zu geben gebeten. Sie war unermüdet und wirklich in wenig Wochen schon weit. Sie machte Wilhelmen, wenn er ruhigen Sinnes war, große Freude; diesmal achtete er wenig drauf, was ihm das Kind zeigte, das sich drüber betrübte, indem es eben seine Sache recht gut gemacht zu haben glaubte und einen Lobspruch erwartete.

Die Unruhe, in der sich Wilhelm befand, trieb ihn, nachdem er eine Zeit sich auf dem Gange verweilt, ob er nichts von Philinen und ihrem jungen Abenteurer entdeckte, den Alten aufzusuchen, durch dessen Harfe er die bösen Geister zu verscheuchen hoffte. Man wies ihn, als er nach dem Manne fragte, auf ein schlechtes Wirtshaus in einem entfernten Winkel des Städtchens und in demselben die Treppe hinauf bis auf den Boden, wo ihm der süße Harfenklang aus einer Kammer entgegenschallte. Es waren herzrührende, klagende Töne, von einem traurigen, ängstlichen Gesange begleitet. Er schlich sich an die Türe, und da es eine Art von Phantasie war, womit der gute Alte fast immer die nämlichen Worte begleitend wiederholte, so konnte der Horcher nach einer kurzen Aufmerksamkeit ohngefähr folgendes verstehen:

Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.

Ihr führt ins Leben uns hinein,
Ihr laßt den Armen schuldig werden,
Dann überlaßt ihr ihn der Pein;
Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.

Die wehmütige Klage drang tief in die Seele des Hörers, es schien ihm, als wenn der Alte manchmal von Tränen gehindert würde fortzufahren, dann klangen die Saiten allein, bis wieder leise in gebrochnen Lauten sich die Stimme dazwischen mischte. Wilhelm stand an dem Pfosten, seine Seele war tief gerührt, die Trauer des Unbekannten schloß sein Herz auf, er widerstand nicht dem Mitgefühle und enthielt sich nicht der Tränen, die des Alten herzliche Klage auch aus seinen Augen hervorlockte. Alle Schmerzen, die seine Seele druckten, lösten sich zugleich auf; er überließ sich ihnen ganz, stieß die Kammertüre auf und stand vor dem Alten, der ein schlechtes Bette, den einzigen Hausrat dieser armseligen Wohnung, zu seinem Sitze zu nehmen genötiget gewesen. "Was hast du in mir für Empfindungen rege gemacht, guter Alter!" rief er aus, "alles, was in meinem Herzen stockte, hast du losgelöst. Laß dich nicht stören, sondern fahre fort, indem du deine Leiden linderst, einen Freund glücklich zu machen." Der Alte wollte aufstehen und etwas reden, Wilhelm litt beides nicht, denn er hatte zu Mittage bemerkt, daß der Mann ungerne sprach; er setzte sich vielmehr zu ihm auf den Strohsack nieder. Der Alte trocknete seine Tränen und fing ganz freundlich zu lächeln an. "Wie kommen Sie hierher? Ich wollte Ihnen diesen Abend wieder aufwarten." – "Wir sind hier ruhiger"., versetzte Wilhelm. "Singe mir etwas, was du willst, das zu der Lage deiner Seele paßt, und tue nur, als ob ich gar nicht hier wäre, es scheint mir, als ob du heute nicht irren könntest. Ich finde dich sehr glücklich, daß du dich in der Einsamkeit so angenehm beschäftigen und unterhalten kannst und, da du überall ein Fremdling bist, in deinem Herzen die angenehmste Bekanntschaft findest." Der Alte sah auf seine Saiten, und nachdem er sanft präludiert, stimmte er an und sang:

Wer sich der Einsamkeit ergibt,
Ach, der ist bald allein.
Ein jeder lebt, ein jeder liebt
Und läßt ihn seiner Pein.
Ja, laßt mich meiner Qual!
O kann ich nur einmal
Recht einsam sein,
Dann bin ich nicht allein.

Es schleicht ein Liebender lauschend sacht,
Ob seine Freundin allein:
So überschleicht bei Tag und Nacht
Mich Einsamen die Pein,
Mich Einsamen die Qual.
Ach, werd ich dann einmal
Einsam im Grabe sein,
Da läßt sie mich allein!

Wir würden zu weitläufig werden und doch die Anmut der seltsamen Unterredung nicht ausdrücken können, die unser Freund mit dem abenteuerlichen Fremden hielt. Auf alles, was der Jüngling zu ihm sagte, antwortete der Alte in der reinsten Übereinstimmung durch Anklänge, die alle verwandte Empfindungen rege machten und ein weites Feld des Denkens eröffneten. Wer einer Versammlung Herrnhuter oder andrer Frommen, die sich auf ihre Weise erbauen, beigewohnt hat, wird sich auch einen Begriff von dieser Szene machen können. Er wird sich erinnern, wie der Liturg seiner Rede einen Teil eines Gesanges einzuflechten weiß, der die Seele dahin erhebt, wohin er wünscht, daß sie ihren Flug nehmen möchte; wie er bald darauf aus einem andern Liede in einer andern Melodie einen Vers hinzufügt und an diesen wieder einen dritten knüpft, der auch die verwandten Ideen der Stelle, der er entwandt ist, mitbringt und durch die neue Verbindung wieder neu und gleichsam individuell wird, als wenn er in dem Augenblicke erfunden worden wäre; wodurch denn aus einem ganz bekannten Kreise von Ideen, aus Liedern und Sprüchen, die vielen zusammen gemein sind, dieser besondern Gesellschaft ihr Nötiges zugeeignet und sie dadurch belebt, gestärkt und erquickt wird –: so erbaute der Alte seinen Gast, indem er die nahen Empfindungen und die entfernten, die wachenden und schlummernden, die angenehmen und schmerzlichen in eine Zirkulation brachte, wodurch unser Freund in einen Zustand versetzt wurde, der sich von seinem bisherigen gedruckten und armseligen Leben wirklich unterschied. Die Gefühle von dem Adel seines Wesens, von der Höhe seiner Bestimmung, das Mitgefühl des Guten und Großen unter den Menschen hervorzubringen, ward aufs neue in ihm lebendig, er pries den Alten und beneidete ihn zugleich, daß er diese Stimmung in seiner Seele hervorgebracht hatte, und wünschte nichts mehr, als mit ihm zu Verbesserung und Bekehrung der Welt gemeine Sache zu machen. Seine alten Ideen von Hoffnung und Zuversicht, die er dem Theater geschenkt hatte, wurden wieder rege, er knüpfte mit unglaublicher Schnelligkeit wieder das Höchste daran, daß ein vernünftiger Mensch, der damals in sein Gehirn hineingeschaut hätte, ihn notwendig müßte für wahnsinnig gehalten haben. Er verließ die elende Kammer mit dem größten Widerstreben, als ihn die Nacht zu weichen zwang, und er war niemals unschlüssiger gewesen, was er tun wollte, könne, solle als auf dem Wege, den er nach dem Quartiere nahm.

Kaum war er zu Hause angelangt, als ihm der Wirt im Vertrauen eröffnete, daß Mamsell Philine an dem Stallmeister des Grafen eine Eroberung gemacht habe; er sei, nachdem er seinen Auftrag auf dem Gute ausgerichtet, in größter Eile zurückgekommen, habe ein Abendessen bestellt, sei eben oben bei ihr, und es scheine, als ob er Anstalten mache, die Nacht dazubleiben. Wilhelm ging, um seinen Verdruß zu verbergen, auf sein Zimmer, als auf einmal ein entsetzliches Geschrei in dem Hause entstand; er hörte eine jugendliche Stimme, die mit Zorn und Drohen durch ein unmäßiges Weinen und Heulen durchbrach, er hörte die Person, von der es kam, oben herunter an seiner Stube vorbei nach dem Hausplatze eilen. Als ihn die Neugierde herunterlockte, fand er den jungen Gesellen, der heute so eifrig nach Mamsell Philinen gefragt hatte. Der Knabe weinte, knirschte, stampfte, drohte mit geballten Fäusten und stellte sich ganz ungebärdig vor Zorn und Verdruß. Mignon stand gegen ihm über und sah ihm mit Verwunderung zu, und der Wirt erklärte einigermaßen diese Erscheinung. Der Knabe sei von seiner Aufnahme bei Philinen lustig und munter gewesen, habe gesungen und gesprungen bis zu der Zeit, da der Stallmeister zurückegekommen, wo er angefangen, seinen Verdruß zu zeigen, die Türe zuzuschlagen und auf und nieder zu rennen. Philine habe ihm befohlen, heute abend bei Tische aufzuwarten, worüber er gleich sein Mißvergnügen bezeigt, auch habe er eine Schüssel mit Ragout, anstatt es auf den Tisch zu setzen, zwischen Mademoiselle und ihren Gast, die ziemlich nahe zusammengesessen, hineingeworfen, worauf ihm der Stallmeister ein paar tüchtige Ohrfeigen gegeben und ihn zur Türe hinausgeschmissen. Er, der Wirt, habe darauf die beiden Personen säubern helfen. Er konnte nicht Worte genug finden, wie übel sie zugerichtet seien. Der Knabe, als er das hörte, fing laut an zu lachen, indem ihm noch immer die Tränen die Backen herunterliefen, er schien sich herzlich darüber zu freuen, bis ihm der Schimpf, den ihm der Stärkere getan, wieder einfiel, wo er wieder von neuem zu heulen und zu drohen anfing. Wilhelm, dem alles doppelt und dreifach verdrüßlich wurde, eilte auf seine Stube und ging vor Langerweile und Unmut zeitig zu Bette.

Sein unruhiger Schlaf wurde durch ein Geräusch unterbrochen, das ihn, da er ohnedies ein wenig erhitzt war, beinahe erschröckt hätte. Er hörte auf dem großen Gange ein Geschlurfe, das mit einem ganz unnatürlichen Ächzen begleitet war und mit einem geheimnisvollen Gerassel und einem leisen Gepolter abwechselte. Er konnte die Töne mit nichts Bekanntem vergleichen, die Neugierde trieb ihn, aufzustehen, und ein Schauer hielt ihn im Bette. Seine eifersüchtige Einbildungskraft, die um Philinens Tür schwebte, verfolgte das Gespenst bis dorthin, und er glaubte zu hören, daß es sich besonders in dem Winkel nicht weit von der Schönen Zimmer aufhielte, als auf einmal ihn ein lauter, durchdringender Schrei aufschröckte und ihn mechanisch aus dem Bette hob. Er hörte gleich darauf ein gewaltiges Gepolter als eines Menschen, der eine steile Treppe herunterfällt, kurz darauf ein stärkeres, als wenn ein anderer hintendreinfiele und beide vor seiner Türe zu liegen kämen. Er riß sie auf und sah beim Schein einer Glaslampe, die gegenüber hing, die seltsamste Gruppe, die eher ein Klump zu nennen gewesen wäre. In ein großes weißes Leintuch gewickelt, lagen zwei Menschen über- und durcheinander auf der Erde, balgten und rauften sich auf das ernstlichste, und eben brachte einer den andern durch einen Vorteil unter sich und schlug wacker mit Fäusten auf ihn zu. Wilhelm hatte kaum seine zweifelhaften Augen auf die Gestalten geworfen, als Philine oben an der Treppe in äußerster Unordnung einer Nachtgestalt mit einem Lichte erschien, das von einem großen Putzen sehr dunkel brannte. Als sie die beiden Kämpfer und Wilhelmen bei ihnen erblickte, schrie sie laut, setzte das Licht auf den Boden und lief nach ihrer Kammer. Das siegreiche Gespenst schlug indessen immer mit einer wütenden Begierde zu, bis Wilhelm endlich einfiel und beide auseinanderbrachte. Wie verwundert war er, als er in dem Siegenden, den er wegriß, den blonden Ankömmling dieses Nachmittages und in dem Besiegten, der schnell aufsprang, den Stallmeister des Grafen erkannte. Beide erschienen nicht in der anständigsten Figur, als das Leintuch zur Erde fiel. Der Streit schien sich mit Wut erneuern zu wollen, und Wilhelm stieß deswegen den Knaben geschwind in sein Zimmer hinein und ersuchte den andern, der mit entsetzlichem Drohen und Fluchen vor ihm stand, sich nur bis morgen früh zu beruhigen und alsdann Genugtuung zu fordern oder zu geben, wie es die Umstände verlangten oder erlaubten. Diese sanften Zureden würden wenig geholfen haben, wenn der Ergrimmte nicht die Schmerzen, die ihm der Fall verursachet, zu empfinden angefangen hätte; er hinkte mit dem Wirte, der auf diesen Lärm auch herbeigelaufen kam, beiseite, und Wilhelm bemächtigte sich des Lichtes, das oben auf der Treppe stand, um seinen neuen Gast zu beleuchten und sich diesen wunderbaren Vorfall aufzuklären.

Vierzehntes Kapitel

Der Knabe sprang wie ein unsinniger Bacchante in der Stube herum, als Wilhelm hineintrat, schlug mit den Beinen aus, warf den Kopf zurücke, vagierte mit den Armen und jauchzte mit einer ausgelaßnen Fröhlichkeit. Er triumphierte über den Sieg, den er davongetragen, über die Rache, die er genommen, über die Freude, die er gestört, und Wilhelm mußte, bis dieser Paroxysmus vorüber war, die Fragen, die er an ihn zu tun hatte, aussetzen.

Zwar ließ sich das Verhältnis dieses jungen Menschen leicht erraten, und er erzählte nichts Unerwartetes, als er Wilhelmen seine Geschichte vertraute, die kürzlich folgende war: Er habe als Lehrbursche in Abwesenheit des Gesellen Philinen frisieren müssen, sie habe ihn an sich gezogen, und er habe eine Art von Bedienten bei ihr gemacht, bis er sich zuletzt mit ihr aus Eifersucht überworfen und von ihr gelaufen. Seine Leidenschaft aber habe ihm keine Ruhe gelassen, daß er sie immer wieder aufsuchen müssen; dreimal habe er schon den Ort des Aufenthaltes nach ihr verändert, und wenn er sich schon verredet und verschworen, von ihr zu lassen, so habe er doch immer, wenn sie weg gewesen, keine Rast noch Ruhe gehabt, sie müsse es ihm angetan haben. Er wolle nun aber auch nichts mehr von ihr wissen. Bei dieser Erzählung wurde er so weich, fing unbändig zu weinen an, warf sich auf die Erde und zeigte einen ausgelassenen Schmerz. Wilhelm glaubte die ganze Geschichte, so wie er sie ihm erzählt hatte, ob es sich gleich in der Folge zeigte, daß er nicht streng bei der Wahrheit geblieben war; allein er erzählte so gut, so treuherzig und wußte dem, was er wirklich empfunden, was ihm wirklich geschehen war, so einen Glanz zu geben, daß dadurch die Lücken versteckt wurden und das Wahrscheinliche Gewißheit erhielt. Dabei ging es unserm Freunde wie harmlosen Lesern solcher Schriften, wo entweder Kunst oder Zufall Wahrheit und Lügen durcheinandergeknetet haben, so daß der Klügere in einen schweren Streit gerät, ob er eins mit dem andern annehmen oder beides zusammen verwerfen soll. Gegen Morgen ward bei dem jungen Abenteurer der Gedanke lebendig, daß der Stallmeister es wohl schwerlich dabei werde bewenden lassen und er auf alle Fälle den kürzern ziehen müsse. Er suchte deswegen in der Stille sein Bündelchen zusammen, empfahl sich Wilhelmen und eilte seines Wegs.

Der Morgen ging in Erwartung der hohen Herrschaft hin, die zwar nur einen Augenblick in dem Gasthofe absteigen sollte, aber doch die Aufmerksamkeit und Neugierde aller Gäste, wie es zu geschehen pflegt, beschäftigte. Man wußte von dem Grafen, daß er ein Herr von großen Kenntnissen und vieler Welt war. Er hatte viel gereist, und man sagte von ihm, er habe in allen Sachen einen entschiedenen Geschmack. Die wenigen Sonderbarkeiten, mit deren Geschichte man sich von ihm trug, kamen nicht in Betrachtung, vielmehr konnte man von der Liebenswürdigkeit seiner Gemahlin zu sprechen kein Ende finden. Indes hatte sich jeder so sauber als möglich angezogen und seinen Posten ausgedacht, wo er sie wollte vorbeiziehen sehen. Als sie in einem hochbepackten englischen Wagen, von dem zwei Bedienten heruntersprangen, vorfuhren, war Philine nach ihrer Art am ersten bei der Hand und stellte sich unter die Türe. "Wer ist Sie?" sagte die Gräfin im Hereintreten. "Eine Schauspielerin, Ihro Exzellenz zu dienen", war die Antwort, indem der Schalk mit einem gar frommen und demütigen Gesichte sich neige und der Dame den Rock küßte. Ihr Gemahl, als er von den Leuten, die er umherstehen sah, ein Gleiches hörte, erkundigte sich nach dem letzten Orte ihres Aufenthaltes, ihrer Anzahl und ihrem Direktor. "Wenn es Franzosen wären", sagte er zu der Gräfin, "so könnten wir dem Prinzen eine unerwartete Freude machen, daß er bei uns seine Lieblingsunterhaltung anträfe." – "Es käme darauf an", sagte die Dame; "wenn diese Leute nicht ungeschickt sind, so wäre es doch immer etwas, und unser Sekretär würde sie schon zustutzen."

Sie gingen auf ihr Zimmer, und der wachsame Melina präsentierte sich als Direktor oben an der Treppe. "Ruf Er Seine Leute zusammen", sagte der Graf, "und stell Er mir sie vor, daß ich sehe, was an ihnen ist, und bring Er mir Seine Liste von den Stücken, die Er spielen könnte." Melina eilte mit einem tiefen Bücklinge, und in kurzer Zeit stand das Völklein vor dem Grafen im Zimmer. Sie druckten sich vor- und hintereinander, die einen präsentierten sich schlecht aus großer Begierde zu gefallen und die andern nicht besser, weil sie sich leichtsinnig in ihrer Art darstellten. Die Frauen bezeugten der Gräfin, die außerordentlich gnädig und gut war, ihre Ehrfurcht; der Graf musterte indes die Truppe. Er ließ einen jeden sagen, was er gewöhnlich für Rollen spiele, ließ ihn etwas rezitieren und äußerte gegen Melina sein Urteil, welches dieser jederzeit mit der größten Devotion aufnahm. Er sagte jedem, worauf er sich besonders zu legen, was er in seiner Figur und Stellung zu bessern habe, zeigte ihnen einleuchtend, woran es den Deutschen immer fehle, und ließ so außerordentliche Kenntnisse sehen, daß alle in der größten Demut vor so einem erlauchten und erleuchteten Kenner und Beschützer standen und sich keiner Atem zu holen getraute. "Wer ist der Mensch dort in der Ecke?" fragte der Graf, indem er nach der Türe zu sah und noch einen, der ihm nicht vorgestellt worden war, erblickte. Es mußte sich eine hagere Figur in einem zerrissenen Rocke und schlechten Perücke, die sich bisher verborgen gehalten, gleichfalls nähern. Es pflegte dieser Mensch, der sonst gar nicht in Betrachtung kam, gewöhnlich den Pedanten, Magister und Poeten zu spielen und mußte meistens die Rolle übernehmen, wenn jemand Schläge kriegen oder begossen werden sollte. Er hatte sich gewisse kriechende, lächerliche, furchtsame Bücklinge angewöhnt, und seine stockende Sprache, die zu seinen Rollen paßte, machte gewöhnlich das Volk lachen, so daß er doch nicht ganz verstoßen war. Er nahte sich auf ebendie Weise dem Grafen, neigte sich vor demselbigen und beantwortete seine Fragen auf die Art, wie er sich in seinen Rollen auf dem Theater zu gebärden pflegte. Der Graf sah ihn mit einer gefälligen Aufmerksamkeit eine Zeitlang als wie mit Überlegung an und rief, indem er sich zu der Gräfin wendete: "Mein Kind, betrachte mir diesen Mann genau, ich hafte dafür, dies ist ein großer Schauspieler oder kann einer werden." Der Mensch machte von ganzem Herzen einen albernen, verschämten Bückling, so daß der Graf überlaut lachen mußte. "Geh Er nur! geh Er nur!" rief der Herr aus; "Er machet Seine Sachen exzellent. Ich wette, dieser Mensch kann spielen, was er will, und es ist schade, daß man ihn bisher zu nichts Bessers gebraucht hat."

Dieser außerordentliche Vorzug war für alle andere ein Donnerschlag, nur für Melina nicht, der mit einer ehrfurchtsvollen Miene drauf versetzte: "Ach ja, es hat wohl ihm und mehreren von uns nur ein solcher Kenner und eine solche Aufmunterung gefehlt, wie wir sie an Euer Exzellenz zu finden das Glück haben." Der Graf trat zu seiner Gemahlin ans Fenster und schien sie über etwas zu fragen. Man sah, daß sie auf das lebhafteste mit ihm übereinstimmte und ihn eifrig zu bitten schien. Drauf kehrte er sich gegen die Gesellschaft und sagte: "Ich kann mich gegenwärtig nicht aufhalten, ich will meinen Sekretär zu euch schicken, und wenn ihr billige Bedingungen macht und euch recht viel Mühe geben wollt, so bin ich nicht abgeneigt, euch auf einige Zeit zu mir zu nehmen." Jedes bezeugte seine große Freude darüber, und besonders küßte Philine mit der größten Lebhaftigkeit der Gräfin die Hände. "Sieht Sie, Kleine!" sagte die Dame, indem sie dem leichtfertigen Mädchen die Backen klopfte, "sieht Sie, mein Kind, da kommt Sie wieder zu mir. Ich will schon mein Versprechen halten, Sie muß sich nur besser anziehen." Philine entschuldigte sich, daß sie wenig auf ihre Garderobe zu wenden habe, und sogleich befahl die Gräfin, daß ihre Kammerfrauen einen englischen Hut und ein seidnes Halstuch, das leicht auszupacken war, heraufgeben sollten. Es kam, und sie putzte selbst Philinen an, die fortfuhr, sich mit einer scheinheiligen, unschuldigen Miene gar anmutig dabei zu gebärden und zu betragen.

Als der Graf weg war, brachte man mit großem Freudengeschrei und Jubel diese Nachricht Wilhelmen. Er wünschte ihnen Glück und ließ sich erzählen, was vorgefallen war, welches er mit einiger Verwunderung anhörte. Philine produzierte ihr Geschenke, und da er ihr einen verdrüßlichen Seitenblick zuwarf, ging sie singend aus der Stube. Melina bat ihn, er möchte sich doch geschwind mit ihm zusammensetzen, was sie für Stücke dem Grafen, als ob sie solche schon gespielt hätten, angeben könnten. "Sie haben doch nichts von mir gesagt?" fiel Wilhelm ein. "Ich glaubte mich nicht dazu berechtigt", sagte Melina. "Sie werden doch auf alle Fälle mit hinübergehen", sagte Madame mit aller Lebhaftigkeit. "Ich bin es nicht willens", versetzte Wilhelm. Der Taumel, daß sich nun wieder auf einige Wochen glückliche Aussichten eröffneten, ergriff die ganze Gesellschaft, und jeder ward lebendig, tat Vorschläge, sprach von Rollen, die er spielen würde, und die Klügsten gingen in die Küche und bestellten ein besseres Mittagessen, als man bisher einzunehmen gewohnt war.

Funfzehntes Kapitel

Der Sekretär kam. Es war ein kleiner, hagerer, lebhafter Mensch, einer von denen, welche man damals Freunde der schönen Wissenschaften nannte und die man eigentlich Liebhaber des Unnützen und Mittelmäßigen hätte nennen sollen; denn indem sie den Kreis notwendiger und brauchbarer Kenntnisse verließen, glaubten sie sich dem Schönen und Angenehmen ausschließlich zu übergeben. Allein sie betrogen sich hierinne gar sehr; denn ein jeder, der in sich die Lust fühlte, auch etwas hervorzubringen, liebte nur das Schöne, insofern es in seinem Gesichtskreise lag, und sein Geschmack ergriff gar gerne das Gemeine und Mittelmäßige für etwas Gutes und Vortreffliches, weil er alsdann mit ebendem Rechte seine Geburten zu demselbigen Range erheben konnte, und so beglückten eine große Anzahl Junger und Alter sich mit wechselseitiger Verehrung. Der Sekretär, vor dem sie sich alle fürchteten, vor dem Melina besonders in Ängsten war, er möge als ein Kenner gar bald die schwache Seite des kleinen Haufens entdecken, gar leicht übersehen, daß sie eigentlich keine formierte Truppe seien, indem es fast in jedem vorgegebenen Stücke an den Hauptrollen fehlte, setzte sie gar bald außer aller Verlegenheit, indem er sie mit dem größten Enthusiasmus begrüßte, sich glücklich pries, eine deutsche Gesellschaft so unvermutet zu finden, mit ihr in Verbindung zu kommen und die vaterländischen Musen in das Schloß seines Herrn einzuführen. Er brachte bald nach diesem Willkommen ein Manuskript aus der Tasche und bat sie, eine Komödie, die er selbst verfertiget, anzuhören. Willig schlossen sie einen Kreis und freuten sich, mit so geringen Kosten die Gunst dieses notwendigen Mannes sich befestigen zu können, obgleich ein jeder nach der Dicke des Heftes übermäßig lange Zeit befürchtete. Auch fand es sich wirklich so. Es war ein Stück in fünf Aufzügen von der Art, die gar kein Ende nehmen, dergleichen die Deutschen, wenn es nicht anders ungerechte Vorwürfe flüchtiger, ausländisch gesinnter Geister sind, mehrere haben sollen. Unter dem Lesen hatte jeder Zuhörer Raum genug, an sich selber zu denken und ganz sachte aus der Demut, in der sie sich noch vor einer Stunde fühlten, zu einer glücklichen Selbstgefälligkeit emporzusteigen und von da aus die anmutigen Aussichten zu überschauen, die sich ihnen so unerwartet aufgetan hatten. Der entzückte Schriftsteller verlor auch nichts bei diesen heimlichen Abwesenheiten, denn sie bezeigten ihren Beifall nur desto öfter, und wenn einer ein Stelle als fürtrefflich bezeichnete, fielen die andern im Chorus mit ein.

Der Handel war also bald geschlossen. Er versprach, sie im Wirtshause auszulösen, freie Wohnung und Tafel auf dem Schlosse und zuletzt einen Zuschuß zum Reisegelde, wenn sie wieder abgingen. Die Frauen versicherte er, es werde ohne Geschenke von Kleidern und kleinen Nippes nicht abgehen, so daß alle miteinander gleichsam durch ein Zauberwort zu andern Menschen umgeschaffen wurden. Statt daß sie heute früh sich noch in kriechender Demut herumdrückten, ganz bescheiden ein Glas Bier von dem Wirte forderten, gegen jedermann höflich und behutsam, auch untereinander still und einig waren, so entstand nunmehr ein Rufen, Schreien, Befehlen, Schelten in dem Hause, jeder verlangte etwas Besseres als der andere, verlangte es geschwinder, daß dem Wirte der Kopf herumging und er glauben mußte, seine Hausgesellschaft habe sich um das Doppelte und Dreifache vermehrt.

Frau Melina suchte über Wilhelmen zu gewinnen, daß er mit ihnen gehen sollte, wozu er sich nicht entschließen konnte. "Ich werde wohl meinen Weg endlich für mich nehmen müssen", sagte er zu ihr halblaut, daß es Mignon nicht hören konnte, der ohnweit davon stand und auf das Gespräch heimlich lauerte.

Sechzehntes Kapitel

Als Wilhelm für sich allein das, was er heute gesehen und gehört, wiederholte und überlegte, rief er aus: "Wie schwankend ist doch das Urteil des Menschen, selbst der Verständigsten! Dieser vornehme Herr, dieser erfahrne Weltmann, ein großer Kenner, wendet, wahrscheinlich durch einen launigen Irrtum des Augenblickes, seinen Beifall dem Elendesten und Abgeschmacktesten der ganzen Gesellschaft zu, und eine witzige, kluge, fürtreffliche Dame schenkt ihre Gunst einer liederlichen Kreatur, die sich die Verachtung jeder wohldenkenden Seele recht mit Fleiß zuzuziehen bemüht scheint, und sie halten ihren Sekretär für einen Kenner, ja wohl für einen guten Schriftsteller. Es wird nicht lange währen, so müssen ihnen die Augen aufgehen, der Betrug ist zu greifen. Indes geschieht doch so vielen andern unrecht, und der Einfluß des Höhern und Angesehnern, der nützen und helfen sollte, schadet."

Diese Gedanken wurden durch eine Rückkehr auf sich selbst unterbrochen; denn er schwankte zwischen Zweifel und Notwendigkeit. Er konnte voraussehen, daß er mit auf das Schloß des Grafen werde gehen müssen, und hatte tausend Ursachen, es nicht zu tun. Wenn sich der Mensch in Umständen befindet, die zu dem Raume, den sein Geist einnehmen sollte, in keinem Verhältnisse stehen, wenn er eingeengt, umwunden und verstrickt ist und er lange dagegen gearbeitet hat, gewöhnt er sich endlich zu einer dunkeln, gutmütigen Geduld und folgt gelassen den trüben Pfaden seines Schicksales. Wenn dann manchmal ein Blitz aus einer höheren Sphäre ihn umleuchtet, schaut er freudig auf, die Seele erhebt sich, er fühlt sich wieder, doch bald, von der Schwere seines Zustandes niedergezogen, gibt er das geahndete Glück mit gelindem Murren wieder auf und überläßt sich nach geringem Widerstreben der Gewalt, die den Stärkern wie den Schwachen dahinreißt. Und doch kann man einen solchen Menschen glücklich nennen in Vergleich mit andern, die sich in Umständen befinden, in denen sich unser Freund befand.

Seit jener Überraschung, die ihn auf das Theater brachte, hatte er noch nicht Zeit gehabt, zu sich selbst zu kommen. Die heimlichen Wirkungen jenes Schrittes gingen immer in seinem Herzen fort, ohne daß er sich dessen bewußt war, nur gleichsam im Traume erinnerte er sich jenes glücklichen Abends, wo er sich seiner liebsten, innigsten Leidenschaft im Taumel ergeben hatte; die süße Befriedigung des Beifalles labte ihn noch in stiller Erinnerung, er nährte ein heftiges Bedürfnis, sich jenen Genuß wieder zu verschaffen. Die Anhänglichkeit des Kindes, dieser geheimnisvollen Kreatur, gab seinem Wesen eine gewisse Konsistenz, mehr Stärke und Gewicht, welches immer geschieht, wenn zwei gute Seelen sich miteinander vereinigen oder auch nur sich einander nähern. Die flüchtige Neigung zu Philinen regte seine Lebensgeister zu einer anmutigen Begierde, mit Harfenspiel und Gesang erhub ihn der Alte zu den höchsten Gefühlen, und er genoß in Augenblicken mehr würkliche und würdigere Glückseligkeit, als er sich von seinem ganzen Leben erinnerte. Dagegen legten sich alle leidige irdischen Lasten auf die andere Schale: die Gesellschaft, in der er sich befand und die man beinahe schlecht nennen durfte, ihre Unfähigkeit als Schauspieler und die Einbildung auf ihre Fähigkeiten, die unerträgliche Ansprüche Philinens, die enge Politik Melinas, die Forderungen seiner Frau, die Notwendigkeit, das teure Kind früher oder später seinem Schicksale zu überlassen, der Mangel an Gelde und an irgendeinem schicklichen Mittel, ihm abzuhelfen. So schwankte die Schale herüber und hinüber, oder vielmehr, aus so widersprechend gefärbten Faden war das Gewebe gewebt, daß es wie ein übel schielender Taft zugleich angenehme und widrige Farben aus einer Falte dem Auge entgegenwarf, und wenn mir Gleichnisse zu häufen erlaubt ist, wie aus Seide und grobem Hanfe war diese Flechte gezwirnt, geflochten und verknotet darzu, daß es unmöglich war, eins von dem andern zu sondern, und unserm Helden nichts übrigblieb, als sich in diese Bande zu ergeben oder alles miteinander durchzuschneiden. Solche Umstände sind es, in denen sich ein guter, auch entschloßner Mensch jahrelang hinschleppt und weder Hand noch Fuß zu rühren wagt, in einem immer leidenden Zustande bleibt, wenn ihn die größte Not nicht zu wählen und zu handeln treibt. Aber auch alsdann ist ihm nicht geholfen. Selten, daß der Mensch fähig ist und daß es ihm das Schicksal zuläßt, nach einer Reihe von Leiden, nach einer Folge von Verbindungen mit sich selbst und andern ganz reine Wirtschaft zu machen; man entschließt sich so ungern zum Bankerotte wie zum Tode und sucht sich mit Borgen und Zahlen und Vertrösten, mit Pallieren und Flicken so lange hinzuhalten als möglich. Der Geist beschäftigt sich, arbeitet immer, wie er zu einem freien, ganzen, reinen Zustande gelangen könne, und der Augenblick nötigt ihn immer, in der Enge halb, vielleicht gar schief zu handeln, ein Übel für das andre zu ergreifen und, wenn das Glück groß ist, aus dem Regen in die Traufe zu schwanken; dies ist es, was, oft wiederholt, Herr über den besten Kopf wird, was heftige, leidenschaftliche Menschen in eine Art von Wahnsinn versetzt, der in der Folge ganz und gar unheilbar werden muß.

Wie sehr fühlte Wilhelm die Beschwerden dieses Zustandes, und wie vergebens arbeitete er, um sich daraus zu versetzen! Sein altes bürgerliches Verhältnis war schon wie durch eine Kluft von ihm getrennt und er in einen neuen Stand aufgenommen und eingeweiht, da er noch als Fremdling in dessen Vorhöfen zu verweilen glaubte. Sein Geist ward vom Hin- und Widersinnen müde. Er ging endlich gedankenlos im Zimmer auf und nieder, sein gepreßtes Herz strebte nach Erleichterung, und eine bängliche Wehmut bemächtigte sich seiner. Er warf sich in einen Sessel und war sehr bewegt. Mignon trat herein und fragte: ob sie ihn aufwickeln dürfe? Das Kind war eine Zeit her stiller und immer stiller geworden, Wilhelm hatte sie, ohne es zu merken, vernachlässigt, sie fühlte es desto tiefer.

Nichts ist rührender, als wenn eine Liebe, die sich im stillen genährt, eine Treue, die sich im verborgenen befestiget hat, endlich dem, der ihrer bisher nicht wert gewesen, zur rechten Stunde nahekömmt und offenbar wird. Die lang und streng verschlossene Knospe war reif, und Wilhelms Herz konnte nicht empfänglicher sein. Sie stand vor ihm und sah seine Unruhe. "Herr!" rief sie aus, "wenn du unglücklich bist, was soll aus Mignon werden?" – "Liebes Geschöpf", sagte er, indem er ihre Hände nahm, "du bist auch mit unter meinen Schmerzen." Sie sah ihm in die Augen, die von verhaltenen Tränen blinkten, und kniete mit Heftigkeit vor ihm nieder; er behielt ihre Hände, sie legte ihr Haupt auf seine Knie und war ganz stille. Er spielte mit ihren Haaren und war freundlich. Sie blieb lange ruhig. Endlich fühlte er eine Art Zucken durch alle ihre Glieder, das ganz sachte anfing und sich stärker verbreitete. "Was ist dir, Mignon?" rief er aus, "was ist dir?" Sie richtete ihr Köpfchen auf und sah ihn an, fuhr auf einmal nach dem Herzen, wie mit einer Gebärde, die Schmerzen verbeißt. Er hub sie auf, und sie fiel auf seinen Schoß, er druckte sie an sich und küßte sie. Sie antwortete durch keinen Händedruck, durch keine Bewegung. Sie hielt ihr Herz fest, und auf einmal tat sie einen Schrei, der mit krampfigen Bewegungen des Körpers begleitet war. Sie fuhr auf und fiel auch sogleich wie an allen Gelenken gebrochen vor ihm nieder. Es war ein gräßlicher Anblick. "Mein Kind!" rief er aus, indem er sie aufhob und fest umarmte, "mein Kind, was ist dir?" Die Zuckung dauerte fort, die vom Herzen sich den schlotternden Gliedern mitteilte, sie hing nur in seinen Armen. Er schloß sie an sein Herz und benetzte sie mit seinen Tränen. Auf einmal schien sie wieder angespannt und angespannter, wie eins, das den höchsten körperlichen Schmerz erträgt; und bald, mit einer neuen Heftigkeit wurden alle ihre Glieder wieder lebendig, und sie warf sich ihm, wie ein Ressort, das zuschlägt, um den Hals, indem in ihrem Innersten wie ein gewaltiger Riß geschah, und in dem Augenblicke floß ein Strom von Tränen aus ihren geschlossenen Augen in seinen Busen. Er hielt sie fest. Sie weinte und weinte, und keine Zunge spricht die Gewalt dieser Tränen aus. Ihre langen Haare waren aufgegangen und hingen von der Weinenden nieder, und ihr ganzes Wesen schien in einen Bach von Tränen unaufhaltsam dahinzuschmelzen. Ihre starren Glieder wurden gelinder, es ergoß sich ihr Innerstes, und in der Verirrung des Augenblickes fürchtete Wilhelm, sie werde in seinen Armen zerschmelzen und er nichts von ihr übrigbehalten. Er hielt sie nur fester und fester. "Mein Kind!" rief er aus, "mein Kind! du bist ja mein! wenn dich das Wort trösten kann! du bist mein! Ich werde dich behalten! dich nicht verlassen!" Ihre Tränen flossen noch immer. Endlich richtete sie sich auf. Eine weiche Heiterkeit glänzte von ihrem Gesichte. "Mein Vater!" rief sie, "du willst mich nicht verlassen! willst mein Vater sein! Ich bin dein Kind!"

Sanft fing vor der Türe die Harfe an zu klingen, der Alte brachte seine herzlichsten Lieder dem Freunde zum Abendopfer, der, sein Kind immer fester in den Armen haltend, des reinsten, unbeschreiblichsten Glückes genoß.

 

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