Adelbert von Chamisso - Reise um die Welt
Mit der Lektüre habe ich im Sommer 2009 begonnen, aber den Rest erst im Januar 2010 fertig gelesen und exzerpiert. Über die Reise von Chamisso, die Expedition des Rurik, gibt es im Internet genügend leicht zu findende Darstellungen. In der Wikipedia findet man unter dem Schlagwort
"Rurik-Expedition" eine gelungene Zusammenfassung, auch der Volltext ist im Web zu finden sowie alle vom Expeditionsmaler und -zeichner Ludwig Choris veröffentlichten Abbildungen (siehe Links). Es ist unnötig, das alles wiederzukäuen, ich habe statt dessen Zitate zusammengestellt, die mir gut gefallen haben.
Ich habe die Ausgabe des Societäts-Verlags von 1979 gelesen, die auch 33 farbige Abbildungen enthält, ein ausführliches Nachwort von Robert Mingau und genügend Anmerkungen. Alle Seitenangaben kommen aus dieser Ausgabe.
Chamisso liefert eine selbstbewußte Begründung für sein Buch:
Was ein gradsinniger Mann, der selbst gesehen und geforscht, in der Kürze aufgezeichnet hat, verdient doch wohl, in dem Archive der Wissenschaft niedergelegt zu werden; nur das Buch, das aus andern Büchern ausgeschrieben und zusammengetragen worden, mag von neueren, vollständigeren oder geistreicheren, verdrängt werden und verschallen.[S.8]
Auch dies ist ein schönes selbstbewußtes Bekenntnis:
Wer mich teilnehmend auf der weiten Reise begleiten will, muß zuvörderst erfahren, wer ich bin, wie das Schicksal mit mir spielte und wie es geschah, daß ich als Titulargelehrter an Bord des "Ruriks" stieg.[S.11]
Das Kennenlernen von manchmal auch nur kurzzeitigen Reisegenossen macht mit den großen Reiz von Reisen aus. Hier ein Schiffer-Schicksal in wenigen Sätzen:
In Lenzen gesellte sich zu uns ein Mann vom Volke, ein schöner, rüstiger, fröhlicher Greis, früher Hamburger Matrose, zur Zeit Elbschiffer, der vielmals, und zuletzt als Harpunier, auf dem Robben- und Walfischfange den nordischen Polargletscher besucht hatte. Einmal war das Schiff, worauf er war, nebst mehreren andern im Eise untergegangen; er selbst hatte nach siebzehn auf dem Eise verbrachten Hungerstagen Grönland erreicht. Er hatte siebzehn Monate mit dem "Wildmann" gelebt und "Wildmannssprache" gelernt. Ein dänisches Schiff von fünf Mann Equipage nahm ihn nebst zwanzig seiner Unglücksgefährten an Bord und brachte ihn bei dürftiger Kost nach Europa zurück. - Von beiläufig 600 Mann kehrten nur 120 heim. Er selbst hatte etliche Finger eingebüßt. Dieser Mann, mit dem ich bald freund wurde, war mir erfreulicher als ein Buch; er erzählte einfach und lebendig, was er gesehen, erlebt und erduldet; ich horchte ihm lernbegierig zu und sah vor mir die Eisfelder und Berge und die Küsten des Polarmeeres, in das ich von der Berings-Straße aus einzudringen die Hoffnung hatte und worin Gleiches zu erleben und zu erdulden mein Los sein konnte.[S.20]
Einer war noch nie nördlicher, der andere noch nie südlicher, jeder findet also neues:
Hamburg war zur Zeit noch die Grenze der mir bekannten Welt gegen Norden, und weiter hinaus nach Kopenhagen zu Land oder zur See vordrängend - ich hatte noch in meinem Leben kein Schiff bestiegen -, war ich auf einer Entdeckungsreise begriffen. Ich habe wirklich mit Treue die nordische Natur bei Kopenhagen studiert, woselbst, mit dem "Rurik" anlangend, mein Freund und Gefährte Eschscholtz, der noch nie so weit nach Süden vorgeschritten war, gleichzeitig die südliche Natur zu studieren begann, entzückt, als ihm zuerst Vitis vinifera sub dio, die Weinrebe im Freien, zu Gesichte kam. Süden und Norden sind wie Jugend und Alter; zwischen beiden denkt sich jeder, solang er kann; alt sein und dem Norden angehören will kein Mensch. - Ich habe aus einem Gedicht an einen Jubilar das Wort "alt" ausmerzen müssen, und ein lappländischer Prediger erzählte mir von seiner Versetzung nach dem Süden, nach Torneå unter dem Polarkreise.[S.21]
Wann ist man in der Fremde, wenn man eine Schiffsfahrt macht? Nie?
Das Ziel der weiten Reise möchte sein, in das fremde Land zu gelangen; das ist aber schwer, schwerer, als sich es einer denkt. Überall ist für einen das Schiff, das ihn hält, das alte Europa, dem er zu entkommen vergeblich strebt, wo die alten Gesichter die alte Sprache sprechen, wo Tee und Kaffee nach hergebrachter Weise zu bestimmten Stunden getrunken werden und wo das ganze Elend einer durch nichts verschönerten Häuslichkeit ihn festhält. Solange er vom fremden Boden noch die Wimpel seines Schiffes wehen sieht, hält ihn der Gesichtsstrahl an die alte Scholle festgebannt.[S.28]
Chamisso ist - mit 34 Jahren zu Beginn der Reise - der Älteste an Bord.[S.29]
Über den Rurik und die Räumlichkeiten.
Der "Rurik", dem der Kaiser auf dieser Entdeckungsreise die Kriegsflagge zu führen bewilligt hat, ist eine sehr kleine Brigg, ein Zweimaster von 180 Tonnen, und führt acht kleine Kanonen auf dem Verdeck. Unter Deck nimmt die Kajüte des Kapitäns den Hinterteil des Schiffes ein. Von ihr wird durch die gemeinschaftliche Treppe die Kajüte de Campagne getrennt, die am Fuß des großen Mastes liegt. Beide bekommen das Licht von oben. Der übrige Schiffsraum bis zu der Küche am Fuße des Vordermastes dient den Matrosen zur Wohnung.
Die Kajüte de Campagne ist beiläufig zwölf Fuß ins Gevierte. Der Mast, an dessen Fuß ein Kamin angebracht ist, bildet einen Vorsprung darin. Dem Kamine gegenüber ist ein Spiegel und unter dem, mit der einen Seite an der Wand befestigt, der viereckige Tisch. In jeglicher Seitenwand der Kajüte sind zwei Kojen befindlich, zu Schlafstellen eingerichtete Wandschränke, beiläufig sechs Fuß lang und dritthalb breit. Unter denselben dient ein Vorsprung der Länge der Wand nach zum Sitz und gibt Raum für Schubladen, von denen je vier zu jeder Koje gehören. Etliche Schemel vollenden das Ameublement.
Zwei der Kojen gehören den Offizieren, die zwei anderen dem Doktor und mir. Choris und Wormskiold schlafen im Schiffsraum in Hängematten. Meine Koje und drei der darunter befindlichen Schubkasten sind der einzige Raum, der mir auf dem Schiffe angehört; von der vierten Schublade hat Choris Besitz genommen. In dem engen Raume der Kajüte schlafen vier, wohnen sechs und speisen sieben Menschen. Am Tische wird morgens um sieben Uhr Kaffee getrunken, mittags um zwölf gespeist und sodann das Geschirr gescheuert, um fünf Uhr Tee getrunken und abends um acht der Abhub der Mittagstafel zum zweitenmal aufgetragen. Jede Mahlzeit wird um das Doppelte verlängert, wenn ein Offizier auf dem Verdecke die Wache hat. In den Zwischenzeiten nimmt der Maler mit seinem Reißbrett zwei Seiten des Tisches ein, die dritte Seite gehört den Offizieren, und nur wenn diese sie unbesetzt lassen, mögen die andern sich darum vertragen. Will man schreiben oder sonst sich am Tische beschäftigen, muß man dazu die flüchtigen, karggezählten Momente erwarten, ergreifen und geizig benutzen; aber so kann ich nicht arbeiten.[S.29f]
Eine gute Abbildung des "Rurik" gibt es leider nicht. Am besten ist noch der "Rurik" vor Sankt Helena.
Die zweite Abbildung zeigt den weit entfernten Rurik vor St. Paul.
Eine Koje und drei Schubladen: Mehr Platz gibt es wirklich nicht, nirgends:
Es ist wider die Schiffsordnung, das Geringste außerhalb des jedem gehörigen Raumes unter Deck oder auf dem Verdeck ausgesetzt zu lassen.[S.31]
Ein Schiff ist eine kleine abgeschlossene Welt, wo man ständig anecken kann:
Ich wußte zum Beispiel noch nicht, daß man nicht ungerufen den Kapitän in seiner Kajüte aufsuchen darf; daß ihm, wenn er auf dem Verdeck ist, die Seite über dem Wind ausschließlich gehört und daß man ihn da nicht auch anreden soll; daß diese selbe Seite, wenn sie der Kapitän nicht einnimmt, dem wachthabenden Offizier zukommt; ich wußte vieles der Art nicht, was ich nur gelegentlich erfuhr.[S.33]
Klar, dass dann eine Einweisung durch den Kapitän erfolgt:
Er gebe mir zu überlegen, daß ich als Passagier an Bord eines Kriegsschiffes, wo man nicht gewohnt sei, welche zu haben, keinerlei Ansprüche zu machen habe.[S.34]
Damit bleibt die erste Aufgabe des Gelehrten und folglich auch von Chamisso folgende:
daß die Hauptaufgabe, die er zu lösen hat, darin besteht, sich so unbemerkbar zu machen, sowenig Raum einzunehmen, sowenig dazusein als immer möglich.[S.35]
Ein Beispiel für die sorgfältigen Zeichnungen des Expeditionszeichners und -malers Choris:
Ein Musikinstrument aus Südamerika (die Charimba)
Auffallend der Napoleon-Kult sogar in England, zum Beispiel, als die "Bellerophon", die Napoleon nach St. Helena führen soll, im Sund von Plymouth vor Anker liegt:
Allgemein war für den überwundenen Feind die Begeisterung, die aus allen Klassen des Volkes, besonders aus dem Wehrstande, einmütig uns entgegenschallte. Jeder erzählte, wann und wie oft er ihn gesehen und was er getan, in die Huldigung der Menge einzustimmen; jeder trug seine Medaillen, jeder pries ihn und schalt zürnend die Willkür, die ihn dem Gesetze unterschlagen. ... Der "Bellerophon" hatte weit im Sunde vor Anker gelegen, und der Kaiser pflegte sich zwischen fünf und sechs Uhr auf dem Verdecke zu zeigen. Zu dieser Stunde umringten unzählige Boote das Schiff, und die Menge harrte begierig auf den Augenblick, den Helden zu begrüßen und sich an seinem Anblick zu berauschen.[S.38f]
Der Kapitän der Rurik, Otto von Kotzebue, war der Sohn des damals weltberühmten Weimarer Dramatikers und Schriftstellers August von Kotzebue. Wie weit die Berühmtheit von August von Kotzebue damals reichte, erwähnt Chamisso nicht ganz ohne Neid und Häme nur einmal im Zusammenhang:
Da ich eben berichten müssen, wie ich in Shakespeares Vaterland unsern Kotzebue von den ersten Künstlern, und zwar befriedigender als ihren eigenen Heros, habe aufführen sehen, so werd ich auch gleich, um nicht wieder darauf zurückzukommen, ein vollgültiges Zeugnis ablegen, daß für die, welche die Regierungen de facto anerkennen, dieser selbe Kotzebue der Dichter der Welt ist. Wie oft ist mir doch an allen Enden der Welt, namentlich auf O-Wahu [Heute: Oahu (Hawaii-Insel)], auf Guajan [Heute: Guam] usw., für meinen geringen Anteil an dem Beginnen seines Sohnes mit dem Lobe des großen Mannes geschmeichelt worden, um auch auf mich einen Zipfel von dem Mantel seines Ruhmes zu werfen. Überall hallte uns sein Name entgegen. Amerikanische Zeitungen berichteten, daß "The Stranger" mit außerordentlichem Beifall aufgeführt worden. Sämtliche Bibliotheken auf den Aleutischen Inseln, soweit ich solche erkundet habe, bestanden in einem vereinzelten Bande von der russischen Übersetzung von Kotzebue. Der Statthalter von Manila, huldigend der Muse, beauftragte den Sohn mit einem Ehrengeschenke von dem köstlichsten Kaffee an seinen Vater, und auf dem Vorgebürge der Guten Hoffnung erfuhr der Berliner Naturforscher Mundt die Ankunft des "Ruriks", auf dem er mich wußte und erwartete, von einem Matrosen, der ihm nur zu sagen wußte, daß der Kapitän des eingelaufenen Schiffes einen Komödiantennamen habe. Vom "Alarcos", vom "Ion" und deren Verfassern habe ich in gleicher Entfernung vom Hause nichts gehört.
[BH: Da müsste man nachfragen: hätten sie das denn müssen? Kennt man deren Verfasser denn heute noch?]
Die amerikanischen Kauffahrer, denen keine meerbespülte Küste unzugänglich ist, denen aber die Sonne der romantischen Poesie noch nicht aufgegangen, sind die wandernden Apostel von Kotzebues Ruhm; er ist das für sie taugliche Surrogat der Poesie.[S.40f]
Das Leben an Bord während längerer Seestrecken ist nicht einfach:
Das äußere Leben ist einförmig und leer wie die Spiegelfläche des Wassers und die Bläue des Himmels, die darüber ruht; keine Geschichte, kein Ereignis, keine Zeitung; selbst die sich immer gleiche Mahlzeit, die, zweimal wiederkehrend, den Tag einteilt, kehrt mehr zum Verdrusse als zum Genusse zurück. Es gibt kein Mittel, sich abzusondern, kein Mittel, einander zu vermeiden, kein Mittel, einen Mißklang auszugleichen. Bietet uns einmal der Freund anstatt des guten Morgens, den wir zu hören gewohnt sind, einen guten Tag, grübeln wir der Neuerung nach und bebrüten düster unsern Kummer; denn ihn darüber zur Rede zu setzen ist auf dem Schiffe nicht Raum. Abwechselnd ergibt sich einer oder der andere der Melancholie. Auch das Verhältnis zu dem Kapitän ist ein ganz besonderes, dem sich nichts auf dem festen Lande vergleichen läßt. Das russische Sprichwort sagt: "Gott ist hoch, und der Kaiser ist fern." Unumschränkter als der Kaiser ist an seinem Bord der Mann, der immer gegenwärtige, an den man auch gleichsam mit dem Rücken angewachsen ist, dem man nicht ausweichen, den man nicht vermeiden kann.[S.53f]
Selten hört man von Zeitgenossen eine Klage über ihre dem Augenschein nach unpraktische und unbequeme Kleidung, hier bei Chamisso aber doch einmal:
Wir hatten die Kleider abgelegt, die daheim, wenn einmal der Sommer schöne, warme Tage hat, uns unleidlicher werden als selbst die feindliche Kälte der Winterluft. Eine leichte Jacke nebst Pantalons, ein Strohhut auf dem Kopfe, leichte Schuhe an den Füßen, keine Strümpfe, keine Halsbinde: das ist allgemein die angemessene Tracht, worin in der heißen Zone alle Europäer die Wohltaten des Himmels entgegennehmen; nur die Engländer nicht, denen überall die Londoner Sitte als erstes Naturgesetz gilt.[S.56]
Anläßlich des Besuchs auf Teneriffa erfährt man etwas über Ortsnamen:
Wir schlugen den Weg nach Oratava ein. Er führt über Matanza und Vittoria, zwei Namen, die, auf den Karten der spanischen Kolonien oft wiederkehrend, das Schicksal der eingebornen Völker bezeichnen: Sieg und Gemetzel.[S.61]
Außer dem Kapitän hat noch kein Besatzungsmitglied längere Schiffsreisen hinter sich oder gar den Äquator überschritten. Kein Wunder, dass bei manchen Erscheinungen eine abergläubische Furcht auftritt, zum Beispiel bei Fliegenden Fischen:
Begreiflich ist es, daß dem Nordmann, zu dem die Kunde nicht gedrungen ist, der Flug der Fische, Grausen erregend, als eine Umkehrung der Natur erscheine. Der erste Fliegende Fisch, der auf das Verdeck und unsern Matrosen in die Hände fiel, ward von ihnen unter Beobachtung des tiefsten Stillschweigens in Stücke zerschnitten, die sie sodann nach allen Richtungen in die See warfen. Das sollte das vorbedeutete Unheil brechen.[S.64]
Ein vergeblicher Landeversuch auf der Osterinsel, von Einheimischen vereitelt.
Ein Paar von der Osterinsel
Natürlich gab es auch zu Beginn des 19.Jahrhunderts noch offenen Sklavenhandel, hier am Beispiel von Brasilien:
Wir fanden hier den Sklavenhandel noch in Flor. Das Gouvernement Santa Catharina bedurfte allein jährlich fünf bis sieben Schiffsladungen Neger, jede zu hundert gerechnet, um die zu ersetzen, die auf den Pflanzungen ausstarben. Die Portugiesen führten solche aus ihren Niederlassungen in Kongo und Moçambique selber ein. Der Preis eines Mannes in den besten Jahren betrug 200 bis 300 Piaster. Ein Weib war viel geringeren Wertes. Die ganze Kraft eines Menschen schnell zu verbrauchen und ihn durch neuen Ankauf zu ersetzen schien vorteilhafter zu sein, als selbst Sklaven in seinem Hause zu erziehen. - Mögen euch ungewohnt diese schlichten Worte eines Pflanzers der Neuen Welt ins Ohr schallen. - Der Anblick dieser Sklaven in den Mühlen, wo sie den Reis in hölzernen Mörsern mit schweren Stampfkolben von seiner Hülse befreien, indem sie den Takt zu der Arbeit auf eine eigentümliche Weise ächzen, ist peinvoll und niederbeugend. Solche Dienste verrichten in Europa Wind, Wasser und Dampf.[S.78f]
Folkloristisch klingt dagegen dies:
Das Weihnachtsfest schien, wie überall das Fest der Kinder, auch hier das Fest der Schwarzen zu sein. Sie zogen truppenweise, phantastisch ausstaffiert von Haus zu Haus durch die Gegend und spielten und sangen und tanzten um geringe Gaben, ausgelassener Fröhlichkeit hingegeben.[S.79]
Erst spät teilt Chamisso etwas über die Absicht und den Plan der Reise mit - denn auch er ist nur nach und nach darüber aufgeklärt worden:
Die Sommerkampagne 1816 sollte einer bloßen Rekognoszierung gewidmet sein. Ein Hafen, ein sicherer Ankerplatz für das Schiff, sollte in Norton-Sound oder, noch besser, im Norden der Straße aufgefunden werden, von wo aus mit Baidaren und Aleuten, diesen Amphibien dieser Meere, den eigentlichen Zweck der Expedition anzugreifen der zweiten Sommerkampagne vorbehalten bliebe.[S.139]
Die Zeit des nordischen Winters sollten wir dann in Sommerlanden verbringen, teils der Mannschaft die erforderliche Erholung gönnen, teils anderwärtigen geographischen Untersuchungen obliegen, dann im Frühjahr 1817, nach Unalaschka zurückkehrend, daselbst, was für unsre Nordfahrt vorbereitet worden, uns aneignen und, sobald das nordische Meer sich der Schiffahrt eröffnete, den "Rurik" in den vorbestimmten Hafen fahren, sichern und zurücklassen und mit Baidaren und Aleuten zur Erforschung einer nordöstlichen Durchfahrt so weit nach Norden und Osten zu Wasser oder zu Lande vordringen, als es uns ein gutes Glück gestattete. - Wenn die vorgerückte Jahreszeit oder die sonstigen Umstände unserer Unternehmung ein Ziel gesetzt, sollten wir die Rückfahrt über Kamtschatka antreten und auf der Heimkehr noch die fahrvolle Torres-Straße untersuchen.[S.140]
Die Klärung der Geographie war die Hauptsache:
Ich kehre zu unserer Nordfahrt zurück. Ihr Zweck war die Geographie. Wir haben zwar mit den Eingebornen, den Bewohnern der Sankt-Laurenz-Insel, den Eskimos der amerikanischen Küste, den Tschuktschi der asiatischen, häufig verkehrt; doch haben wir mit und unter ihnen nicht gelebt.[S.141]
Ansicht des Hafens von Unalaska (eine Insel der Aleuten)
Etwas über das Tabakrauchen:
Die sonderbare Sitte des Tabakrauchens, deren Ursprung zweifelhaft bleibt, ist aus Amerika zu uns herübergekommen, wo sie erst seit beiläufig anderthalb Jahrhunderten Anerkennung zu finden beginnt. Von uns verbreitet, ist sie unversehens zu der allgemeinsten Sitte der Menschen geworden. Gegen zwei, die von Brot sich ernähren, könnte man fünf zählen, welche diesem magischen Rauche Trost und Lust des Lebens verdanken. Alle Völker der Welt haben sich gleich begierig erwiesen, diesen Brauch sich anzueignen; die zierlichen, reinlichen Lotophagen der Südsee und die schmutzigen Ichthyophagen [Fisch-Essern] des Eismeeres. Wer den ihm einwohnenden Zauber nicht ahnet, möge den Eskimo seinen kleinen steinernen Pfeifenkopf mit dem kostbaren Kraut anfüllen sehen, das er sparsam halb mit Holzspänen vermischt hat; möge sehen, wie er ihn behutsam anzündet, begierig dann mit zugemachten Augen und langem, tiefem Zuge den Rauch in die Lungen einatmet und wieder gegen den Himmel ausbläst, während aller Augen auf ihm haften und der nächste schon die Hand ausstreckt, das Instrument zu empfangen, um auch einen Freudenzug auf gleiche Weise daraus zu schöpfen. Der Tabak ist bei uns hauptsächlich und in manchen Ländern Europas ausschließlich Genuß des gemeinen Volkes. - Ich habe immer nur mit Wehmut sehen können, daß grade der kleine Anteil von Glückseligkeit, welchen die dürftigere Klasse vor den begünstigteren vorausnimmt, mit der drückendsten Steuer belastet werde, und empörend ist es mir vorgekommen, daß, wie zum Beispiel in Frankreich, für das schwer erpreßte Geld die schlechteste Ware geliefert werde, die nur gedacht werden kann.[S.146f]
Bei allem guten Willen ist das Zusammentreffen von Kulturen doch oft von Mißtönen geprägt. In der Beringstraße wird ein Lager am Rand eines Eingeborenen-Friedhofs aufgeschlagen; was passiert?
Wir aber richteten uns für die Nacht ein, am Fuß eines Hügels zu bivouakieren, der mit Grabmälern der Eingeborenen gekrönt war. Die Toten liegen über der Erde, mit Treibholz überdeckt und vor den Raubtieren geschützt; etliche Pfosten ragen umher, an denen Ruder und andere Zeichen hangen. Unsere habsüchtige Neugierde hat diese Grabmäler durchwühlt; die Schädel sind daraus entwendet worden. Was der Naturforscher sammelte, wollte der Maler, wollte jeder auch für sich sammeln. Alle Gerätschaften, welche die Hinterbliebenen ihren Toten mitgegeben, sind gesucht und aufgelesen worden; endlich sind unsere Matrosen, um das Feuer unseres Bivouak zu unterhalten, dahin nach Holz gegangen und haben die Monumente zerstört. - Es wurde zu spät bemerkt, was besser unterblieben wäre. Ich klage uns darob nicht an; wahrlich, wir waren alle des menschenfreundlichsten Sinnes, und ich glaube nicht, daß Europäer sich gegen fremde Völker, gegen "Wilde" (Herr von Kotzebue nennt auch die Eskimos "Wilde") musterhafter betragen können, als wir allerorten getan; namentlich unsere Matrosen verdienen in vollem Maße das Lob, das ihnen der Kapitän auch gibt. - Aber hätte dieses Volk um die geschändeten Gräber seiner Toten zu den Waffen gegriffen: wer mochte da die Schuld des vergossenen Blutes tragen?[S.159f]
Die Insel St. Paul mit Seelöwen, im Hintergrund der "Rurik"
Fremde Völker, fremde Sitten, hier bei den Tschuktschen:
Ich kann einen Zug nicht unterschlagen, der mir zu dem Bilde dieser Nordländer bezeichnend zu gehören scheint und aus dem namentlich der Gegensatz hervorgeht, in welchem sie zu den anmutsvollen Polynesiern stehen. Einer der Wortführer bei der vorerwähnten wichtigen Konferenz, während er vor dem Kapitän stehend mit ihm sprach, spreizte, unbeschadet der Ehrfurcht, die Beine auseinander und schlug unter seiner Parka sein Wasser ab.[S.163]
An seltsamen Projekten und Ideen war das neunzehnte Jahrhundert nicht arm, zum Beispiel die folgende Idee, Walfische zu zähmen und als Nutztiere zu verwenden:
Der nächste Schritt, der getan werden muß, der viel näher liegt und viel weiter führen wird als die Dampfmaschine mit dem Dampfschiffe, diesem ersten warmblütigen Tiere, das aus den Händen der Menschen hervorgegangen ist - der nächste Schritt ist, den Walfisch zu zähmen. Worin liegt denn die Aufgabe? Ihn das Untertauchen verlernen zu lassen! Habt ihr je einen Flug wilder Gänse ziehen sehen; und ein altes Weib gesehen, mit einer Gerte in der zitternden Hand ein halb Tausend dieser Hochsegler der Lüfte auf einem Brachfeld treiben und regieren? Ihr habt es gesehen und euch über das Wunder nicht entsetzt; was stutzt ihr denn bei dem Vorschlag, den Walfisch zu zähmen? Erziehet Junge in einem Fjord, ziehet ihnen einen von Schwimmblasen getragenen Stachelgurt unter die Brustflossen, stellt Versuche an! Wahrlich, beide Meere zu vereinigen und die Entfernung zwischen Archangel und Sankt Peter und Paul auf acht bis vierzehn Tage Zeit zu verringern ist wohl des Versuchens wert. - Ob übrigens der Walfisch ziehen oder tragen soll, ob und wie man ihn anspannt oder belastet, wie man ihn zäumt oder sonst regiert und wer der Kornak des Wasserelefanten sein soll, das alles findet sich von selbst.[168]
Die starre Schiffsordnung beförderte Träumereien:
Ich werde, da ich von der Fahrt selbst nichts zu berichten habe, einiges hier einschalten, das mir noch nicht in die Feder geflossen ist. Bei der Schiffsordnung, die ich früher beschrieben habe, zu welcher noch hinzukam, daß das Licht abends um zehn Uhr ausgelöscht wurde, und bei der einförmig ruhigen, aller anstrengenden Bewegung entbehrenden Lebensart konnte unsereiner nicht alle Stunden, worin er still zu liegen verdammt war, mit festem, bewußtlosem Schlafe ausfüllen, und eine Art Halbschlaf nahm einen großen Teil des Lebens mit Träumen ein, von denen ich euch unterhalten will. Ich träumte nie von der Gegenwart, nie von der Reise, nie von der Welt, der ich jetzt angehörte; die Wiege des Schiffes wiegte mich wieder zum Kinde, die Jahre wurden zurückgeschraubt, ich war wieder im Vaterhause, und meine Toten und verschollene Gestalten umringten mich, sich in alltäglicher Gewöhnlichkeit bewegend, als sei ich nie über die Jahre hinausgewachsen, als habe der Tod sie nicht gemäht. Ich träumte von dem Regimente, bei welchem ich gestanden, von dem Gamaschendienst; der Wirbel schlug, ich kam herbeigelaufen, und zwischen mich und meine Kompanie stellte sich mein alter Obrist und schrie: "Aber Herr Leutnant, in drei Teufels Namen!" - O dieser Obrist! Er hat mich, ein schreckender Popanz, durch die Meere aller fünf Weltteile, wann ich meine Kompanie nicht finden konnte, wann ich ohne Degen auf Parade kam, wann - was weiß ich, unablässig verfolgt; und immer der fürchterliche Ruf: "Aber Herr Leutnant; aber Herr Leutnant!" - Dieser mein Obrist war im Grunde genommen ein ehrlicher Degenknopf und ein guter Mann; nur glaubte er, als ein echter Zögling der ablaufenden Zeit, daß Grobsein notwendig zur Sache gehöre. Nachdem ich von der Reise zurückgekehrt, wollte ich den Mann wiedersehen, der so lange die Ruhe meiner Nächte gestört. Ich suchte ihn auf: ich fand einen achtzigjährigen, stockblinden Mann, fast riesigen Wuchses, viel größer als das Bild, das ich von ihm hatte, der in dem Hause eines ehemaligen Unteroffiziers seiner Kompanie ein Stübchen unten auf dem Hofe bewohnte und von einigen kleinen Gnadengehalten lebte, da er im unglücklichen Kriege, mehr aus Beschränktheit als aus Schuld, allen Anspruch auf eine Pension verwirkt hatte. - Fast verwundert, von einem Offizier des Regimentes, bei dem er nicht beliebt war, aufgesucht zu werden, und nicht maßzuhalten wissend, war er gegen mich von einer übertriebenen Höflichkeit, die mir in der Seele wehe tat. Wie er mir die Hand reichte, befühlte er mit zwei Fingern das Tuch meines Kleides, und was in diesem Griffe lag - ich weiß es nicht, aber ich werde ihn nie vergessen. - Ich schickte ihm etliche Flaschen Wein als ein freundliches Geschenk, und als er, ich glaube im folgenden Jahre, verschied, fand es sich, daß er mich zu seinem Leichenbegängnis einzuladen verordnet hatte. Ich folgte ihm allein mit einem alten Major des Regimentes und seinem Unteroffizier; - und Friede sei seiner Asche![S.178ff]
Auch Russland betrieb Sklavenhandel, und zwar mit den Völkern des Nordostens:
Die Russen verbrauchen nicht allein diese nordischen Völker, sie liefern sie auch um halben Gewinn andern zum Verbrauch. Ich habe sogar auf den Sandwich-Inseln versprengte Kadiaker angetroffen.[S193]
Empfang beim König Tameiameia; rechts im Hintergrund sieht man den Tempel des Königs.
In der Entfernung ankert der Rurik.
Empfang beim König Tameiameia, von links Eschscholtz, Kotzebue, Schischmareff, Chamisso und Choris selber.
Hütte des Häuptlings
Tempel des Häuptlings Tameiameia auf Hawaii
Auf Hawaii musste Chamisso einmal die Flucht ergreifen, und zwar bei einer Audienz beim König Tameiameia von Hawaii:
Wir wurden, in Erwartung des Kapitäns, zu den Königinnen eingeführt; große, starke, fast noch schöne Frauen. Kahu-manu tritt schon unter Vancouver in der Geschichte auf. Sie lagen in einem Strohhause zusammen auf dem weich mit feinen Matten gepolsterten Estrich; wir mußten Platz unter ihnen nehmen. Fast unheimlich wurden mir, dem Neulinge, die Blicke, die meine Nachbarkönigin auf mich warf. Ich folgte Eschscholtz, der sich schon früher aus dem Hause geschlichen hatte. Ich erfuhr von ihm, seine Königin habe sich noch handgreiflicher ausgedrückt.[S.211}
Natürlich spricht sich ein Mitteleuropäer Anfang des neunzehnten Jahrhunderts auf diesem Gebiet nicht allzudeutlich aus, aber Chamisso kommt noch einmal auf die sexuelle Aufdringlichkeit darauf zurück:
Ich kann das erste, was uns wie jedem Fremden auf diesen Inseln entgegentrat, mit Stillschweigen nicht übergehen: die allgemeine, zudringliche, gewinnsüchtige Zuvorkommenheit des andern Geschlechtes; die ringsher uns laut zugeschrienen Anträge aller Weiber, aller Männer namens aller Weiber.
Die Scham scheint mir dem Menschen angeboren zu sein, aber die Keuschheit ist nur nach unsern Satzungen eine Tugend. In einem der Natur näheren Zustande wird das Weib in dieser Hinsicht durch den Willen des Mannes gebunden, dessen Besitztum es geworden ist. Der Mensch lebt von der Jagd. Der Mann sorgt für seine Waffen und für den Fang; er ernährt die Familie. Der Waffenfähige herrscht rücksichtslos im Gebrauche seiner Übermacht; das Weib dient und duldet. Er hat gegen den Fremden keine Pflicht; wo er ihm begegnet, mag er ihn töten und sein Besitztum sich aneignen. Ob er des Getöteten Fleisch zur Speise benutzt oder verwesen läßt, ist unerheblich. Schenkt er aber dem Fremdling das Leben, so schuldet er ihm fürder, was zu dem Leben gehört; das Mahl ist für alle bereitet, und der Mann bedarf eines Weibes.
Auf einer höheren Stufe wird die Gastfreundschaft zu einer Tugend, und der Hausvater erwartet am Wege den Fremdling und zieht ihn unter sein Zelt oder unter sein Dach, daß er in seine Wohnung den Segen des Höchsten bringe. Da macht er sich auch leicht zur Pflicht, ihm sein Weib anzubieten, welches dann zu verschmähen eine Beleidigung sein würde.
Das sind reine, unverderbte Sitten.
Diesem Volke der Lust und der Freude - o könnt ich doch mit einem Atemzuge dieser lauen, würzigen Luft, mit einem Blicke unter diesem licht- und farbreichen Himmel euch lehren, was Wollust des Daseins ist! -, diesem Volke, sage ich, war die Keuschheit als eine Tugend fremd; wir haben Hab- und Gewinnsucht ihm eingeimpft und die Scham von ihm abgestreift. - Schon auf der nördlichen Küste der Insel, durch das Gebürge von der verderbten Hafenstadt abgesondert, wähnte ich mehr patriarchalische, unbescholtenere Sitten zu finden. [S.218f]
Wie sich das Empfinden von "Zeit" gewandelt hat! Chamissos langdauernde Reise um die Welt - immerhin drei Jahre - kommt uns lang vor, er selber sieht es ganz anders:
Aber man fährt wie eine abgeschossene Kanonenkugel über die Erde dahin, und wenn man heimkommt, soll man rings ihre Höhen und Tiefen erkundet haben.[S.229]
Einwohner von Radack
Südseestimmung auf Radack
Ein Bewohner von Radack (Kadu) begleitet die Reisenden nach Norden, Gelegenheit, über die Macht des Wissens zu reden:
Kadu sah der Veränderung des gestirnten Himmels aufmerksam zu, wie andere Sterne im Norden aufgingen, andere im Süden sich zu dem Meere senkten; er sah uns an jedem Mittag die Sonne beobachten und sah uns nach dem Kompasse steuern; zu wiederholten Malen stieg das Land, wann, wo und wie wir es vorausgesagt, vor uns auf; da lernte er zuversichtlich auf unsere überlegne Wissenschaft und Kunst vertrauen. Diese waren natürlicherweise für ihn unermeßlich; wie hätte er vermocht, ihre Leistungen zu würdigen und zu vergleichen, und wie zu beurteilen, was an der Grenze ihres Bereiches lag. - Die Kunde von dem Luftballe und der Luftschiffahrt, die ich ihm gab, schien ihm nicht unglaublicher und fabelhafter als die von einer pferdegezogenen Kutsche. Haben wir aber auch selber einen andern Maßstab für diese Würdigung als das Gewohnte und Ungewohnte? Dünkt uns nicht, was alltägig für uns geworden ist, eben darum der Beachtung nicht wert und aus demselben Grunde das Unerreichte unerreichbar? - Scheint es uns nicht ganz natürlich, daß ein Knabe die Gänse auf die Weide treibt, und märchenhaft, daß man davon rede, den Walfisch zu zähmen?
Kadu sah uns auf Unalaschka und überall, wo wir landeten, alle Erzeugnisse der Natur beachten, untersuchen, sammeln und verstand viel besser als Unwissende unseres Volkes den Zusammenhang dieser unbegrenzten Wißbegierde mit dem Wissen, worauf unsere Übermacht beruhte.[S.294f]
Spannend, wie sich der Essensgeschmack wandelt, z.B. die Einschätzung von Lachs, hier beim Aufenthalt in Unalschka (Aleuten):
Wir lebten meist von Fischen (Lachs und eine Riesenbutte). - Wahrlich, wahrlich! die schlechteste Nahrung, die es geben kann.[S.303]
Fürsten beuten immer aus, heute und damals, da und dort, hier das Beispiel Hawaii:
Die mehrsten Schiffe begehrten Sandelholz. Um dieses Handels willen belasten die Fürsten das Volk mit Frondiensten, welche die Agrikultur und die Industrie beeinträchtigen.[S.335]
Rassismus bei Chamisso, der erstmals einen Chinesen sieht:
Ich sah hier zuerst Chinesen, sah unter diesem herrlichen Himmel diese lebendigen Karikaturen in ihrer Landestracht mitten unter den schönen O-Waihiern wandeln und finde für das unbeschreiblich Lächerliche des Anblicks keinen Ausdruck. (Häufig werden in diesem Meerbecken Chinesen, die unterwürfig und leicht zu ernähren sind, als Matrosen gebraucht.)[S.341]
Die Leute auf Hawaii hatten früher einen guten Magen:
Sie verzehrten diese Fische roh und, unsauber genug, noch nach drei Tagen, als sie schon angegangen und voller Insektenlarven waren.[S.342]
Chamisso hat als Adliger eine dezidierte Meinung, was Adel ist:
Anerkannt wird in unsern Staaten unter dem Namen Adel nur noch das Privilegium, und es ist auch nur gegen das Privilegium, daß das Wehen des Zeitgeistes fast zum Sturm anschwillt. Ein Adel, der gegeben und genommen werden kann, der verkauft wird, ist keiner. Der Adel liegt tiefer, er liegt in der Meinung, er liegt in dem Glauben.[S.345]
Und letztlich ist für ihn der alte Adel abgetan:
Ich werde nicht eitel die Vergangenheit unserer Geschichte zurückrufen, in welcher ein Adel bestand, zu dem meine Väter gehörten. Ich glaube an einen Gott, mithin an seine Gegenwart in der Geschichte, mithin an einen Fortschritt in derselben. Ich bin ein Mann der Zukunft, wie Béranger mir den Dichter bezeichnet hat. Lernt doch auch in die Zukunft, der die Weisheit des Waltenden uns zuführt, furchtlos und vertrauend schauen und laßt die Vergangenheit fahren, sintemal sie vergangen ist.[346]
Viel zu selten liest man interessante Beobachtungen wie die folgenden:
Indem wir uns in unsere häßlichen Kleider einzwängen, verzichten wir auf den Ausdruck des Körpers und der Arme; die Mimik tritt bei uns Nordeuropäern ganz zurück, und wir schauen kaum dem Redenden ins Antlitz. Der bewegliche, gesprächige Polynesier redet mit Mund, Antlitz und Armen, und zwar mit der größten Sparsamkeit der Worte und der Gebärden, so daß zweckmäßig der kürzeste Ausdruck und der schnellste gewählt wird und ein Wink an die Stelle einer Rede tritt. So wird mit einem Zucken der Augenbrauen bejaht, und das Wort inga erzwingt von dem O-Waihier nur der Fremde, der, schwerfälligen Verständnisses, seine Fragen mehrere Male wiederholt.[S.356]
Oder diese Betrachtung über "Fußfertigkeit":
Unser Schuh- und Stiefelwerk hat für uns den Gebrauch der Füße auf das Gehen beschränkt. Dem vierhändigen Polynesier leisten sie noch ganz andere Dienste. Er hält und sichert mit den Füßen den Gegenstand, woran er mit den Händen arbeitet, die Matte, die er flechtet, die Schnur, die er dreht, das Stück Holz, worauf er durch Reibung Feuer hervorbringen will. - Wie unbeholfen, langsam und ungeschickt müssen wir uns bücken, um etwas, das zu unsern Füßen liegt, aufzuheben. Der Polynesier faßt es mit dem Fuße, der es der Hand von derselben Seite reicht, und er hat sich nicht gerührt und hat zu reden nicht aufgehört. Soll etwas, das auf dem Verdecke eines Schiffes liegt, entwendet werden, faßt es einer mit dem Fuße und reicht es dem andern; es wandert von Fuß zu Fuße und über Bord, während die ausgesetzte Schildwacht allen nach den Händen siehet und nichts merkt.[S.356]
Wer hat die besten Aussichten, auf solchen Reisen gebraucht zu werden: Ein Arzt:
Das lasse sich, wer Reiselust verspürt, gesagt sein: der Name und Ruf eines Arztes wird ihm, so weit die Erde bewohnt ist, der sicherste Paß und Geleitsbrief sein und wird ihm, sollte er dessen bedürfen, den zuverlässigsten und reichlichsten Erwerb sichern. Überall glaubt der gebrechliche Mensch, der sich selber hülflos fühlt, an fremde Hülfe und setzt seine Hoffnung in den, der ihm Hülfe verspricht. Am begierigsten langt der Hülfsbedürftige nach dem Fernsten, dem Unbekanntesten, und der Fremde erweckt in ihm das Vertrauen, welches er zu dem Nächsten verloren hat. In der Familie des gelehrten Arztes gilt mehr als seine Kunst der Rat, den die alte Waschfrau heimlich erteilt.
Es ist die Medizin für den, der ihrer bedarf, eine heimliche, fast zauberische Kunst. Auf dem Glauben beruht immer ein guter Teil ihrer Kraft. Zauberei und Magie, die tausendgestaltig, tausendnamig ausgebreitet und alt sind wie das Menschengeschlecht, waren die erste Hellkunst und werden wohl auch die letzte sein. Sie verjüngen sich unablässig unter neuen Namen und zeitgemäßen Formen - für uns unter wissenschaftlichen - und heißen: Mesmerianismus und... [S.389]
Ganz überraschend(?) kann sich auch ein Porträtmaler gut durchschlagen:
Nächst dem Arzt würde der Porträtmaler zu einer Reise in fernen Landen gut ausgerüstet sein. - Jeder Mensch hat ein Gesicht, worauf er hält, und Mitmenschen, denen er ein Konterfei davon gönnen möchte. Die Kunst ist aber selten und noch an viele Enden der Welt nicht gedrungen.[S.390]
Tabak und Tabaksteuer spielen schon damals eine große Rolle:
Bekanntlich ist in allen spanischen Kolonien das Monopol des Tabaks die Haupteinnahme der Krone, welche auf diese Weise eine Kopfsteuer anstatt einer Grund- oder Vermögenssteuer erhebt; denn der Tabak ist dem Armen und dem Reichen ein gleiches Bedürfnis. Auf Guajan drückt noch diese verhaßte Steuer nicht die Bevölkerung. Aber hier kann der arme Tagal dem Könige nicht bezahlen, was ihm die Erde umsonst zu geben begehrt.[S.390f]
Kapstadt mir dem Tafelberg
Auf See lebt man notgedrungen auf Sparflamme (so wie man andernorts vielleicht im Winter lebt:
Man erstaunt selber ob der gesteigerten Tätigkeit, zu welcher man plötzlich, sowie man den Fuß auf das Land setzt, aus dem trägen Schlafe erwacht, von dem man unter Segel sich gebunden fühlte. Ein Blättchen zu schreiben, zehn Seiten zu lesen, das war ein Geschäft, zu dem man mühsam die Zeit suchte, und bevor man sie gefunden, waren die bleiernen Stunden des Tages leer abgelaufen. Jetzt dehnen sich gefällig die vollen Stunden, und zu allem hat man Zeit, und zu allem hat man Kraft; man weiß nichts von Schlaf oder Müdigkeit. "Der Körper hat sich bis auf das Vergessen seiner Bedürfnisse dem Geiste untergeordnet."[Dies ein Zitat aus Dya-Na-Sore][S.407ff]
Am 24.4.1818 ist die Expedition in Sichtweite von Sankt Helena und der Kapitän möchte gerne anlanden (schließlich ist Napoleon inzwischen auf dieser Insel). Doch eine übereifrige Batterie gibt immer wieder Warnschüsse ab - zum Glück für die Expedition aber nicht auf die hergebrachte Weise:
Ich bemerke beiläufig, daß nach Seemannsbrauch bei der Art Unterhaltung, welche die Batterie mit uns führte, die erste Kugel über das Schiff, die zweite durch das Tauwerk und die dritte in die Kajüte des Kapitäns geschickt zu werden pflegt. Die Batterie hatte eigentlich dreimal den ersten Schuß, aber keinen zweiten auf uns abgefeuert.[S.415f]
Der Rurik vor Sankt Helena
Am Ende einer Reise ist man meist schlauer und weiß, wie man sich besser hätte vorbereiten können. Ein schlechtes Gewissen soll man sich deswegen aber nicht machen:
Ich meinerseits bin bei jedem neuen Kapitel meines Lebens, das ich schlecht und recht, so gut es gehen will, ablebe, bescheidentlich darauf gefaßt, daß es mir erst am Ende die Weisheit bringen werde, deren ich gleich zu Anfang bedurft hätte, und daß ich auf meinem Sterbekissen die versäumte Weisheit meines Lebens finden werde. - Und ich bin ohne Reue, weil ich nicht wissentlich und mit Willen gefehlt und weil ich die Meinung habe, daß es anderen nicht viel anders geht als mir.[S.422]
Am 3.August 1818 ist der Rurik wieder zu Sankt Petersburg, die Reise ist beendet. Allerdings muss der gerade abwesende Graf Romanzow, der Geldgeber der Reise, erst erwartet werden, um die Expedition formell aufzulösen. Das dauert noch einmal einen Monat.[S428ff]
Da Chamisso London gesehen hat und nun einen Zwangsaufenthalt in Sankt Petersburg hat, hat er genügend Zeit, die beiden Städte miteinander zu vergleichen:
London ist, entsprechend dem Begriffe einer großen Stadt, ein riesenhafter Menschen-Ameisenhaufen, ein unermeßlicher Menschen-Bienenbau, bei dessen Ansätzen ungleiche Kräfte unregelmäßige Zellen hervorgebracht haben. Das Bedürfnis hat die Menschen zusammengebracht; sie haben nach dem Bedürfnis sich angebaut; ein Naturgesetz, das als Zufall erscheint, hat den Plan vorgezeichnet, die Willkür hat keinen Teil daran; und wenn die Stadt stellenweise dekoriert worden, beweist es bloß, daß Dekorieren dem Menschen zum Bedürfnis geworden ist.[S.429]
Sankt Petersburg ist eine großartig angelegte und prächtig ausgeführte Dekoration. Die Schiffahrt, die zwischen Kronstadt und dem Ausfluß der Newa das Meer belebt, deutet auf einen volk- und handelreichen Platz! Man tritt in die Stadt ein – das Volk verschwindet in den breiten, unabsehbar langgezogenen Straßen, und Gras wächst überall zwischen den Pflastersteinen.[S.429]
Dekoration im einzelnen wie im ganzen; der Schein ist in allem zum Wesen gemacht worden. Mit den edelsten Materialien, mit Gußeisen und Granit, wird dekoriert; aber man findet stellenweise, um die unterbrochene Gleichförmigkeit wiederherzustellen, den Granit als Gußeisen geschwärzt und das Gußeisen als Granit gemalt. Die Stadt wird alle drei Jahre aufs neue und in den Farben, die polizeilich den Hauseigentümern vorgeschrieben werden, angestrichen, außerdem noch außerordentlich bei außerordentlichen Gelegenheiten, zum Empfang eines königlichen Gastes und dergleichen mehr; dann wird auch das Gras aus den Straßen ausgereutet.[S.429f.]
Bei der Ankunft in Sankt Petersburg hatte Chamisso Schwierigkeiten mit der Polizei, die ihn nicht zunächst keine Anwesenheitserlaubnis geben wollte, bei der Abreise hat er wiederum Probleme:
Nun hielt mich aber noch in Sankt Petersburg die Polizei fest, die, mich daselbst zu dulden, sich so schwer entschlossen hatte. - Man weiß die weitläuftigen Förmlichkeiten, denen man sich unterziehen muß, bevor man einen Paß erhält. (Dreimalige Bekanntmachung der Absicht zu reisen im Wochenblatt usw.)[S.432]
Im Nachwort zitiert Rudolf Mingau ein beeindruckendes Zitat des 24-jährigen Chamisso, der seine Probleme, in der unruhigen Zeit Fuß zu fassen, so beschreibt:
"Ich möchte mit Fäusten um mich schlagen!" schrieb er am 20. September 1804 an seinen Freund Louis de la Foye. "Ein Kerl von vierundzwanzig Jahren und nichts getan, nichts erlebt, nichts genossen, nichts erlitten, nichts geworden, nichts erworben, nichts, rein nichts in dieser erbärmlichen, erbärmlichen Welt!"[S.452]
Die Reisebeschreibung hat Chamisso erst spät, erst 1834/35, also 16 Jahre nach Ende der Reise geschrieben und 1836 veröffentlicht. Chamisso griff dabei auf sein Bordtagebuch sowie auf die zahlreichen Briefe zurück, die er Eduard Hitzig von vielen Stationen der Reise nach Berlin gesandt hatte; darüber hinaus wurden seine "Bemerkungen und Ansichten" aus dem offiziellen Expeditionsbericht herangezogen.[S.465]
Links:
Werke von Louis Choris (wichtig wegen der Abbildungen):
- Louis Choris: "Voyage pittoresque autour du monde, avec des portraits de sauvages d'Amérique, d'Asie, d'Afrique, et des îles du Grand Ocean; des paysages, des vues maritimes, et plusieurs objets d'histoire naturelle; accompagné de descriptions par m. le Baron Cuvier, et m. A. de Chamisso, et d'observations sur les crânes humains, par m. le Docteur Gall. Par m. Louis Choris, peintre" (1822)
Sehr gute und große Scans, besonders die Illustrationen von Choris kommen gut heraus.
Anderes Material:
Brigg:
Die Brigg ist ein 2-Mastschiff mit gleich hohen Masten. Fockmast und Großmast sind voll rahgetakelt. Der Großmast führt zusätzlich ein Gaffelsegel, das Briggsegel, ein
längsstehendes trapezförmiges Segel mit Gaffel- und Großbaum.
Die Brigg war im 19. Jahrhundert der auf deutschen Werften am häufigsten gebaute Schiffstyp mit ca. 25 - 35 m Rumpflänge und 100 - 200 t Ladefähigkeit.
Zwei Detailansichten des Rurik. Auf der rechten Abbildung sieht man Chamisso links neben dem Steuermann.
Gestaltet von
Béla Hassforther.
Letzte Änderung: 04.02.2010
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