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Harry Mulisch - Die Entdeckung des Himmels

Harry Mulisch in der Wochenpost vom 22.04.1993 Zur Lektüre dieses 800-Seiten Romans wurde ich durch mehrere Besprechungen angeregt. Speziell für mich interessant war, dass eine der Hauptpersonen ein Astronom sein sollte. Die erste begeisterte und begeisternde Besprechung las ich in der Wochenpost vom 22.04.1993 (Wilfried W. Meyer "Werkzeuge des Himmels").

Zunächst lieh ich mir den Roman nur aus, merkte aber bald, was ich da für einen Glücksfund getan hatte und holte mir am nächsten Tag die gebundene Ausgabe. In drei Tagen war das Buch zum erstenmal verschlungen, danach gings noch zweimal ans gründliche und genußvolle Lesen. Auch weiterführende Literatur mußte beschafft werden, denn man wird nicht nur unterhalten, man wird auch gefordert.

Es ist unmöglich, dieses 800-Seiten-Werk mit einigen Sätzen zu beschreiben, es ist auch unmöglich, mit einigen Zitaten eine Vorstellung von der Sprache zu vermitteln (ein dickes Lob an die Übersetzerin Martina den Hertog-Vogt): das Buch ist heiter und traurig, witzig und ernst, leicht und tiefschürfend, es läßt sich schmökern und mit einem ganzen Apparat an weiterführender Literatur studieren - kurz: man kann es in jeder Lebenslage zur Hand nehmen und drin versinken. Immer wenn ich es mal wieder zur Hand nehme, ist es fast um ein Wochenende geschehen.

Man liest von einer Männerfreundschaft und von vielen Liebeleien, von der Revolution in Kuba und den Studentenunruhen in Mitteleuropa, von Rudi Dutschke und von Jan Oort, von Judendeportationen und von Auschwitz, von Radioteleskopen und vom Diskos von Phaistos, von der Erziehung eines Jungen und vom jahrelangen Koma einer Mutter, von einem kleinen Ladendiebstahl und von einem Diebstahl, wie er in Jahrtausenden einmalig ist.

Das Haupt-Thema: der Himmel hat den Bund mit den Menschen aufgekündigt. Die ganze Geschichte dient dazu, einen Jungen so zu erziehen, dass er "von allein" auf die Idee kommt, die Tafeln mit den zehn Geboten (das "Testimonium") aus einem vergessenen Versteck zurück nach Israel zu entführen. Um das zu schaffen, mußte schon bei der Wahl der Großeltern sehr sorgfältig gearbeitet werden (man sieht: auch der Herr im Himmel kann nicht mehr einfach mit den Fingern schnippen: ein ganzes Jahrhundert an Arbeit braucht es, um die Tafeln zurückzubringen...).

Diskos von Phaistos
Der berühmte "Diskos von Phaistos", an dessen Entschlüsselung sich Onno, eine der Romanfiguren, die Zähne ausbeißt

So lernen sich Onno und Max, zwei der Hauptpersonen, kennen: (S.30/31)
Er hatte keine Ahnung, wo er war, aber wenn er versuchte, möglichst immer geradeaus zu fahren, mußte er irgendwann den Stadtrand erreichen, so groß war Den Haag ja nicht. Plötzlich erkannte er eine Kreuzung. Auf dem verlassenen Bürgersteig stand ein großer Mann in einem langen Mantel, der die Hand hob.
Ein Räuber, dachte er, würde bestimmt nicht jetzt sein Opfer suchen, um ein Uhr nachts und bei Frost. Er gab Lichtzeichen, schwenkte mit einer schnellen Bewegung auf den Fahrbahnrand zu und hielt an. Im Spiegel sah er den Mann trabend näherkommen; er schaltete das Radio aus, lehnte sich über den Beifahrersitz und kurbelte das Fenster herunter.
Onno beugte sich tief hinunter und sah in das schmale, fanatische Gesicht von Max. Es erinnerte ihn an einen Ibis, den ägyptischen Ibis religiosa mit dünnem Hals und gebogenen Schnabel; es ging etwas Gefährliches von ihm aus, wie von einer Axt. Max hingegen sah in das volle, herrschsüchtige Antlitz Onnos. Klassisch, ohne Wölbung, ging die Stirn über in eine gerade Nase; darunter befand sich ein ebenso klassischer, kleiner Mund mit gewölbtem Lippen, kaum breiter als seine Nasenflügel. Das Gesicht kam ihm entfernt bekannt vor.
"Wohin wollen Sie?"
"Fahren Sie Richtung Amsterdam?"
"Steigen Sie ein."
Onno machte einen Schritt zurück und nahm das Auto abfällig in Augenschein.
"Aber nur unter Protest!"
"Ich flehe Sie an", sagte Max amüsiert.
Als er nach einigen Mühen im Wagen saß, oder besser: lag, gab Max Vollgas, und das Auto raste davon wie ein Rennpferd.
"Nette Karre", sagte Onno mit einem Gesicht, in dem zu lesen war, daß er seinen Wohltäter für nicht ganz bei Trost hielt.
Max lachte.
"Ach, das ist noch gar nichts. Wenn ich einmal groß bin, kaufe ich mir einen weißen, offenen Rolls-Royce. Dann setze ich mich in einem weißen Pelzmantel in den Fonds, und ans Steuer eine bildhübsche Frau."
Mit schiefem Mund mußte auch Onno jetzt lachen und drehte den Kopf zur Seite. Er hatte bereits den Ansatz eines Doppelkinns.
"Warum kaufen Sie nicht gleich einen Kinderwagen?"
Max sah in ihn kurz an. Sie hatten einander gefunden - das war der Moment. Wußten sie es, wußten sie es beide?


Nun drei Abbildungen von G.B.Piranesis "Piazza di S. Giovanni in Laterano", dem Bild, in dem Quinten schon in früher Jugend mit seinem Lebensziel und seiner Aufgabe konfrontiert wird. In der Mitte der Obelisk, links hinten das Gebäude mit der Scala Sanctorum.

Piranesi, Piazza di S.Giovanni in Laterano, Gesamtansicht
G. B. Piranesi, "Piazza di S. Giovanni in Laterano", Gesamtansicht

Piranesi, Piazza di S.Giovanni in Laterano, Detail
G. B. Piranesi, "Piazza di S. Giovanni in Laterano", Detail

Piranesi, Piazza di S.Giovanni in Laterano, Detail
G. B. Piranesi, "Piazza di S. Giovanni in Laterano", Detail, Gebäude mit der Scala Sanctorum


Onno entstammt einer der angesehensten Familien der Niederlande, ist ein Genie auf dem Gebiet der Sprachen und nun, nach der erfolgreichen Entzifferung des Ertruskischen, beschäftigt mit dem Entziffern, der Übersetzung des berühmten Diskos von Phaistos.

Max ist der Sohn eines Kriegsverbrechers und einer jüdischen Mutter, die von ebendiesem Mann nach Auschwitz verraten worden war. Max trägt schwer an dieser Familientragödie und muß vielleicht deswegen jeden Tag fast zwanghaft mit einer anderen Frau schlafen. Beruflich ist er Astronom in Leiden.

Was kann ein Bild der Hoffnung sein?? (S.65)
... das Bild der Hoffnung ist jemand, der mit einem Musikinstrument in einem Futteral vorbeikommt. Es trägt nicht zur Unterdrückung bei, und auch nicht zur Befreiung, sondern zu etwas, das tiefer liegt. Der Junge auf seinem Fahrrad, mit einer Gitarre in ausgebleichtem Kunstleder auf dem Rücken, das Mädchen, das mit einem zerschrammten Geigenkasten auf die Straßenbahn wartet.

Titusbogen, Detail
Die Beute des jüdischen Krieges. Relief aus dem Durchgang des Titusbogens in Rom.
Preisfrage: was trägt der Herr ganz links??

Vgl. dazu Mulisch Seite 647f. und vor allem S.686, Quinten:
"Die letzte Figur ganz links, ein Mann ohne Gesicht, der also eigentlich diese Schriftrolle hätte tragen sollen, steht herum, als hätte er nichts zu tun, und er steht mit herunterhängenden Armen da. So", sagte er und machte es ihm vor. "Seine linke Hand kann man nicht sehen, aber wenn man genau hinsieht, ist zu erkennen, dass er auf jeden Fall etwas in der rechten Hand hält, etwas Schweres und Rechteckiges, das ihm ungefähr bis zum Ellbogen reicht." Er nahm das Buch vom Tisch und hielt es in der Höhe des Oberschenkels in der Hand. "Soll ich Dir sagen, was er in der Hand hat?"
"Ich bin gespannt."
"Die beiden Gesetzestafeln von Moses mit den Zehn Geboten."


Zwei wichtige Kunstwerke im Lauf der Handlung: Quinten wird von einem Päderasten mit Benvenuto Cellinis "Ganymede" verglichen (S.625), Michelangelos "Moses" wird von Onno und Quinten in San Pietro in Vincoli aufgesucht, weil Quinten in seiner Kindheit vom Bildhauer Kern auf gerade diesen Moses aufmerksam gemacht worden ist (Mulisch S.439f und S.649ff)

Cellini, Ganymede   Michelangelo, Moses
Links Benvenuto Cellini "Ganymede", rechts Michelangelo "Moses"


Hartmann Grisars Abhandlung zur Sancta Sanctorum existiert tatsächlich, Harry Mulisch (S.675f, S.684ff) hat sie nicht erfunden. In der Heidelberger Universitätsbibliothek kann man sie entleihen. Hier einige Abbildungen daraus:

Hartmann Grisar, Scala Sanctorum
Titelseite von Hartmann Grisar S.J. "Die Römische Kapelle Sancta Sanctorum und ihr Schatz"

Heilige Stiege und Sancta Sanctorum
Grundriss der Heiligen Stiege und der Sancta Sanctorum (aus: Grisar)

Sancta Sanctorum, Schatzbehältnis

Schatzschrein

"Aus der Abbildung im Buch von Grisar erkannte auch Onno den gemusterten Reliquienschrein aus Zypressenholz sofort wieder." (Mulisch S. 720)

Schild auf dem Schatzschrein

"Auf der oberen Zierleiste war auf lateinisch vermerkt, der Schrank stamme von Leo III., unwürdiger Diener Gottes, doch der Text wurde von einem Hozschild unterbrochen, auf dem in goldenen Buchstaben stand:
SCA
SCO  RV
Eine reichlich legasthenische Abkürzung von Sancta Sanctorum".
(Mulisch, S.720)

Man könnte spielend einige hundert Bilder zu Mulischs "Die Entdeckung des Himmels" zusammenstellen - das wäre sicher ein sehr interessantes kunst- und kulturgeschichtliches Kompendium. Für ein erstes Appetit-machen reicht das hier vorgestellte bestimmt.


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Gestaltet von Béla Hassforther. Letzte Änderung: 06.10.2003
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